Für Menschen mit dementiellen Beeinträchtigungen (MmD) stellt der kognitive Abbau eine psychische Belastung dar, an die sie sich kontinuierlich anpassen müssen und wofür sie auf spezifische Bewältigungsstrategien (Coping) zurückgreifen. Das Wissen über Bewältigungsstrategien von MmD ist verständnisfördernd und eine Voraussetzung für bedarfsgerechte, personzentrierte Interaktionen in der Betreuungs-, Pflege- und Beratungspraxis.
Als Bewältigungs-Strategien (Coping) wird der Umgang von Person mit belastenden Situationen verstanden, welcher zur Aufrechterhaltung eines inneren und äußeren Gleichgewichts beitragen sollen und durch welche Spannungen abgebaut und/oder Bedrohungen abgewendet oder toleriert werden sollen (vgl. Stuhlmann 2004: 40). Im Falle einer demenziellen Beeinträchtigung versuchen Betroffene oft, die fortschreitenden Verlusterlebnisse durch Copings zu kompensieren, sodass ein Gleichgewichtszustand aufrecht erhalten werden kann. Zudem werden Copings angewendet, um die von der demenziellen Entwicklung ausgehenden Bedrohungen für das eigene Leben zu bewältigen. Dies kann als beachtliche Leistung verstanden werden, vor allem wenn man bedenkt, dass nichts „so bedrohlich [ist] wie die Demenz“ (Naue 2012), da der der demenzielle Abbau Strukturen angreift, welche wir als unsere Identität, unser Selbst, oder unser Person-sein fassen.
Das Konstrukt des Selbst wird als die Gesamtheit der Merkmale einer Person zusammengefasst. Es bildet die Grundlage für die individuelle Art des Erlebens, Erfahrens, Erkennens, Handelns sowie des Verhaltens und kann in Bereiche (körperlicher, kognitiver, emotionaler, motivationaler und sozialer) unterteilt werden. Das Selbst zeichnet sich vor allem durch Kontinuität aus, da sich das Selbstverständnis und die Selbstinterpretation im Laufe des Lebens kaum verändern, wobei die Ausbildung des Selbst hauptsächlich im Jugendalter stattfindet (vgl. Kruse 2016: 265). Die Identität (bzw. das Selbst) kann in seinen Grundfesten durch chronische Erkrankungen erschüttert werden. Von der Weltgesundheitsorganisation wird die Demenz als ein Syndrom beschrieben, welches aus einer chronisch fortschreitenden Erkrankung des Gehirns resultiert (vgl. Sepandj 2015: 4).
Die Auswirkungen der Demenz auf Selbst ergeben sich bei der Alzheimerdemenz (AD) – der häufigsten Form – durch die reduzierte Gedächtnisfunktion, die beeinträchtigte Lernfähigkeit sowie die verringerte Handlungskompetenz, welche mit Aphasie (Sprachstörung) und Anosognosie (fehlende Krankheitseinsicht) einhergehen können. Diese Erschütterung haben im Verlauf einer demenziellen Veränderung zur Folge, dass die Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung, der Selbstreflexion, der Selbsterkenntnis und des Selbstausdrucks zunehmend beeinträchtigt werden (vgl. Kruse 2016: 266).
Angesichts dieser desaströsen Prognose ist das eigentlich Erstaunliche an einer demenziellen Beeinträchtigung das Phänomen, dass betroffenen Personen trotz Demenz die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes innehaben. Der These folgend, welche die Fähigkeit der Selbsterhaltung von MmD als zentrale Ressource erachtet, sollte dieses Phänomen durch einen verstehenden Zugang in Forschung und Praxis erkundet und verfolgt werden. Ins Zentrum die Aufmerksamkeit sollte rücken, wie es MmD möglich ist und gelingen kann, ihr Selbst trotz der widrigen Umstände aufrecht zu erhalten, auf welche Strategien sie dafür zurückgreifen und wie sie bei der Erhaltung ihres Selbst unterstützt werden können.
Um ein größeres Maß an Verständnis für das Bewältigungsverhalten von MmD zu erlangen, kann es hilfreich sein, auf die Erkenntnisse aus der subjektorientierten bzw. patientInnenorientieren Forschung einzugehen. Diese zieht die Insiderperspektive in Betracht, und gewährt Einblicke in das Erleben, Befinden und Verhalten von Betroffenen (vgl. Schaeffer 2009: 8-9). Denn es sind die Personen mit Demenz, „die faktisch die eigentliche Bewältigungsarbeit zu leisten haben und die mit der Erkrankung leben müssen“ (Schaeffer 2009: 9) – eine Perspektive, die in der medizinlastigen Forschungskultur zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Aus der patientInnenenorientierten Forschung zum Umgang mit diversen chronischen Erkrankungen ist bekannt, dass sich Betroffene als gesund erleben und fühlen können, obwohl sie nach biomedizinischen Beurteilungskriterien gemessen eindeutig als krank einzustufen sind (ebd.: 10).
Dieses Phänomen ist auch häufig bei Personen mit demenziellen Beeinträchtigungen anzutreffen: Von außen betrachtet weisen dies ab einem bestimmten Fortschritt der Beeinträchtigungen eindeutig erkennbare und messbare Anzeichen einer demenziellen Veränderung auf, zumeist werden von den Betroffenen jedoch die Beeinträchtigungen „geleugnet“ und die Zuschreibung der Diagnose Demenz abgewehrt. Zudem äußern die Betroffenen keine Krankheitsempfinden und weisen meist keine Krankheitseinsicht auf (vgl. Schönborn 2016; Stechl 2006). Exemplarisch für das Phänomen der Anosognosie bzw. der fehlenden Krankheitseinsicht – wie dieses in der Medizinwissenschaft kategorisch bezeichnet wird – präsentierte sich diese Aussage einer von Demenz betroffenen Probandin im Rahmen der durch geführten Studie mit dem Titel „Demenzsensible psychosoziale Interventionen“: „Ich fühle mich gar nicht dement.“ (Schönborn 2016: 68). Zahlreiche internationale qualitative Erhebungen zur subjektorientierten Demenzforschung belegen, dass Aussagen zum Krankheitsempfinden und -erleben von Betroffenen, in denen diese die stigmatisierende Zuschreibung als Demenzpatient ablehnen, sich bei beinahe allen Betroffenen ausmachen lässt (Phinney 1998; Sabat 2001; Stechl 2006; Sowarka 2008; Au 2008; Tanner 2012; Pnake-Kochinke 2013; Schönborn 2016).
In Österreich haben diese Erkenntnisse jedoch bislang noch kaum Einzug gehalten. Die Ablehnung der Zuschreibung Demenz alleinig auf einen organischen Hirndefekt rückzuführen, wie dies in der Medizinwissenschaft proklariert wird (u.a. Bopp Kistler 2016), wird jedoch dem Phänomen und der Realität der Betroffenen bei weiten nicht gerecht und negiert des Weiteren die psychodynamische Dimension, die sich dahinter besonders im anfänglichen Krankheitsverlauf verbirgt. Das Negieren einer unheilbaren Erkrankung wie der Demenz, kann auch als Coping-Strategie verstanden werden, mit welcher versucht wird die Belastungen, die Bedrohungen, und die Spannungszustände auszugleichen. Dies ist umso verständlicher, wenn wir bedenken, dass es bislang keine Heilung für die meisten Formen demenzieller Erkrankungen gibt, und der Verlauf durch psychosoziale und medikamentöse Interventionen kaum gelindert werden kann. Ein „nicht wahrhaben wollen“ oder eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die noch vorhandenen Ressourcen kann aus der Perspektive der Betroffenen durchaus eine angemessene Bewältigungsstrategie darstellen, die es anzuerkennen gilt. Die vielfach gehörte Empfehlung, alles würde besser werden, wenn die Betroffenen nur ihre Erkrankung akzeptieren könnten, kann aus einem psychodynamischen Verständnis wenig abgewonnen werden und sollte einer kritischen Hinterfragung unterzogen werden.
Für ein psychodynamisches Verständnis sind die Erkenntnisse der patientInnenorientierten Forschung zu chronischen Erkrankungen ergiebig und aufschlussreich. Diese besagen, dass das primäre Interesse bzw. Bemühen der Betroffenen nicht der Erkrankung gilt, sondern sich dem irritierten Leben widmet, welches wieder in ein Gelichgewicht gebracht werden soll. Durch die Erkrankung werden alle Lebensbereiche erschüttert, und das Bewältigungsbemühen verlagert sich im Verlauf der Erkrankung immer mehr auf das aus den Fugen geratene Leben – das Krankheitsgeschehen wird sekundär. Schäffer und Mores (2009) sprechen in diesem Zusammenhang vom „Abschied von der Patientenrolle“ (ebd.: 111), da die Aufmerksamkeit der Erkrankten bei der Bewältigung sich von der Erkrankung weg – hin zur Aufrechterhaltung des eigenen Lebens verlagert. Werden anfänglich noch „vorbildlich“ die Behandlungsempfehlungen befolgt, wendet sich – durch den ausbleibenden Erfolg bei irreversiblen Erkrankungen und der fortschreitenden Verschlechterung – der Fokus zunehmend dem zu erhaltenden Leben zu. Aus der Outsiderperspektive betrachtet verweigert sich dieses Verhalten nicht selten jeglicher logischen Einschätzung und kann scheinbar diffus und ungereimt anmutenschließlich missachten die Betroffenen oft Therapievorschläge, laufen Medikamentenverordnungen zu wider, und verfolgen fragwürdige Prioritäten (vgl. ebd.). Aus der subjektorientieren Forschung lässt sich hingegen eine Logik erkennen, wenn berücksichtigt wird, dass die höchst unterschiedlichen Strategien der Betroffenen dem Ziel dienen, das irritierte und beschädigte Leben zu reparieren und zu kontrollieren, anstatt der von ihnen erwarteten Bekämpfung der unheilbaren Erkrankung zu folgen (vgl. Schäffer, Moers 2009: 114). Aus der Perspektive der Erkrankten betrachtet stellt sich hier darüber hinaus zu Recht die Frage, wie sich Außenstehende ein Urteil über deren Lebens- und eben nicht Krankheitsbewältigung erlauben können.
Auch die Auseinandersetzung mit den Bewältigungs-Strategien im klassischen Bezug der Psychoanalyse gibt Aufschluss, wenn es um die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung im Verhalten von MmD geht: „Was aus der Außensicht als störendes, herausforderndes oder krankes Verhalten bezeichnet oder angesehen wird, kann z. B. für eine Person mit Demenz die einzige in der Situation noch verfügbare Möglichkeit sein, sich als kompetent, kontrollierend oder effektiv zu erleben.“ (Stuhlmann 2004: 43). Auch dieser Befund untermauert die psychodynamische Position, laut welcher das Verhalten von MmD sehr wohl einer Logik folgt. Dazu kann es aber notwendig sein, die Betroffenenperspektive einzunehmen, welche sich aber nicht immer von außen leicht erschließen lässt. Die Klassischen Bewältigungsstrategien im Bezug zur Psychoanalyse lassen sich auch bei MmD ausmachen:
• Rückzug (Alltagsaktivitäten, Interessen, Hobbies, Beziehungen, Kontakte)
• Abwehrmechanismen (zur Regulierung/Stabilisierung des Selbstwertes)
Verleugnung ( N i c h t w a h r h a b e n bzw. Umdeuten der Realität) → Kompetenzen bleiben im Bewusstsein erhalten,
Defizite werden ausgeblendet (z.B. aus bleibenden Krankheitseinsicht)
Verdrängung (Form des Vergessens, um negative Erfahrungen aus dem Bewusstsein auszuschließen) → MmD verdrängen
z.B. häufig ihre eigenen Defizite zum Selbstschutz.
• Projektion (Verschiebung eines Problems auf andere, Verantwortung wird nach außen verlagert) z. B. Schuldzuweisungen – nicht das eigene Vergessen ist schuld, sondern ich wurde bestohlen (vgl. ebd.: 60 f.)
Bewältigungsstrategien werden bereits im Kindes- und Jugendalter angelegt und verändern sich im Verlauf des Lebens kaum, weshalb auf diese auch im Umgang mit chronischen Erkrankungen zurückgegriffen wird. Resümierend lässt sich festhalten, dass die Forschungspraxis in Österreich sich dringend der subjektorientieren Demenzforschung zuzuwenden hat, wie es auch in den Umsetzungszielen der „Österreichischen Demenzstrategie. Gut Leben mit Demenz.“ (Juraszovisch et al. 2015) verlautbart wird. Damit das Phänomen der demenziellen Veränderung aus der Perspektive der Betroffenen verstehbar gemacht werden kann und sich bedarfsorientierte Interventionen auch wirklich an den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen ausrichten können, sollten sich die Forschungsbemühungen vermehrt der subjektiven Wirklichkeiten von MmD im Rahmen partizipativer Strategien zuwenden.
Literaturverzeichnis:
Au, Cornelia (2008): Die Diagnoseaufklärung bei Demenz. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) (Hg.): Informationsdienst Altersfragen Heft 06/2008. Thema Demenz. Unter Mitarbeit von Peter Zeman. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen, S. 12–15.
Bopp-Kistler, Irene (Hg.) (2016): Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven. Zürich: Rüffer & Rub.
Juraszovich, Brigitte; Sax, Gabriele; Rappold, Elisabeth; Pfabigan, Doris; Stewig, Frederike (Hg.) (2015): Demenzstrategie Gut Leben mit Demenz. Abschlussbericht – Ergebnisse der Arbeitsgruppen. Unter Mitarbeit von Brigitte Juraszovich, Gabriele Sax, Elisabeth Rappold, Doris Pfabigan und Frederike Stewig. Bundesministerium für Gesundheit und Sozialministerium. Wien.
Naue, Ursula (2012): Leben mit Demenz. Fragen des Selbst und das Konzept persönlicher Verantwortung für die eigene Gesundheit. Wels, 2012.
Panke-Kochinke, Birgit (2013): Eine Analyse der individuellen Wahrnehmungs- und Bewältigungsstrategien von Menschen mit Demenz im Frühstadium ihrer Erkrankung unter Beachtung der Funktion und Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen auf der Grundlage von Selbstäußerungen. Hg. v. Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Bern.
Phinney, Alison (1998): LIVING WITH DEMENTIA. From the Patient‘s Perspective. In: J Gerontol Nurs 24 (6), S. 8–15.
Schönborn, Raphael (2016): Demenzsensible psychosoziale Intervention. Subjektorientierte partizipative Interviewstudie mit Menschen mit dementiellen Beeinträchtigungen. FH Campus Wien: Masterarbeit.
Sepandj, Asita (2015): Krankheitsbild Demenz. In: Sabine Höfler, Theresa Bengough, Petra Winkler und Robert Griebler (Hg.): Österreichischer Demenzbericht 2014. Wien, S. 4–8.
Sowarka, Doris (2008): Demenz im Frühstadium. Forschung zur Betroffenenperspektive und Implikationen für Behandlung und Begleitung. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) (Hg.): Informationsdienst Altersfragen Heft 06/2008. Thema Demenz. Unter Mitarbeit von Peter Zeman. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen, S. 2–7.
Stechl, Elisabeth (2006): Subjektive Wahrnehmung und Bewältigung der Demenz im Frühstadium. Eine qualitative Interviewstudie mit Betroffenen und ihren Angehörigen. 1. Aufl. Berlin: Köster (Wissenschaftliche Schriftenreihe Psychologie, 15).
Stuhlmann, Wilhelm (2004): Demenz – wie man Bindung und Biographie einsetzt. Mit 11 Tabellen. München, Basel: Reinhardt (Reinhardts gerontologische Reihe, 33).
Tanner, Denise: Co-research with older people with dementia: Experience and reflections. In: Journal of Mental Health June 2012 (21), S. 296–306.