Zehn Zentimeter Zucker

30. Juni 2019 | Erleben | 0 Kommentare

Frau M. sitzt in einem Lagerungssessel auf dem Gang – auf einer internen Abteilung, irgendwo in einem Klinikum – irgendwo in Österreich. Genau dort, wo es immer so viel Arbeit gibt, und wo die Zeit zum Reden kurz geworden ist.

Frau M. ist schon angekleidet, denn sie wird heute entlassen. Ihre wenigen Habseligkeiten stehen in einem Plastikbeutel neben dem Lagerungssessel.

Vor Frau M. ist ein Tischchen montiert. Ein Schnabelbecher steht vor ihr, gefüllt mit kühlem Wasser. Sie ist dement und das, was sie sagt, ergibt nicht immer Sinn. Und manches Mal erzählt sie von früher – und dem, was sie gemacht hat. Aber, nur selten hört ihr jemand zu.

Keiner weiß zu sagen, wer Frau M. das Stück Gugelhupf gebracht hat. Auf einer Serviette liegt die gelbliche flaumige Köstlichkeit vor ihr – am Rand mit Schokolade überzogen. Freudig nimmt sie die Süßigkeit, leert mit großem Ernst Wasser aus dem Schnabelbecher darüber, bis sich die Mehlspeise vollgesogen hat – und klatscht mit den Fingern andächtig auf die Oberfläche.

Als sie von der Pflegeassistentin Sonja entdeckt wird, lächelt sie zufrieden. Ihr Gesicht ist voll mit Schokolade und auch an ihren Händen und unter ihren Fingernägeln kann man die dunkle Leckerei finden.

Rasch ist eine Waschschüssel geholt und vorsichtig entfernt die Pflegende das Kuchenstück, das nun leider nicht mehr für den Verzehr geeignet ist.

„Haben Sie genug gegessen?“, fragt Sonja, während sie mit warmem Wasser und einem Waschlappen die Wangen der Patientin säubert.

„Ich hab das erste Stück gegessen, aber mehr kann ich nicht“, behauptet Frau M.

Hatte sie tatsächlich zwei Stück gehabt?

Die Pflegende entsorgt den Kuchenrest und beginnt auch mit dem Reinigen der Hände.

„Wer hat denn diesen Gugelhupf gemacht?“, fragt sie, um mit der Patientin ins Gespräch zu kommen.

„Ich“, behauptet die Patientin stolz – obwohl das wohl kaum stimmt.

„Ah, haben Sie ein gutes Rezept?“, fragt Sonja.

„Ja… ein ganz gutes“, Frau M. strahlt. „Eines, mit acht Eiern.“

„Mit acht Eiern? Da haben Sie sicher eine große Gugelhupfform“, beide grinsen.

„Eine ganz große Form hab ich. Für einen Gugelhupf, wenn alle am Sonntag heimkommen“, verrät die Patientin.

„Wow“, Sonja ist beeindruckt. „Ein Gugelhupf mit Germ oder Backpulver?“

„Mit Backpulver“, sagt Frau M. und ihre Augen leuchten. „Dann kommt Mehl dazu. Vierzig.“

„Vierzig Dekagramm Mehl?“, will Sonja wissen.

Frau M. nickt. „Und Zehn Meter Zucker.“

„Zehn Meter Zucker? Wirklich? Das ist aber sehr süß“, Sonjas Mundwinkel wandern eindeutig ein wenig nach oben.

Wieder nickt Frau M., schüttelt aber sofort den Kopf.

„Nein, nicht Meter. Ich bin so zerstreut. Nein, natürlich zehn Zentimeter Zucker.“

Die Praktikantin, die sich zu Sonja und Frau M. gesellt hat, schüttelt den Kopf.

Sonja schaut nachdenklich. „Haben Sie das abgewogen oder haben Sie mit einem Maß gearbeitet?“, fragt sie endlich.

„Ich habe ein Küchenmaß zu Hause“, bestätigt Frau M.

Sonja erinnert sich daran, dass ihre Großmutter ein Gefäß zum Abmessen von Flüssigkeiten verwendet hatte. Sie hatte sich als Kind immer gefragt, wozu das Gefäß innen so viele Striche gehabt hatte. Konnte es sein, dass Frau M. die Menge des Zuckers darin gemessen hatte?

Die Patientin nimmt das Gespräch wieder auf. „Dann soviel (sie zeigt etwa einen Zentimeter mit dem Zeigefinger und Daumen ihrer rechten Hand) davon und dann noch einmal zehn Zentimeter Zucker.“

„Wovon so viel?“, fragt Sonja und wiederholt die Geste. „Milch, Backpulver, Vanillezucker, Zitronenschale, Butter? Wovon?“

„Mhm“, antwortet Frau M. „Das alles.“

„Alles gut verrühren. Und die Schokolade kommt nicht drauf, sondern rein“, erklärt die Patientin weiter und ist endlich ganz in ihrem Element. „Vorher mit ein wenig Butter schmelzen lassen und wenn sie wieder hart ist, in die Masse hinein geben. Alles fest rühren, bis die Schokolade zu kleine Stücken zerbrochen ist. Die Stückchen werden gut im Teig verteilt.“

„Blödsinn“, murmelt die Praktikantin.

„Wieso muss die Schokolade vorher weich gemacht werden?“, will Sonja wissen.

„Weil sie dann besser zerfällt“, behauptet Frau M.

Es entsteht eine kleine Pause, bevor Sonja fragt. „Weil… Sie Kochschokolade verwendet haben?“

„Genau.“ Frau M. lächelt vor sich hin.

Nun beginnt sie, ihre Hände unkontrolliert vor sich zu bewegen.

„Und dann machst du … das so, und so…“, murmelt Frau M.

Die Bewegungen ergeben keinen Sinn und passen nicht zum vorangegangenen Gespräch.

„Ich glaub, das Rezept probiere ich aus“, sagt Sonja. „Dankeschön.“

Frau M. lächelt und ihr Blick geht ins Leere.

„Das… war doch alles Blödsinn, oder?“, fragt die Praktikantin.

Sonja nimmt die Waschschüssel und entfernt sich von Frau M.

„Zehn Zentimeter Zucker?“, die Praktikantin schüttelt den Kopf. „Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Doch, das könnte schon richtig sein“, bestätigt Sonja. „Im Ernst, ich wette, das ist ein tolles Rezept… Wir brauchen nur noch sehen, wie viel Butter da hineingehört und vielleicht ein wenig den Zucker reduzieren. Der Rest sollte eigentlich passen“, sagt sie und nimmt sich vor, dieses Rezept auszuprobieren.

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Erklärung:

Das Küchenmaß ist ein altes ursprünglich auf ein regionales Maß um Leipzig beschränktes volumenmaß. Es fand sich im Mehlhandel.

1 Küchenmaß galt als eine halbe „Leipziger Metze“ (was „2/4 preußischer Metze“ oder 128 ½ Pariser Kubikzoll entsprach) Das sind 2 9/11 Liter.

Autor

  • Gudrun Kalchhauser

    Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Studium ANP an der Donau-Universität Krems 2017 beendet; Sonderausbildungen Palliative Care und Psychoonkologie; seit 2006 auf der Radioonkologie am Universitätsklinikum Krems; seit 1996 freiwillige Mitarbeiterin bei Roten Kreuz; Lehrsanitäterin seit 1998; Erarbeitung der Lehrunter-lagen EH-Spezial (Menschen mit geistiger Behinderung); international drei Mal in Indien tätig gewesen; Buch: „Weil es dich gibt“ (richtet sich an pflegende Angehörige)