Vulnerabilität in der professionellen Pflegebeziehung

19. November 2019 | Fachwissen | 0 Kommentare

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Vulnerabilität in Gesundheitsberufen scheint selbstverständlich. Die Verletzlichkeit[1] des Menschen ist täglich Brot im Gesundheitsbereich, bestimmen doch Krankheit, Gebrechlichkeit, Leiden und Sterben der zu Pflegenden weitgehend den Daseinszweck der Pflegenden. Dennoch findet diese Auseinandersetzung bislang eher in theoretischer als in praktischer Hinsicht statt. Dass das Phänomen der Vulnerabilität aber an Bedeutung gewinnt, wird nicht nur an der steigenden Anzahl an Publikationen erkennbar, sondern auch an der aktualisierten Definition der NANDA-I-Pflegediagnosen: „Eine Pflegediagnose ist eine klinische Beurteilung (clinical judgement) einer menschlichen Reaktion auf Gesundheitszustände / Lebensprozesse oder die Vulnerabilität eines Individuums, einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft für diese Reaktion.“ (Gallagher-Lepak 2017) Um herauszufinden, was „die Vulnerabilität eines Individuums, einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft für diese Reaktion“ bedeutet, muss das Konzept der Vulnerabilität verstanden und in den Pflegeprozess integriert werden. Dies ist keine zusätzliche Aufgabe oder weitere Checkliste, die mehr Zeit als angemessen benötigt, sondern ein Kernelement des gesamten Pflegeprozesses.

Zwei Formen der Vulnerabilität

Vulnerabilität beschreibt sehr allgemein die Unfähigkeit, sich aufgrund interner oder externer Faktoren vor einem möglichen Schaden zu schützen. Doch Vulnerabilität ist nicht alleine eine Unfähigkeit, sondern ein qualitatives Merkmal des Erlebens einer besonderen Empfindung, des Verletzlichseins. Auf der konzeptionellen Ebenen werden hierzu zwei Formen von Vulnerabilität unterschieden; die allen Menschen gemeinsame oder anthropologische Vulnerabilität und die spezifische Vulnerabilität, die sich aus bestimmten Lebensumständen oder -lagen ergibt. Die anthropologische Vulnerabilität als menschliche Grundeigenschaft bedeutet, dass Menschsein mit Verletzlichsein gleichzusetzen ist. Vulnerabilität liegt in der Natur des Menschen. Von Geburt an ist der Mensch auf Hilfe angewiesen, er muss sich vor Krankheit, Natur- und Umweltkatastrophen schützen, zudem ist das Leben endlich. Doch der Mensch muss sich auch vor anderen Menschen schützen. Das andere Gesicht der Verletzlichseins ist das des Verletzens. Menschenrechte, Grundgesetze, berufsspezifische Gesetze und Ethikkodizes zeugen von dieser Notwendigkeit. Die spezifische Vulnerabilität hingegen gibt an, dass manche Menschen aufgrund ihrer Lebenssituation vulnerabler sind als andere. Z.B. sehr junge und sehr alte, kranke, arme Menschen oder Menschen in Ausnahmesituationen. Es sind die Lebensumstände, die zu einer speziellen Vulnerabilität führen und diese verstärken können, wenn interne Faktoren wie Krankheit, körperliche Abweichung, kognitive Einschränkungen oder Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen mit externen Faktoren wie Armut, Bildungsrückstand, Migrationsstatus oder rechtliche bzw. infrastrukturelle Benachteiligung zusammenwirken. Vulnerabilität ist daher nur bedingt eine Eigenschaft eines Individuums, sondern vielmehr ein Phänomen, dass situations- bzw. kontextabhängig ist.

Pflegende sind nicht nur mit der allgemeinen, sondern auch mit der spezifischen Vulnerabilität konfrontiert. Für sie gilt, die anthropologische Vulnerabilität anzuerkennen und die spezifische Vulnerabilität wahrzunehmen und diese durch das pflegerische Handeln nicht zu verstärken, denn auch für Pflegende gilt, dass sie verletzen können. Dies kann sich sowohl in der Pflegehandlung als auch durch ein Untätigsein bzw. durch Unachtsamkeit zeigen. Extreme sind der Missbrauch und die Gewaltausübung gegenüber zu Pflegenden und auch gegenüber Pflegenden. Auch wenn dies nicht alltäglich vorkommt, lässt sich doch beobachten, dass Gewaltausübungen auf beiden Seiten zunehmen (Edward et al. 2014; Edward et al. 2016; Eggert et al. 2017). In dieser beobachtbaren Verrohung liegen mitunter Gründe für die Nichtbeachtung der Vulnerabilität des Gegenübers. Die ethische Komponente von Vulnerabilität liegt einerseits in ihrer Universalität, alle sind in gleicher Weise davon betroffen, woraus sich im sozialen Zusammenleben eine elementare Verantwortung für andere ergibt. Für Pflegende erwächst daraus jedoch eine ganz besondere Verantwortung, da sie nicht nur mit der allgemeinen und der spezifischen Vulnerabilität von zu Pflegenden und deren Angehörigen konfrontiert sind, sondern auch mit der eigenen Vulnerabilität einen Umgang finden müssen. Verantwortliches Handeln vollzieht sich in der Interaktion, für die Pflege in der professionellen Pflegebeziehung, d.h. in einer vertrauensvollen und arbeitsfähigen Beziehung zwischen der Pflegefachkraft und den zu Pflegenden. Die Basis dazu ist der Dialog, der prozesshaft in der Begegnung zwischen mindestens zwei Personen stattfindet. In der Begegnung und im Dialog wird sozusagen die Beziehung aufgebaut (Uhrenfeldt et al. 2018). Doch auch der Dialog weist Möglichkeiten der Verletzung auf, weil auch Worte verletzen können (Butler 2006). Sprache wird in Pflegegesprächen zu einer Handlung, die Folgen haben kann, im Positiven wie im Negativen.

Der Umgang mit Vulnerabilität in der Pflegepraxis

Wie kann nun in der alltäglichen Praxis die klinische Beurteilung der Vulnerabilität erfolgen und dem Phänomen Vulnerabilität begegnet bzw. ein ethisch verantwortungsvoller Umgang gefunden werden? Grundlegende Anforderungen an die Akteure sind die ethische Sensibilität, d.h. ein ethisches Problem erkennen und ein Verständnis für die Situation der Patientinnen und Patienten entwickeln, und die moralische Handlungskompetenz, als die Fähigkeit, mit Intelligenz, Fachlichkeit und Mitgefühl zu entscheiden und ein Bewusstsein für die moralischen Implikationen von Entscheidungen und den Einfluss des Handelns auf andere Menschen zu entwickeln. Es sind dies Komponenten der professionellen Kompetenz, die in der professionellen Pflegebeziehung die Wahl der Mittel bestimmen. Dabei wird das Ethische nicht durch Theorien und vorgefertigten Standards bestimmt, sondern in der unmittelbaren Begegnung herausgefordert, indem die Begegnung dem Bewusstsein vorausgehend zuerst erlebt und dann erst mit Begriffen versehen wird. Und so wird die Begegnung und in einem weiteren Sinne die professionelle Pflegebeziehung zum Ort des Ethischen (Stegmaier 2013).

Respekt vor der Andersheit

Die professionelle Pflegebeziehung hat ihren Ausgangspunkt darin, dass jemand Pflege benötigt und andere diese bieten können. Damit werden Pflegende in eine stärkere Position versetzt und diejenigen, die der Pflege bedürfen in eine gewisse Abhängigkeit. Die erste Bedingung für eine gelingende Pflegebeziehung ist, sich der Asymmetrie der Beziehung bewusst zu sein, die Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und die Differenz zu respektieren (ethische Sensibilität). Die Wahrnehmung der Andersheit des Anderen, wie dies Emmanuel Levinas in seiner Ethik der Begegnung (Levinas 2014) ausdrückt, bietet eine Möglichkeit des Zugangs zum Anderen. Eine offene Anamnese und die Krankengeschichte aus dem Munde von den zu Pflegenden tragen zum Gelingen einer professionellen Pflegebeziehung bei (moralische Handlungskompetenz).

Wahrnehmung der Vulnerabilität

Andere in ihrer Andersheit wahrzunehmen beinhaltet auch die Erfassung von internen und externen Faktoren, die für die vulnerable Situation verantwortlich sind. Ebenso muss erfasst werden, welche Faktoren im Rahmen des Pflegeprozesses die Vulnerabilität verstärken könnten bzw. was getan werden kann, diese zu vermindern. Dazu ist ein verstehender Zugang notwendig, in dem die Situation nicht nur aus der Perspektive der pflegefachlichen Relevanz verstanden wird (ethische Sensibilität). Der verstehende Zugang im Rahmen des Pflegeprozesses bedeutet, die individuellen Bedürfnisse von zu Pflegenden vor dem Hintergrund der pflegefachlich relevanten Aspekte zu interpretieren und einer Lösung zuzuführen (Schrems 2018). Das vermittelnde Dritte sind nicht fertige Standards oder Handlungsanweisungen, sondern die Pflegepersonen, die im individuellen Fall entscheiden, sich mit den zu Pflegenden abstimmen und im „Ein-Verständnis“ handeln (moralische Handlungskompetenz).

Offenheit im Dialog

Ein verstehender Zugang erfordert Offenheit im Dialog von beiden Seiten. Dabei gilt es zu beachten, dass mit den mitunter sehr intimen Fragen im Rahmen von Pflegegesprächen und Handlungen im Rahmen des Pflegeprozesses das vorhandene Potenzial an Vulnerabilität für zu Pflegende erhöht werden kann. Beispiele dazu sind Fragen zur Körperpflege, zur Ausscheidung, zur Familiensituation, zur räumlichen Ausstattung oder zur finanziellen Situation. Auch das Stellen einer Diagnose, sofern sie mitgeteilt wird, kann verletzend sein, wenn z.B. eine eingeschränkte Kompetenz zur Selbstpflege bzw. der Pflege von Angehörigen diagnostiziert wird. Hier rückt der verletzende Aspekt der Sprache in den Vordergrund (ethische Sensibilität). Gleiches gilt für die Durchführung von Pflegeinterventionen, die den Intimbereich bzw. die Privatsphäre betreffen. Sich dessen bewusst zu sein und damit umgehen zu können, sind Aspekte der moralischen Handlungskompetenz.

Akzeptanz der eigenen Vulnerabilität

Pflegende sind ebenso wie alle Menschen verletzlich. So sind sie z.B. im Rahmen des Pflegeprozesses mit Fragen zur Ehrlichkeit in der Mitteilung bzw. mit der Überbringung von unangenehmen Botschaften konfrontiert, die sie möglicherweise ihre eigene Verletzlichkeit erleben lassen. Pflegenden kann potenziell eine spezifische Verletzlichkeit zugeschrieben werden, bedingt durch die emotionalen Belastungen, die Wahrnehmung des Leidens von zu Pflegenden und der professionellen Verpflichtung einer angemessenen Pflege (ethische Sensibilität) unter erschwerten Bedingungen. Kann aufgrund von knappen Ressourcen, Personalmangel oder veralteten Standards nicht entsprechend den Vorstellungen einer professionellen Pflege gehandelt werden, entsteht moralischer Stress, dem es adäquat zu begegnen gilt, damit er nicht zum Disstress bzw. zu einer krankmachenden Belastung wird. Die normative Pflicht für Pflegende besteht darin, bei ethischen Konflikten oder Missständen in den Dialog zu treten, Beratung anzunehmen und sich professionell und ethisch weiterzubilden (moralische Handlungskompetenz). Damit ist nicht nur dem eigenen Wohlergehen gedient, sondern auch jenen Menschen, denen die beste Pflege zugutekommen soll.

Literatur

Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Edward, K L/Ousey, K/Warelow, P/Lui, S (2014): Nursing and aggression in the workplace: a systematic review. In: British Journal of Nursing, 23, H. 12, S. 653-659

Edward, K L/Stephenson, J/Ousey, K/Lui, S/Warelow, P/Giandinoto, J A (2016): A systematic review and meta‐analysis of factors that relate to aggression perpetrated against nurses by patients/relatives or staff. In: Journal of clinical nursing, 25, H. 3-4, S. 289-299

Eggert, Simon /Schnapp, Patrick /Sulmann, Daniela (2017): Gewalt in der stationären Langzeitpflege. Quantitative Bevölkerungsbefragungin der stationären Langzeitpflege. https://www.zqp.de/wp-content/uploads/2017_06_13_AnalyseGewaltStationaerePflege_vf.pdf. [Abfrage: 13.02.2019]

Gallagher-Lepak, Susan (2017): Die Grundlagen der Pflegediagnosen. In: Kamitsuru, H. (Hrsg.): NANDA International, Inc. Pflegediagnosen: Definitionen und Klassifikation 2015 – 2017. Kassel: Recom, 44 – 55

Levinas, Emmanuel (2014): Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Freiburg im Breisgau: K. Alber

Schrems, Berta (2018): Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum angemessenen Pflegehandeln. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wien: Facultas

Stegmaier, Werner (2013): Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg: Junius

Uhrenfeldt, L/Sørensen, EE/Bahnsen, IB/Pedersen, PU. (2018): The centrality of the nurse-patient relationship: A Scandinavian perspective Journal of clinical nursing

Fußnote

[1] Im Folgenden werden die Begriffe Vulnerabilität und Verletzlichkeit synonym verwendet.

Autor:in

  • Berta Schrems

    Mag., Dr., Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung, Soziologiestudium, Weiterbildungen in Personal- und Organisationsentwicklung sowie Qualitäts- und Projekt-management. Freiberuflich tätig in Lehre, Beratung und Forschung. Privatdozentin der Universität Wien. Mitherausgeberin der PFLEGE - Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe.