Es ist kaum vorstellbar, doch Pflege könnte der einzige Zugang zu einer Art Sexualität, etwas Zuneigung oder gar Kontakt zu einer anderen Person sein. Viele ältere Menschen sind alleine, die Partner sind bereits verstorben und der Freundeskreis schrumpft enorm. Neue Freunde finden fällt schwerer und wird oft nicht mehr als wichtig angesehen. Wenn man mit Personen im hohen Alter spricht, bekommt man deutlich zu hören, dass eine neue Partnerschaft mehr Arbeit sei, als Vergnügen. Denn was ist wenn die bessere Hälfte zum Pflegefall wird? Sexualität begleitet uns unser Leben lang. Sie fängt im Mutterleib an und verändert sich im Laufe der Jahre immer wieder. Besonders alte Menschen sprechen oftmals etwas anders über Sex, allerdings ist es schon immer ein Thema gewesen. Früher sprach man etwas versteckter als heute. Ein gutes Beispiel aus dem Jahr 1920 wäre „Veronika, der Lenz ist da!“.
Ab wann ist man denn alt?
Jeder Mensch möchte alt werden, doch keiner möchte alt sein. Vor allem dann nicht, wenn man sich nicht mehr um sich selbst kümmern kann. Man kann mit 97 Jahren erstaunlich fit sein, sich selbst anziehen, essen oder Unterhaltungen führen. Aber was ist mit der Körperhygiene, die von der Gesellschaft erwartet wird? Wer übernimmt diese Pflege, wenn man doch eigentlich keinem zur Last fallen will und außerdem diesen enormen Eingriff in die Privatsphäre nur ungern, oder doch gern, über sich ergehen lässt?
Das interessante am alt werden ist, dass die anderen immer älter werden, jedoch man selbst in dem Glauben ist, kaum zu altern. Das liegt in erster Linie an den Gefühlen, denn diese altern nun mal nicht. Starke Gefühle sind abrufbar und führen in eine Welt von damals. Damals als man noch jung war. Man erinnert sich vielleicht noch an den ersten Schultag und das damit verbundene Gefühl, an die Pubertät und die ersten Schmetterlinge im Bauch, an die Feier zum 30. Geburtstag und so weiter. Gefühle unterteilen sich in angeborene und erlernte. Die angeborenen sitzen in der Amygdala, dem Mandelkern im Gehirn und sind über alle Kulturen gleich. Sie ermöglichen Empathie empfinden zu können, sowie Mimik und Gestik zu steuern.
Erlernte Gefühle eignet man sich im Laufe der Zeit über das Umfeld an. Dazu gehört zum Beispiel Scham. Wenn man Scham empfindet, senkt man seinen Kopf nach unten und hofft unsichtbar zu sein. In der Sexualität spielt Scham eine wesentliche Rolle, vor allem im Alter. Die Körperform sieht nicht mehr aus wie sie einmal war, selbst wenn alles noch gut beweglich ist, funktioniert es nicht mehr so, wie man gerne hätte. Dann entspricht der Körper nicht mehr der Norm. Schlussendlich kommt man an den Punkt, an dem man feststellt, dass man plötzlich verletzlich ist. Man realisiert, dass man immer mehr und mehr Hilfe benötigt und eventuell bekommt man Angst, der einen oder anderen Krankheit zu verfallen und im schlimmsten Fall ein Pflegefall zu werden. Doch wo bleibt bei all den Themen die Sexualität, vor allem im hohen Alter? Die Gesellschaft gibt vor, wer Sex haben darf. In den letzten Jahren werden ältere Menschen zumindest in der Werbung gezeigt. Doch wenn man an Sexualität denkt, dann stellt man sich eher Unversehrtheit vor, also ein bestimmtes Körperbild. So beginnt bereits der erste Zweifel, ob man überhaupt noch im Alter Sex haben darf. Besonders wenn es um die Libido geht, ist die Scham groß. Auch jüngeren Personen fällt es schwer beim Wunsch nach Veränderung oder Beschwerden zu einem/r Arzt/Ärztin, Therapeut/in oder Berater/in zu gehen, umso schwerer ist dies für ältere Personen.
Generell ist schon alleine die Pflege mit Scham besetzt und obwohl die Aussage, dass man sich nicht schämen muss, nett gemeint ist, ist sie nicht sonderlich hilfreich. Die Entblößung um von der/m PflegerIn umgezogen oder geduscht zu werden, die irgendwie dazu gehört, ist oftmals schon unangenehm genug. Empfehlenswerter ist es, der Person zu erklären, dass man es gut nachvollziehen kann, dass es einem selbst genauso gehen würde. Vorstellbar für junge Menschen ist dies trotzdem nicht. Dann beginnt es, dass der Partner oder die Partnerin und immer mehr Freunde und Freundinnen die Welt verlassen, man auf sich alleine gestellt und auf die PflegerInnen voraussichtlich angewiesen ist.
Lassen Pflegeheime überhaupt Sexualität zu?
Ja natürlich, jedoch ist der Umgang noch etwas verbesserungswürdig. Früher gab es im Pflegeheim Achtbettzimmer, alles war steril und weiß. Es gab kaum Privatsphäre, geschweige denn war von Trennwänden die Rede. Vor zehn Jahren gab es immer noch Vier- oder Sechsbettzimmer und nach wie vor fehlt es im Pflegesystem an Räumlichkeiten für Intimität und Sexualität. Aber auch Zweibettzimmer lassen selten Raum für private Angelegenheiten. Es gab einmal den Versuch in einigen Einrichtungen einen „sexuellen“ Raum zur Verfügung zu stellen. Jedoch wurde aus Scham das „Sexzimmer“ nicht genutzt, da es klar hervorgeht, aus welchem Grund man diesen Ort nützen würde. Leider ist es nicht möglich in jeder Geriatrie Einzelzimmer anzubieten. Somit schwindet die Vorstellung spontane Sexualität zu leben noch ein kleines Stückchen weiter. Oft kommt es bei älteren Menschen bereits zu einem Vermeidungsverhalten durch die Veränderungen der sexuellen Entwicklung im Alter, obwohl der Wunsch nach genitaler Sexualität sehr hoch ist.
Daher ist es wichtig nicht nur mit der betroffenen Person, sondern auch mit der Familie über das Thema Sexualität zu sprechen und es damit zu enttabuisieren. Um Sexualität etwas näher zu bringen, könnte man sich mit der Arbeit von SexualbegleiterInnen / Sexualassistenz auseinandersetzen. Der Verein Soph!e bietet derzeit Workshops zum Thema „Nähe, Intimität und Distanz in der Pflege“ und zu „Sexualbegleitung / Sexualassistenz“ an, indem nicht nur rechtliches, wirtschaftliches und praktisches Wissen im Umgang mit alten und beeinträchtigten Menschen, sondern auch strukturelle Rahmenbedingungen der Tätigkeit gelehrt wird. (Quelle, http://www.sophie.or.at/2020/06/22/lehrgang-sexualbegleitung-sexualassistenz/)
SexualbegleiterInnen sind Personen die es ermöglichen Sexualität zu erleben, selbst wenn man körperlich eingeschränkt ist. Dabei wird auf einen verantwortungsvollen Umgang und gute Kommunikation geachtet, so dass keine persönlichen Grenzen überschritten werden.
Das heißt, dass die/der SexualbegleiterIn für die eigene sexuelle Erregung nicht benutzt wird, sondern lediglich die Möglichkeit gegeben ist, den eigenen Körper besser kennen zu lernen und wieder zu spüren.
Würde eine Person eine andere Person die nicht auf derselben sexuellen Entwicklungsebene ist oder nicht einverstanden ist benutzen, spräche man bereits von sexueller Gewalt.
Wann beginnt sexuelle Gewalt?
Sexuelle Gewalt kann körperlich und/oder psychisch sein und ist ein Lustgewinn für die ausübende Person. Es wird oft Macht und Überlegenheit demonstriert, allerdings spricht man bei sexueller Gewalt nicht von Sexualität. Sexualität soll etwas positiv besetztes bleiben und nicht in Verbindung mit einem negativen Erlebnis stehen.
In einem Bezugssystem, zum Beispiel durch regelmäßige Kontakte zwischen zwei Personen, kann man grundsätzlich nicht sagen ab wann Gewalt beginnt. In der Pflege sind es meist eher schleichende Prozesse, die bewusst eingesetzt werden, damit die/der TäterIn in Erregung kommt. Sexuelle Gewalt beginnt dann nicht plötzlich, sondern ist oftmals geplant und zielgerichtet. Vermehrt fängt sie mit Fantasien, Verlangen oder Wünschen an und geht meist mit großen innerlichen Konflikten in den TäterInnen selbst einher. Dann werden Rechtfertigungsstrategien zurecht gelegt um Hemmungen zu überwinden und Pläne geschmiedet, die/den Betroffene/n zu manipulieren und zu erpressen nichts zu verraten. So entsteht beim Opfer oft Angst statt Mut um eine klare Ablehnung auszudrücken oder ein deutliches „Nein, ich möchte das nicht!“ auszusprechen. Dieser Zyklus wird immer wieder wiederholt, bis es schlussendlich zum Übergriff kommt und zur neuerlichen Manipulation. Der Abstand zwischen Übergriff und Ruhephase wird immer geringer, wobei sich die Intensität nicht unbedingt steigern muss.
Grundsätzlich weiß jeder Mensch, egal ob jung oder alt was angenehm und was unangenehm ist. In manchen Situationen ist es schwer, allerdings nur aufgrund von fehlendem Wissen zwischen dem Ausdruck eines Gefühls und der Verbindung zum Körper, dies in Worte zu fassen.
Anders allerdings ist es, wenn Personen aus pathologischen Gründen übergriffig werden, zum Beispiel aus einer Demenz heraus. Sexualpädagogische Konzepte helfen und schützen MitarbeiterInnen und PatientInnen indem sich vorab Gedanken über sensible Themen gemacht werden. Gerade in der Pflege ist es schwer abwägen zu können, was die andere Person wirklich möchte, wenn sie sich nicht deutlich auszudrücken weiß. So stellt sich hier auch oft die Frage, wer hat denn überhaupt das Problem? Sind es die PflegerInnen, die Familien oder die KlientInnen selbst, die mit der nicht gesellschaftsentsprechenden Situation überfordert sind? Viele Menschen fürchten sich im Alter vor Gebrechlichkeit, Inkontinenz oder anderen Erkrankungen wie Demenz und Alzheimer.
Lust zu empfinden ab der Geburt gehört ebenso zu den Grundbedürfnissen, wie sexuelle Gefühle im Alter. Auch Behinderungen und Krankheiten müssen nicht unbedingt die sexuelle Lust nehmen. Früher hat man ab der Pension noch zirka zehn Jahre gelebt. Es wurde nicht von einer Demenz gesprochen, sondern eher von dem Wort „senil“. Doch heute kann der Mensch 80 oder 90 Jahre alt werden. Eine Demenz, sagt man, tritt häufig drei Jahre nach der Pension ein und somit könnte man noch 30 Jahre mit dieser Erkrankung leben.
Unter Demenz versteht man einen Gehirnschaden, hervorgerufen von einer mentalen Beeinträchtigung. Sexualität und Demenz passen sich nicht aneinander an. Sexuelles Interesse kann schwinden, gleich bleiben oder zunehmen. Je nach Demenzform und Krankheitsstadium kann das zu einer enormen Herausforderung werden. Personen mit Demenz verlieren oft die zeitliche Orientierung. Vertraute Körperbewegungen aus der früheren Zeit werden gemacht, um die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Das heißt zum Beispiel, dass sie nicht mehr wissen in welchem Jahr sie sich befinden. So kann es sein, dass diese Person eine jüngere Person für ihre/n SexualpartnerIn hält und unangebrachte Anmerkungen macht. Auch die sozialen Verhaltensnormen ändern sich und es kann zu unangepassten Annäherungsversuchen und verbalen Ausdrücken kommen. Für desorientierte Menschen ist die Gegenwart nicht mehr von Bedeutung. Sie schalten die Realität aus und ignorieren betreuende Personen, die versuchen sie in die Gesellschaft einzubringen.
Verwirrte Menschen entkleiden sich manchmal auch in der Öffentlichkeit. Das muss nicht aus exhibitionistischen Gründen geschehen, sondern kann auch der Versuch sein sich schlafen zu legen. Geschultes Personal ist in diesem Fall wichtig um eine adäquate Haltung einzunehmen und qualitative Pflege zu gewährleisten. Denn forderndes oder außergewöhnliches Verhalten der/s Erkrankten hat nichts mit der Persönlichkeit zu tun.
Zusammenfassend ist also was zu sagen?
Sexuelle Entwicklung ist, sofern es die Person möchte, auch im hohen Alter noch veränderbar. Das Thema Sexualität ist auch bei alten Menschen ernst zu nehmen und vor allem wahrzunehmen, dass sexuelle Lust als Wunsch vorhanden sein kann. Die hormonellen Veränderungen können eine Herausforderung werden, jedoch kann man davon ausgehen, dass vom Kleinkindalter bis ins hohe Alter Körperkontakt und Berührungen wichtig für das Wahrnehmen der eigenen Körpergrenzen sind. Für Menschen die mit Menschen arbeiten sind Schulungen empfehlenswert, da so bei eventuell aufkommenden sexuellen Fragestellungen richtig reagiert werden und die Arbeit erleichtert werden kann.
Jeder Mensch entscheidet ein Stück weit mit, ob etwas sein darf oder nicht sein darf. Ob man ein Drama, oder ein tolles Erlebnis aus etwas macht.