Liebe Kolleginnen und Kollege!
Ein Virus hält die Menschheit in Atem, bestimmt unsern Alltag. Corona hat sich als unsichtbarer Herrscher gleichsam die Krone aufgesetzt, regiert nach seinen Gesetzten, verbreitet Angst, Krankheit und Tod. Wir hören von Szenarien, die wir eigentlich nur aus dem Geschichtsbuch kennen, es gab die Pest, die spanische Grippe – doch wir schreiben das Jahr 2020 und stehen fassungslos vor einer Bedrohung, die die Verantwortlichen aller Kontinente und Länder vor fast unlösbare Probleme stellt. Einschränkungen die uns alle treffen überschatten das Leben, Sorgen und Ängste breiten sich aus.
Was kann ich als 87jährige ehemalige Pflegefachfrau und Autorin eines Lehrbuches dazu sagen?
Zuerst drängt es mich, danke zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Ihren Einsatz in diesem Ausnahmezustand. Sie stehen seit Wochen im Brennpunkt eines Kampfes, in dem es wahrlich um Leben und Tod geht. Mein Dank ist getragen von Stolz und Genugtuung darüber, dass Sie da sind, dass Pflege das tut und tun kann, was ihr eigentlicher Kernauftrag ist: Die Sorge für die Menschen. Ich erinnere mich an ein altes, aus der Mode gekommenes Wort sich kümmern. Es ist ein wunderbares Wort, umfasst es doch alles, was uns heute so nottut: dem Menschen, dem bedrohten Menschen Mensch sein, ihm jene Würde zugesteht die ihm die die Gewissheit gibt, in guten Händen zu sein.
Sie stehen an vorderster Front und leisten in diesen ausserordentlichen Zeiten ganz selbstverständlich ihren Dienst. Das tun sie eigentlich immer, sie taten das vor der Pandemie und werden es auch danach weiterhin tun. Aber heute wird es offensichtlich, die Bedeutung Ihrer Arbeit wird bemerkt – und das ist gut so.
Ich denke jetzt aber nicht nur daran, dass unser Beruf endlich als ‘systemrelevant’ ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Ich möchte Sie stattdessen an etwas erinnern, das in der Hektik des aktuellen Zeitgeschehens fast untergegangen ist, für die Pflege aber ein historisches Ereignis ist und bleibt: Die Pflege schreibt Geschichte! Unabhängig und noch vor dieser weltweiten Krise hat die WHO das Jahr 2020 zum internationalen Jahr der Pflege erklärt. Sie tat dies im Zusammenhang mit dem 200. Geburtstag von Florence Nightingale.
Unterdessen aber zeigt sich das Jahr der Pflege in seiner unvorhergesehenen Herausforderung doch eher als ein Jahr für die Pflege. Die Corona-Pandemie hält die Welt in Atem – sinnbildlich könnte man sagen: sie droht der Welt, den Atem zu nehmen – und fordert damit das Gesundheitswesen aufs äusserste. Die Pflege steht mitten drin und die Welt weiss, dass ohne sie nichts mehr geht. Und Sie, die Pflegenden, halten die Stellung dort, wo sie direkt oder indirekt gebraucht werden, ja unverzichtbar sind. Sie tun, was ihrem Berufsethos entspricht. Sie tun ihr Möglichstes im Einsatz für diese Menschen, sie tun genau das, was auf der vordersten Front, den Intensivstationen, im Spital, genauso wie im Pflegeheim oder im ambulanten Dienst getan werden muss, ausgerüstet mit hohem Fachwissen und menschlichem Gespür. Nebenbei gesagt – Sie tun, was Sie schon immer getan haben.
Florence Nightingale kann stolz sein. Sie, die Begründerin der modernen Krankenpflege, ist uns bekannt als liebend-sorgende Dame mit der Lampe. Sie erlebte den Krimkrieg und pflegte im Lazarett die verwundeten Soldaten. Unvergesslich in die Geschichte eingegangen ist ihre Art der Fürsorge: Sie trägt die Lampe des Trostes in das Grauen von Leiden und Sterben.
Florence Nightingale war eine Kämpferin, sie hat erfahren, dass gerade in einer Welt, die durch Krisen und Katastrophen erschüttert wird, ungeahnte Kräfte wachsen und Neues gestaltet werden kann.
Vielleicht ist es das, was ich für mich in früheren Jahren als Leidenschaft für das Mögliche bezeichnet habe. Ich habe nie eine Pandemie erlebte, nie in einer Situation gestanden wie Sie es jetzt sind – aber ich habe immer an den Wert und an den gesellschaftlichen Nutzen jener professionellen und selbständigen Pflege geglaubt, nach der die Landesregierungen heute rufen und die kranke Menschen brauchen.
Liebe Berufskolleginnen und -kollegen, ob Sie nun direkt oder indirekt von der Corona-Welle betroffen sind: Sie leisten in diesen Wochen und Monaten Grosses. Die Öffentlichkeit nimmt die Bedeutung der Pflege in ihrer Komplexität und ihrer hohen Verantwortung wahr. Das stärkt unsern Beruf.
Ich selbst gehöre jetzt zu den Risikogruppen, mein Beitrag ist das konsequente Daheimbleiben, was mir äusserst schwerfällt. Mich mit Ihnen im gleichen Boot zu wissen, schenkt mir ein gutes Gefühl der Zusammengehörigkeit.
In diesem Sinn möchte ich mit Ihnen ein Symbol teilen, das mich selbst durch viele Lebenskrisen begleitet hat, den Leuchtturm.
Sie stehen, wie Leuchttürme, mitten in der Brandung dieser Zeit. Sie sind unverzichtbare Nothelfer, geben Orientierung, und Sicherheit, spenden Trost in unruhigen Zeiten, retten Leben wo die Bedrohung am grössten ist. Doch wem nutzt der Leuchtturm, wenn die Lampe nicht brennt, weil der Energieträger erschöpft aufgegeben hat. Wir wissen es – und hier liegt die Bedeutung für uns alle: Pflege und Selbstpflege müssen sich die Hände reichen, denn nur ein gut gewarteter Leuchtturm – nur gesunde Pflegende – können bewirken, was das Gesundheitswesen braucht
In einer guten Sorge mit- und füreinander schaffen wir Zukunft. Vertrauen wir dem Leben, von dem dieser aussergewöhnliche Frühling auch erzählt. Die aufbrechenden Blüten lassen uns hoffen , dass jede Krise neuem Leben zustrebt. Was jetzt gilt: bleiben Sie gesund, pflegen Sie das Leben, auch ihr eigenes.
In herzlicher Verbundenheit
Ihre Sr. Liliane Juchli