Das Buch „Wahnsinnig nah“ überzeugt durch die Wege, die es geht. Einerseits lebt es von den subjektiven Erfahrungen, andererseits vermittelt es Wissen, das Angehörige seelisch erkrankter Menschen unbedingt brauchen. Es ist eine hilfreiche Handreichung, vor allem wenn Menschen erstmals die Erfahrung machen, dass ein ihnen lieber Mensch von der seelischen Erkrankung betroffen ist.
Angehöriger eines Menschen zu sein, dessen Seele aus dem Gleichgewicht geraten ist, der psychosoziale, medizinische und psychotherapeutische Hilfe braucht, ist eine besondere Erfahrung. Dies zeigen die sechs Erfahrungsberichte im ersten Teil des Buchs. Dabei sind es ganz unterschiedliche Perspektiven, aus denen die Rolle als Angehörige und Angehöriger erzählt wird. Martina und Stefan berichten darüber, wie die Depression das gemeinsame Leben als Paar verändert. Überzeugungskraft haben die Aussagen, die den Blick nach vorne, in die Zukunft richten. „Und dennoch gibt es sie, die Momente, in denen ganz viel Normalität vorhanden ist“, schreiben Martina und Stefan. Wenn sie es als Paar schafften, sich auf diese Augenblicke zu konzentrieren sie es sich nicht in der von Depression geprägten Welt nicht bequem machten, „dann haben wir Chance auf Tage, an denen wir es uns richtig gut gehen lassen“ (S. 14).
Es sind Berichte von Angehörigen, die viel Empathie bei der Lektüre verlangen. Sie nehmen die Leser*innen tiefgründig in die eigene Welt mit, teilen mit, was häufig eher hinter einer Fassade versteckt zu sein scheint. Es klingen Emotionen wie Angst und Zurückhaltung, Scham und Beschämung, Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit durch, mit denen Angehörige seelisch erkrankter Menschen oft zu kämpfen haben.
Dabei erscheint es geradezu erleichternd, dass das Buch gegen die eine oder andere Stigmatisierung und Tabuisierung wirkt. So kommt zur Sprache, dass auch Kinder aus psychisch belasteten Familien als Angehörige wahrgenommen werden sollten. Eine Gruppe von Menschen, die in der psychiatrischen Versorgung – bildlich gesprochen – hinter einem Vorhang versteckt bleiben.
Der informative Teil des Buchs bringt (wie es nicht anders zu erwarten war) viel Licht in immer weniger Dunkel. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell der Psychiatrie wird vom Psychiater Friedrich Leidinger erläutert. Als er über die Rolle der Diagnosen in der Psychiatrie schreibt, wird deutlich, wie spannungsvoll manche Termini besetzt sind. Aus seiner Sicht hat eine Diagnose die Funktion, „einen Leidenszustand so zu beschreiben, dass er verständlich und behandelbar wird“ (S.47). Eine psychiatrische Diagnose sei aber auch „ein Risiko für Ansehen und Selbstbestimmung, kann berufliche Karrieren zerstören trägt zur Ausgrenzung … bei oder dient als Schimpfwort“ (S. 47).
Viel Orientierung finden Interessierte bei dem Blick in das Buch des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK). Angehörige erfahren eine Menge über therapeutische Angebote und die Behandlung mit Medikamenten, über Anlaufstellen bei psychischer Erkrankung und auch Denkanstöße zu einer gelingenden Kommunikation.
Und die Autor*innen beschäftigen sich ausführlich damit, wie Angehörige seelisch erkrankter Menschen eigene Grenzen erkennen und deutlich machen können. Abgrenzung und Selbstfürsorge seien wichtig. Wörtlich: „Denn nur, wenn es uns selbst gut geht, können wir anderen wirklich helfen“ (S. 146). Mit dem Buch „Wahnsinnig nah“ können Angehörige nicht nur die eigene Handbremse ziehen, sie können Orientierung in einer schwierigen Lage erfahren.
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. (Hrsg.): Wahnsinnig nah – Ein Buch für Familien und Freunde psychisch erkrankter Menschen, Balance Buch + Medien Verlag, Köln 2021, ISBN 978-3-86739-190-0, 160 Seiten, 18 Euro.