„Wer im Alltag IMMER Clown spielen muss, der dreht irgendwann durch“

16. April 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

©Norman Wollmacher

Mit 34 Jahren erlebte Christiane Wirtz erstmals eine schizophrene Psychose. Es sollte nicht der einzige und letzte Einschnitt in das Leben der Journalistin sein. Sie kämpft sich in den Alltag zurück, erzählt inzwischen den Menschen in ihren Büchern und unzähligen Veranstaltungen von der Zeit, in der ihre Seele aus der Balance geraten war. Die Bücher „Neben der Spur“ und „Das Katzenprinzip“ geben Zeugnis davon. Sie stand Christoph Müller zu einem Interview zur Verfügung.

Christoph Müller Die Schizophrenie, die sie durchlitten haben, bezeichnen Sie als „seltsames Schicksal“. Was hat Ihnen im Rückblick mehr oder weniger häufig Hoffnung gegeben?

Christiane Wirtz : Dass ich es aus diesem Diagnosekonstrukt und aus den Symptomen einmal hinausschaffen werde, auch, wenn ich anerkennen musste, dass ein schwerwiegendes Problem, oder sagen wir einmal, eine große Herausforderung vor mir liegt; einige wenige sehr nette Menschen um mich herum, die mich nicht im Stich gelassen haben und an mich geglaubt haben; der Gedanke daran, dass sich Dinge wandeln lassen, auch vermeintlich schlechte. Als Journalistin: Das Gefühl dafür, das ist ein wichtiges Thema, für das es sich einzusetzen lohnt und das sich dann auch für mich auszahlen und lohnen wird – in jeder Hinsicht. Als Mensch, in meiner Entwicklung, finanziell …

Christoph Müller Sie schreiben: „ …, was ich mir am meisten von meinen Mitmenschen wünsche – auch wenn dieser Wunsch im Einzelfall vielleicht nicht einfach zu erfüllen ist: zu sehen, dass das Verhalten während der Psychose krankheitsbedingt war, das Gebaren, die Anschuldigungen, die Unfreundlichkeit nicht auf sich zu beziehen und sich diesen Schuh nicht anzuziehen“ (S. 69). Inwieweit ist es den Menschen um Sie herum gelungen, Ihnen gegenüber empathisch zu sein?

Christiane Wirtz Tja, sehen Sie einmal, so ändern sich die Wünsche. Ja, das war alles krankheitsbedingt und natürlich auch nicht absichtlich, aber letztlich bin ich, ganz klar, verantwortlich für mein Leben, auch in krankheitsbedingten Phasen oder nicht vorsätzlich verursachten Situationen. Und es tut mir immer noch leid für jede Verwirrung, die ich angestellt habe. Mittlerweile drehe ich den Spiegel aber auch um und sage: Warum benimmst du dich eigentlich so komisch, nur weil ich mit dieser Diagnose herumlaufe? Ist es nicht an der Zeit, an diesen Stigmatisierungen endlich zu arbeiten und sie in die Tonne zu treten? Aber, um noch einmal auf ihre Frage zurück zu kommen: Ja, ich habe viel Empathie erhalten, ich wünsche es jedem, der solche Diagnosen bekommt, aber natürlich auch eigentlich jedem, der mit schwierigen Krisen oder sagen wir ruhig auch Krankheiten zu tun hat. Die Empathie kam für mich aus allen möglichen Richtungen. Ich kann jeden nur darin unterstützen, auf andere zuzugehen, sie (die Empathie) sich zu wünschen und vielleicht auch mal zu einzufordern. 

Christoph Müller In der psychiatrischen Versorgung ist das Einnehmen der verordneten Psychopharmaka und das möglicherweise eigenwillige Absetzen durch Betroffene ein häufig diskutiertes Thema. Sie schreiben unter anderem, dass die Medikamente Ihnen den Angst-und Stresspegel reduziert haben. Sie wünschen, einen anteilnehmenden Druck durch das soziale Umfeld, wenn es um Medikamente geht. Wie zeigt sich dies?

Christiane Wirtz Herr Müller, ich fühle mich da missverstanden. Ich wünsche mir keinen Druck durch das soziale Umfeld. Ich sehe Fehler schon viel früher. Ja, ich glaube zwar, es gibt natürlich einen „point of no return“, wenn die Psychose akut ist, an dem es gut wäre, wertschätzend und vorschlagend auf einen Patienten oder Klienten zuzugehen und ihm Medikamente oder sonst irgendeine Art von Hilfestellung, also auch Psychotherapie anzubieten. Handelnd unterwegs zu sein und hartnäckig, nicht gleich aufzugeben, ruhig auch ein wenig penetrant zu sein. Im Sinne von: „Wir haben nicht nur eine Schönwetterbeziehung, sondern halten an dir fest“. Aber wenn Sie überlegen, dass ich VORHER, also bevor ich den Entschluss getroffen habe, die Medikamente alleine auszuschleichen, dass ich vorher vergeblich nach einem Psychiater in Köln gesucht habe, der mit mir die Medikamente ausgeschlichen hätte oder zumindest auf ein absolutes Minimum mit mir reduziert hätte – was laut Richtlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) aus dem Frühjahr 2019 State of the Art ist, also möglich, wenn nicht sogar wünschenswert – dann hätte ich es nicht alleine gemacht, dann wäre vieles nicht passiert. Verstehen Sie, ich will überhaupt nicht meine Uneinsichtigkeit und Bockigkeit leugnen oder dass ich vieles falsch gemacht habe, aber auf Seiten der Psychiatrie und der Gesellschaft war und ist auch noch einiges im Argen. Dort tut sich zwar viel, meiner Meinung aber nicht genug.

Christoph Müller Inwieweit ist das Schreiben der beiden Bücher nicht nur Verarbeitung des Erlebten, sondern auch Befreiung vom „seltsamen Schicksal“ gewesen?

Christiane Wirtz Das kann ich noch nicht genau sagen. Ich glaube, man befreit sich vom Schicksal, indem man es annimmt. Schreiben ist einfach mein Ding. Mein Ausdruck. Meine Möglichkeit von Kommunikation (unter anderem). Es war ein Outing. Ein Stehen zu mir selbst mit all meinen Schattenseiten. Vielleicht war es, vielleicht ist es die Heilung. Man kann so etwas nicht 100-prozentig sagen. Ich habe schmerzvoll lernen müssen: Je mehr ich vor etwas weglaufe, desto näher bleibt es an mir dran. Wo genau ich in diesem Prozess stehe, weiß ich gerade nicht. Ich glaube ja daran, dass jeder bestimmte Aufgaben im Leben hat und sie auch annehmen sollte. Keine Ahnung, wohin mich dies führen wird und ob ich immer um das Thema Psychosen herumkreisen werde oder mir das andere Horizonte eröffnet – wir werden sehen.

Christoph Müller Das Buch „Das Katzenprinzip“ zeigt Perspektiven auf, wie Wege aus psychischen Krisen gefunden werden könne. Bewahrt aus Ihrer Sicht Optimismus davor, dass die Seele ein weiteres Mal aus der Balance gerät?

Christiane Wirtz Tja, keine einfache Frage. Ich finde Optimismus ist nicht immer die Antwort, positive Psychologie auch nicht immer die Antwort. Aber grundsätzlich finde ich, Optimismus und positive Psychologie geben insgesamt bessere Antworten als ungelebtes Leben, also Zurückhalten von Leben in Dauerdepression und ständige Konzentration auf das angeblich so Kranke, Nicht-Angepasste, Nicht-Konforme. Jeder hat etwas zu geben, egal, ob jetzt als kleinerer oder größerer Beitrag. Und sich selbst nicht wertzuschätzen und zu hassen, pessimistisch zu sein – dies erscheint mir manchmal menschlich und normal, aber nicht die Antwort, die stehen bleiben sollte, nicht das finale Kapitel.

Christoph Müller Den Eigensinn und das Resilienz-Konzept setzen sie in einen gemeinsamen Zusammenhang. Erzählen Sie doch davon, was die Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse für Sie bedeutet.

Christiane Wirtz Es gilt doch für die angeblich so anderen, die Menschen mit Psychosen, dasselbe wir für alle Menschen: Erkenne dich selbst. Das ist ein Gebot an alle, eine alte Inschrift im Apollo-Tempel von Delphi. Jeder ist anders. Aber wie bist du? Es ist eine Frage, die ich zu verfeinern versuche und an der ich mich ausrichte. Das führt mich zu den Aufgaben und zu den Menschen, die zu mir passen.

Christoph Müller Katzen fallen immer wieder auf den Füßen. Dieses Bild gefällt, gibt sie der Niederlage nicht wirklich eine Chance. Was denken Sie über das Bild eines Clowns, den man als Meister des Stolperns und Wieder-Aufstehens beschreiben könnte?

Christiane Wirtz Ich mag den Clown, aber er muss immer fröhlich sein, das ist auch doof. Vielleicht haben Sie den großartigen Joaquin Phoenix gesehen in „Joker“. Schauen Sie, der musste immer lächeln, obwohl es ihm überhaupt nicht danach war, der musste immer eine Fratze zeigen. Das ist eben auch nicht gut. Wer im Alltag IMMER Clown spielen muss, der dreht irgendwann durch. Wer spielen KANN, aber auch die Maske absetzen darf und dann genau so angenommen wird, der hat es gut. Ich habe mir tatsächlich für diese Tage (Weihnachten und Sylvester/Neujahr) vorgenommen, mir eine Maske zu basteln, aus Gipsbandagen und sie abzusetzen, zu bemalen. Denn ich habe das Gefühl, es ist für mich Zeit, die Maske abzulegen. Damit meine ich: ich glaube, ich bin bereit, Leben zu wagen und Authentizität.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank für die vielen Nachdenklichkeiten.

Die Bücher, um die es geht

Christiane Wirtz: Neben der Spur – Wenn die Psychose die soziale Existenz vernichtet, Dietz-Verlag, Bonn 2018, ISBN 978-3-8012-0518-8, 198 Seiten, 22 Euro.

Christiane Wirtz: Das Katzenprinzip – Immer auf den Füßen landen – Sieben Wege aus der psychischen Krise, Dietz-Verlag, Bonn 2019, ISBN 978-3-8012-0550-8, 149 Seiten, 18 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at