Haben Emotionen und Bedürfnisse von Beschäftigten im Gesundheitswesen eine Bedeutung? Das Trainingsprogramm „empCARE“ hat in den letzten Jahren einen Beitrag dazu geleistet, dass für Pflegende in ganz unterschiedlichen Settings der reflektierte Umgang mit der eigenen Empathie und die Stärkung der Selbstfürsorge in den Fokus gerückt worden ist. In diesen Tagen ist das Buch „empCARE – Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Gesundheitsberufen“ erschienen, das gleichzeitig die Anwendung des Trainingsprogramms und die Forschung zur Effektivität in den Blick nimmt. Mit dem Leiter des Bildungszentrums der Uniklinik Köln, Ludwig Thiry, hat Christoph Müller zusammengesessen.
Christoph Müller Pflegende in unterschiedlichen Settings arbeiten unter extremen Belastungen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Pflegende im beruflichen Alltag nur schwer den an sie gesetzten Ansprüchen entziehen können. Was leistet „empCARE“ in diesem Zusammenhang?
Ludwig Thiry Im Zuge der Covid-Pandemie sind die Belastungen ja noch größer geworden. Das Bejubeln von Pflegenden als Heldinnen und Helden geht mit der Erwartung einher, dass die Pflegenden ständig einsatzbereit sind und bei Symptomlosigkeit sogar infiziert arbeiten. Dies zeigt eines der Hauptprobleme der beruflich Pflegenden. Die Pflegeperson wird im Grunde nicht als Person anerkannt und wahrgenommen. Eigene Gefühle und Bedürfnisse werden ihr entweder gar nicht erst zugestanden oder sie hat sie zu beherrschen. Gleichzeitig wird beruflich Pflegenden aber abverlangt, dass sie gegenüber Klientinnen und Klienten empathisch, freundlich, zugewandt sein sollen. Dieser Gegensatz macht die Leute krank. Viele gehen frühzeitig aus dem Beruf.
Mit empCARE richten wir den Blick auf die Pflegenden. Oder besser: Wir lenken den Blick der Pflegenden auf sich selbst. Wir sind sicher, dass sie die psychischen Herausforderungen in den Pflegeberufen auf Dauer besser bestehen, wenn sie die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und diese in die pflegerischen Interaktionen integrieren können. Das ist eine Maßnahme, um in der Interaktionsarbeit gesund bleiben zu können.
Christoph Müller Selbsterfahrung und Selbstreflexion erscheinen als Fremdwörter für beruflich Pflegende. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass es oft eher darum geht, To-Do-Listen abzuarbeiten als kranke und gebrechliche Menschen zu den eigenen Ressourcen zurückzuführen. Wie werden Pflegende angeleitet, die Empathie in den Mittelpunkt des eigenen Denkens und Fühlens zu stellen?
Ludwig Thiry Diese Verrichtungsorientierung ist eine Folge der bestehenden Finanzierungsregeln. Es werden einzelne Tätigkeiten abgerechnet. Das entspringt letzten Endes einem verkürzten Verständnis der Pflegetheorien, die mit Aktivitäten des täglichen Lebens arbeiten. Die Aktivität Essen und Trinken wird in der Folge auf die Erfüllung physiologischer Bedürfnisse reduziert. Essen und Trinken kann aber auch ganz andere Bedürfnisse befriedigen, wie Gemeinschaft, Lust, Vergnügen.
Bei empCARE gehen wir immer von den Bedürfnissen aus. Wobei ich „Bedürfnis“ als das vom Kontext abhängige Empfinden eines Mangels verstehe. Der Mangel löst ein unangenehmes Gefühl aus, das zum Handeln veranlasst oder ein Verhalten auslöst. Es besteht aber nicht unbedingt eine linear-logische Verbindung zwischen Bedürfnis und Verhalten. Um mal beim Beispiel Essen und Trinken zu bleiben: Es kann sein, dass Appetit nicht den Mangel an Nahrung, sondern einen Mangel an Gemeinschaft oder Vergnügen anzeigt. Wenn die Bedürfnisse Gemeinschaft oder Vergnügen nicht erfüllt werden, kann jemand so viel essen, wie er will, es wird keine Befriedigung eintreten. Die Frage ist also immer, woran mangelt es eigentlich? Klientinnen und Klienten ist selbst nicht immer klar, welches Bedürfnis sie zu einem bestimmten Verhalten veranlasst, erst recht nicht in der kritischen Situation einer Erkrankung.
Wenn Bedürfnisse nicht geklärt sind, kann es zu tiefgreifenden Störungen in der Beziehung kommen. Ohne eine gute Beziehung zu Klientinnen und Klienten kann ein Pflegeprozess auf Dauer aber nicht gelingen. Stellen Sie sich vor, Sie brauchen Hilfe bei der Körperpflege oder beim Toilettengang. Da geht es für manche Klientinnen oder Klienten nur um Sauberkeit, für andere sind Bedürfnisse, wie Würde, Unabhängigkeit, Sicherheit oder Autonomie tangiert. Und als Betroffener wünschen Sie sich eine Pflegeperson, die das erkennt und respektiert. Wenn das nicht gelingt, reagieren Sie als Pflegebedürftiger darauf, vielleicht mit Rückzug oder aber mit Aggression. Sie arbeiten nicht mehr mit oder machen Ärger.
Wenn die Bedürfnisse gemeinsam herausgearbeitet sind, können Pflegende mit ihren Klientinnen und Klienten darüber sprechen, was unter den gegebenen Umständen die bestehenden Bedürfnisse möglichst weitgehend befriedigen kann. Hier kommen die Ressourcen der Klientinnen und Klienten aber auch die oft begrenzten Ressourcen der Pflegenden ins Spiel. Es findet ein Aushandlungsprozess auf Augenhöhe statt, in dem beide Seiten Verantwortung für das Gelingen der Interaktion übernehmen.
Und da sind dann eben auch die Gefühle und Bedürfnisse der Pflegenden von Bedeutung. Mit empCARE sorgen wir dafür, dass die Pflegenden ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse überhaupt wahrnehmen und in die empathische Episode integrieren. Deswegen geht es uns auch nicht um ein bloßes Mehr an Empathie. Die Anforderung, immer noch empathischer zu werden, treibt Pflegende in die Falle, die faktische Begrenztheit der eigenen Ressourcen aus dem Blick zu verlieren.
Wir erweitern das Alltagsverständnis von Empathie als einseitig auf die andere Person ausgerichteten Handlungsimpuls und vervollständigen es durch die Einbeziehung der Gefühle und Bedürfnisse der Pflegenden selbst, die wir damit als vollständige Personen in der pflegerischen Beziehung anerkennen.
Christoph Müller Welches Interesse muss eine Einrichtung haben, dass Mitarbeiter_innen die eigenen Bedürfnisse und Emotionen im Blick haben?
Ludwig Thiry Ich will vorwegschicken, dass wir seit Jahren aufgrund politischer Entscheidungen einen Mangel an Personal in allen Bereichen der Pflege haben. Diese Knappheit erschwert oder verhindert sogar die professionelle Interaktionsarbeit, wie ich sie gerade beschrieben habe. Viele Pflegende, leider oft auch die Vorgesetzten, verlieren aus dem Blick, dass die Ressourcen für eine wirklich professionelle Interaktionsarbeit in den Pflegeberufen stetig begrenzt worden sind. Es führt dazu, dass Pflegende während eines Arbeitstages ständig unter Druck Prioritäten setzen. Sie entscheiden permanent, was als nächstes das Wichtigste ist. Meistens laufen diese Entscheidungen unbewusst ab, weil man gar nicht jede dieser Entscheidungen reflektieren kann.
In der Kommunikation mit Klientinnen und Klienten verwenden Pflegende dann in schwierigen, emotional belastenden Situationen häufig sozialadäquate Formulierungen mit dem Ziel, die Interaktion abzukürzen oder zu beenden, den sogenannten empathischen Kurzschluss. Der empathische Kurzschluss ist oft an Beschwichtigungen, wie „Kopf hoch, das wird schon wieder“ oder „Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu schämen“ erkennbar. Wenn Pflegende empathische Kurzschlüsse über lange Zeit und ohne Reflexion einsetzen, führt das zu einem Gefühl des Ungenügens gegenüber der anderen Person und dem eigenen professionellen Anspruch. Pflegende geraten so nach und nach in einen Negativspirale aus Arbeitsdruck, unreflektierter Reaktion, Unzufriedenheit und reduzierter Handlungskompetenz.
Vorgesetzte haben eine Fürsorgepflicht für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und sie sollten das betriebswirtschaftliche Interesse an motivierten und gesunden Beschäftigten haben. Der Zusammenhang zwischen Qualität der Arbeitsbedingungen und Qualität der Ergebnisse ist schon seit Jahren bekannt. Vorgesetzte, die ihren Beschäftigten Raum und Zeit zur Reflexion geben, werden Personal an sich binden und bessere Arbeitsergebnisse erzielen.
Christoph Müller Mit welchen Methoden arbeitet das „empCARE“-Trainingsprogramm? Sind die Hürden zum Trainingsprogramm für beruflich Pflegende möglich?
Ludwig Thiry Das Training wurde umfangreich evaluiert und die systematisch erhobenen Rückmeldungen der Teilnehmenden sind in die Revision des Trainings eingeflossen. Es ist somit ein Training entstanden, das intensiv erprobt und auf Pflegefachleute abgestimmt ist.
Wir haben dabei in vier didaktischen Dimensionen gedacht. Die erste heißt „Der Körper im Raum“. Die Teilnehmenden verlassen immer wieder ihren Platz im Seminarraum, führen Übungen im Stehen durch oder bewegen sich im Raum. Das führt zu einer Aktivierung und im wortwörtlichen Sinn zur Einnahme verschiedener Perspektiven.
Die zweite Dimension ist es, „Lernen als soziales Geschehen“ zu verstehen. Wir sorgen von Beginn an dafür, Vertrauen zwischen den Teilnehmenden untereinander und zur Trainingsleitung herzustellen. Erst in einer vertrauensvollen Atmosphäre können Teilnehmende Haltungen und Verhalten verändern. Das Training fordert ja durchaus dazu heraus, bis dahin bestehende Sichtweisen zu reflektieren. Eine der wichtigsten Rückmeldungen einer Teilnehmerin war, dass sie Fehler machen durfte, ohne schräg angesehen zu werden.
Da es um Empathie geht, spielte bei den didaktischen Überlegungen das Thema „Lernen und Emotionen“ eine tragende Rolle. Neurophysiologische Forschungen zeigen, wie stark unsere Entscheidungen und eben auch unser Lernen durch Emotionen gesteuert werden. Die Akzeptanz der Emotionen der Teilnehmenden durch die Trainingsleitung ist in den Trainings ganz zentral. Aber auch die Akzeptanz durch die Teilnehmenden selbst. Im Alltag tendieren wir ja dazu, negative Gefühle möglichst schnell loszuwerden. Im Training arbeiten wir daran, negative Gefühle wertfrei zu beobachten und zu reflektieren, welches unbefriedigte Bedürfnis dahinter liegt.
Sie sehen an den drei ersten Dimensionen, dass wir in unseren Trainings stark erfahrungsbasiert arbeiten. Die Erfahrungen, die die Teilnehmenden machen, werden aber immer zusätzlich auf kognitiver Ebene in einen Sinnzusammenhang gebracht, indem wir die Ergebnisse jahrelanger Forschung zu Empathie und Interaktion vermitteln. Deshalb haben wir die letzte Dimension „Wissen erweitern“ genannt. Alle Trainingsteile enthalten theoretisch fundierte Erkenntnisse. Wir achten aber sehr stark darauf, dass sich die theoretischen Anteile an der Lebenswelt der Teilnehmenden orientieren und dass wir eine Sprache benutzen, die der Alltagssprache von Pflegenden entspricht.
Christoph Müller In dem Buch nimmt die Wirksamkeitsforschung einen breiten Raum ein. Vermitteln Sie doch die zentralen Impulse, die „empCARE“ geben kann.
Ludwig Thiry Die Zielsetzung des Projekts war es, ein Training zu entwickeln, das für die Teilnehmenden einen nachhaltigen Entlastungseffekt hat. Wobei wir uns auf die psychischen Belastungen konzentriert haben, die unmittelbar aus der Interaktion mit den gepflegten Menschen entstehen. Wir haben sowohl quantitativ wie qualitativ evaluiert. Ein wichtiger Impuls, den wir feststellen konnten, ist die veränderte Sicht auf Interaktionen. Die Teilnehmenden haben zu einem großen Teil Anregungen mitgenommen, Interaktionen zu reflektieren, in denen sie sich durch das Verhalten von Klientinnen oder Klienten herausgefordert fühlen. Viele haben herausgehoben, dass ein wichtiger Lerneffekt für sie war, hinter einem als herausfordernd bewerteten Verhalten verborgene Bedürfnisse zu erkennen.
In der quantitativen Evaluation konnten wir eine Reduzierung von Belastungsfolgen wie Schlaflosigkeit oder Depressivität feststellen, aber auch eine Reduzierung des allgemeinen Stresserlebens. Wir können also zusammenfassend sagen, dass wir ein Training entwickelt haben, von dem die Teilnehmenden tatsächlich in Hinsicht auf ihr psychisches Wohlbefinden und ihre Berufsmotivation profitieren.
Christoph Müller Das „empCARE“-Trainingsprogramm kann sicher als Moment der Professionalisierung der beruflichen Pflege beschrieben werden. Inwieweit profitieren die erkrankten und gebrechlichen Menschen davon?
Ludwig Thiry Ich selbst bevorzuge es mittlerweile, in Zusammenhang mit empCARE eher von Professionalisierung der Interaktion als von reflektiert empathischem Reagieren zu sprechen. Ein Aspekt von empCARE ist für mich ein verändertes Rollenverständnis von Pflege. Als Expertinnen und Experten für Pflege glauben wir zu oft, wir wüssten, was für Klientinnen und Klienten in einer bestimmten Situation das Beste ist. Wir handeln dann oft vorschnell und ineffektiv. Und übrigens auch ineffizient. Wenn wir quasi über die Köpfe von Pflegebedürftigen hinweg entscheiden, was die richtige Intervention sein soll, kann es zu den vorhin beschriebenen Effekten kommen, dass Klientinnen und Klienten sich wehren oder sich depressiv zurückziehen. Eine professionelle Interaktion im Sinne von empCARE führt zu gemeinsamen Entscheidungen auf Augenhöhe, die dann auch tragen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie von Klientinnen und Klienten achten.
Christoph Müller Herzlichen Dank für die lebhaften Einblicke.
Das Buch, um das es geht
Thiry, L., Schönefeld, V., Deckers, M., Kocks, A. (Hrsg.): empCARE – Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Gesundheitsberufen, Springer Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-662-59471-1, 227 Seiten, 34.99 Euro.