Wie gelingt der Umgang mit Aggression und Zwang in der psychiatrischen Versorgung? Mit dieser Frage müssen sich psychiatrisch Tätige im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen ständig beschäftigen. Dies hat seine Ursachen nicht darin, dass das Böse zwingend mit Menschen in Verbindung gebracht werden kann. Vielmehr ist die Sensibilität bei der Begleitung psychisch erkrankter Menschen besonders groß.
Apropos Sensibilität: mit dem Buch „Safewards“ liefern die Pflegewissenschaftler Michael Löhr, Michael Schulz und André Nienaber eine lange erwartete Unterstützung für das Handhaben von Aggression und Zwang im psychiatrischen Alltag. Ihnen geht es nicht darum, die psychiatrische Versorgung neu zu erfinden. Sie schreiben: „Safewards hilft, die Welt der Psychiatrie eher aus der Sicht der Betroffenen und weniger aus der Sicht der Institution zu sehen“ (S.181).
Deshalb ist die Behauptung sicher nicht falsch, dass sie mit dem Buch einen Paradigmenwechsel einläuten. Dieser Zeitenwechsel wird mit einem Instrument und vor allem einer Haltung gestartet, für den es zumindest eine zufriedene Studienlage gibt. Die Studienlage zur Wirksamkeit der Safeward-Interventionen sei zwar übersichtlich. Ein Effekt der Safewards-Interventionen sei zu erwarten, „wenn es eine breite Akzeptanz und gute Schulung der Mitarbeitenden gibt“ (S. 110).
Das Safewards-Konzept geht von einem inzwischen veränderten Verständnis der Ursachen eskalierender und vor allem aggressiver Situationen aus. Während in früheren Jahren die Wurzeln ausartender in den krankheitsbedingten und Persönlichkeitsfaktoren gesehen wurde, so überwiegt gegenwärtig die Überzeugung, dass Milieufaktoren und in den begleitenden Menschen gelebten Grundhaltungen ursächlich für Aggression und Gewalt sind.
Löhr, Schulz und Nienaber unterstreichen, dass das Milieu in der stationären Versorgung psychisch erkrankter Menschen sowie das Auftreten individueller Konflikte beeinflusst werden können. Mit Gründlichkeit stellen sie die zehn Safewards-Interventionen vor. Mit diesen zehn unterschiedlichen Interventionen werden psychiatrisch Tätige anders als in vergangenen Jahren in die Pflicht genommen. Sie zeigen (fast auf natürliche Weise), dass die Interaktionen mit betroffenen Menschen möglichst auf Augenhöhe gelebt werden sollten.
So wird bei der Intervention „Gegenseitige Interventionen klären“ betont, dass die Erwartungshaltung in beide Richtungen gelte. Konkret: „Die Klärung der gegenseitigen Erwartungen ermöglicht den Mitarbeitenden ein einheitliches und verlässliches Verhalten, aus dem die Patientinnen und Patienten eindeutig schließen können, welche Verpflichtungen ihnen und welche Verpflichtungen dem Personal zukommen“ (S. 53). In diesem Zusammenhang fällt ein kleiner Wermutstropfen des Safewards-Buchs ins Auge. Denn sprachlich lässt sich fragen, ob der Patienten-Begriff geeignet ist, das Paradigma des Miteinanders auf Augenhöhe zu verdeutlichen. Der psychisch erkrankte Mensch oder der Betroffene sind wahrscheinlich die besseren Begriffe. Ergänzt wird die Einführung in die Ideen und Interventionen des Safewards-Konzepts durch Praxisberichte aus dem psychiatrisch-pflegerischen Alltag.
Kurzum: das „Safewards“-Buch wird hoffentlich deutliche Impulse im psychiatrischen Alltag setzen. Die Praktikerinnen und Praktiker haben damit ein solides Fundament, das es zu erproben gilt. Die Überzeugungskraft wird Safewards aus dem Handeln der psychiatrisch Tätigen gewinnen. Mehr als Säen können Löhr, Schulz und Nienaber erst einmal nicht.
Michael Löhr / Michael Schulz / André Nienaber: Safewards – Sicherheit durch Beziehung und Milieu, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-88414-637-8, 187 Seiten, 25 Euro.