…die nur wenige Tage nach der ersten Zusammenkunft der Gründungskonferenz einer sogenannten Interessensvertretung für die Pflege in Bayern stattfindet. Stellen Sie sich vor, dass in diese Gründungskonferenz bis dato unbekannte Vertreterinnen und Vertreter berufen sind. Und stellen Sie sich vor, dass diese unbekannten Menschen an einem Gesetzesentwurf und einer Berufsordnung für die professionelle Pflege in Bayern arbeiten. Außerdem müssen Sie sich vorstellen, dass die gesamte Fachexpertise der Verbände in Bayern und die bayerischen Dekane der pflegebezogenen Hochschulen bei dieser Gründungskonferenz fehlen. Sie fehlen deswegen, weil von deren Seite mehrmals darauf hingewiesen wurde, dass ohne eine verpflichtende Mitgliedschaft aller professionell Pflegenden in Bayern keine ernstzunehmende berufsständische Selbstbestimmung der Pflege möglich ist.(2)
Unabhängig davon: stellen Sie sich vor, dass Sie trotz wissenschaftlichen Hintergrundwissens zur Berufssoziologie, zur Professionalisierungsdebatte und zur Entstehungsgeschichte der Pflege, die parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesse nicht beeinflussen können. Abschließend bitte ich Sie, sich vorzustellen, dass die Gegner einer „echten“ Pflegekammer in Bayern maßgeblich von der Gewerkschaft ver.di und Arbeitgeberverbänden wie dem bpa und dem BRK getragen sind, und, dass die Staatsministerin den Vorsitz der Gründungskonferenz inne hat. Sie stehen somit in einem Feld der Widersprüchlichkeiten, der Irrationalität und rhetorischer Finessen. Sie suchen demnach nach Worten. Welche Worte zu einem solchen Podium von einem Pflegewissenschaftler und Befürworter eines echten Kammermodells gewählt wurden, lesen Sie hier…
Sehr geehrte Frau Staatsministerin Huml, sehr geehrte Mitglieder des Podiums, sehr geehrter Herr Neff, sehr geehrte Damen und Herren,
im Zusammenhang mit der Debatte um den Bayerischen Pflegering lassen sich vielerlei Ränkespiele rund um das konstitutive Feld der Pflege identifizieren. Ich möchte im Rahmen dieser Debatte dabei auf zwei wesentliche Merkmale zu sprechen kommen, die der intensivsten und kritischsten Betrachtung bedürfen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich spreche hier insbesondere von der Bedeutung der unterschiedlichen Logiken und dem Instrument diesen Logiken Ausdruck zu verleihen, nämlich dem Vehikel der Sprache. Mein Ziel ist, Sie als Publikum im Vorfeld der Diskussion für diese Bedeutungsgehalte zu sensibilisieren.
LOGIK
Lassen Sie mich zuerst in aller Kürze auf die Bedeutung der Logiken anhand des Unterschieds zwischen Wissenschaftslogik und politischer Logik eingehen: während Wissenschaft nach überprüfbaren Kriterien und größtmöglicher Beweisbarkeit sowie Objektivität sucht, also im Bereich von Fragestellungen nach Antworten, die rational nachvollziehbar im Sinne einer Wiederholbarkeit und Übertragbarkeit sind, geht es in der Politik und den politischen Handlungsspielräumen darum, Mehrheiten zu generieren, Sicherheitswahrnehmung für die Bevölkerung zu konstruieren und zu den jeweiligen Themen auch die jeweiligen führenden Interessens- und Meinungsgruppierungen zu erfassen. Letzteres ist per se nachvollziehbar. Das Problem, das dabei entsteht ist, dass sich beide Logiken nicht 1:1 kompatibel ergänzen oder gar aneinander anschlussfähig sind. Man spricht hier in der Wissenschaftssprache von der sog. Inkommensurabilität.
SPRACHE
Meine Damen und Herren, um die unterschiedlichen Logiken nebst Argumenten ins Feld zu führen, spielt das Vehikel der Sprache eine entscheidende Rolle: Sie werden dies auch hier am Podium in der folgenden Diskussion erkennen können, nämlich,
welche Position wie spricht.
THESE 1
So komme ich zu meiner ersten folgenden These:
Die Debatte um den sogenannten Bayerischen Pflegering (jetzt: Interessensvertretung) des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege ist mittlerweile keine Debatte mehr um Pflegekammer und/oder Pflegering, sondern letztlich ein Sprachspiel geworden, indem es vor allen Dingen darum gehen muss, die Dekonstruktion dieser Sprachspiele vorzunehmen, um die entstandenen Sprachverwirrungen auf zu zeigen und zu entschlüsseln.
Ich versuche es sogleich an einigen Beispielen zu illustrieren: Lieber Herr Neff, Sie als Veranstalter – das ist kein Vorwurf – versuchen mit einem griffigen Titel Publikum für eine politische Diskussion zu gewinnen. Wie Sie sehen ist Ihnen dies bestens
gelungen. (3)
In Ihrem Titel: Pflegekammer vs Pflegering steckt allerdings eine Suggestion verborgen, die frei nach Adorno den ‚Jargon der Eigentlichkeit’ spricht. Ihre Formulierung macht den Eindruck, es könne in der letztlichen Zielrichtung ‚eigentlich’ um das Gleiche gehen, eine Art Duell, das entschieden werden muss, um einen Titel – das Beste für die beruflich Pflegenden – zu erringen. Dem ist mitnichten so. Die Debatte wird seit geraumer Zeit nicht mehr um eine Kammer geführt, es wird
1. ausschließlich über den Vorschlag des Bayerischen Pflegerings gesprochen und
2. ist aus machtpolitischer Perspektive die Entscheidung für den Pflegering parlamentarisch bereits nahezu gefällt.
Weitere Sprachspiele, die mittlerweile in der Diskussion nahezu normiert sind, sind die Begriffe
des „Zwangs“ oder die des „Behauptet wird“ und „Fakt ist“. Letztere Formulierung wurde begleitend zu der Kampagne des Bayerischen Pflegerings in der Berichterstattung des Ministeriums verwendet. (4) Sie werden als Platzhalter für „Richtig“ und „Falsch“ oder „Wahr“ bzw. „Unwahr“ genutzt. Der Begriff des „Zwangs“ ist von den Gegnern des Modells Kammer eingeführt worden, um die Frage von „Recht“ und „Pflicht“ in „Zwang“ und „Freiwilligkeit“ umzuformulieren.
SACHARGUMENTATION –
Ausgewählte soziohistorische und diskursive Elemente
Sehr geehrte Damen und Herren, argumentativ möchte ich nun in aller Kürze durch die geschichtlich-diskursiven Entwicklungslinien der deutschen Pflege eilen. Sie zeigen, dass politische Machtspiele über die Pflege weder neu sind, sondern sich traditionell wie ein roter Faden um sie selbst spinnen.
Die Pflege in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt sich – aus der Geschichte heraus deutlich erkennbar- von Notstand zu Notstand. Jedem Notstand folgten quantitative Verbesserungen nach einem Muster, das sich alle 25-30 Jahre wiederholt. Dem Weniger ausschließlich mit einem Mehr zu begegnen ist das gängige Mittel der Wahl der Politik, wohl auch, weil die Besonderheit des Feldes und die Sozialisation der Pflegenden nur unzureichend aus deren Perspektive betrachtet werden. Ob gewollt oder ungewollt, überlasse ich der Interpretation der verantwortlichen Akteure der jeweiligen Zeitenspannen. Warum ist dies so?
Kollegin Anne Kellner (5) beschreibt in ihrer Dissertation „Von der Selbstlosigkeit zur Selbstsorge“ aus dem Jahr 2011 mehrere Diskursstränge, die typisch für die deutsche Pflege, insbesondere die Pflegeausbildung stehen.
1. Die Pflege entwickelte sich von der theologischen Fremdbestimmung zur medizinischen Fremdbestimmung, in der Postmoderne, so ergänze ich weiter, zur ökonomischen Fremdbestimmung (Ergänzung M.B.),
2. Ein wesentlicher geschichtlicher Entwicklungsdiskurs ist zudem die Auffassung, zu viel Wissen
würde der Pflege schaden,
3. Ein auf Anlernen basiertes Ausbildungskonzept, welches sich als Sparkonzept für die Pflegeeinrichtung ausgezeichnet hat (Kellner 2011: 155) und das sich sowohl gesetzlich als auch in den Handlungslogiken der Bildungseinrichtungen konstituiert hat (Ergänzung M.B.).
Daraus folgt als ein gegenwärtiger Diskursstrang der deutschen Pflege
4. Das „Exit – No- Voice“ Syndrom (6) der deutschen Pflege (Vgl. Kellner 2011: 198f)
Pflege wurde damit seit Jeher als Spielball verschiedener berufsständischer, gesellschaftspolitischer und ökonomischer Interessen gesehen (Vgl. Kruse, A.P. in Kellner 2011: 157) das wird geschichtlich besonders deutlich an der Tatsache, dass das Krankenpflegegesetz von 1985 das erste war, in dem außer rein arbeitsmarktpolitischen und anderen berufsständischen Interessen auch konkret inhaltlich- pflegebezogene Sachinhalte legitimiert wurden, konkret die geplante Pflege, sprich der Pflegeprozess.
Die durch das Konzept der Fremdbestimmung begründete noch unzureichende Emanzipationsfähigkeit der deutschen Pflege eigenständig politische Verantwortung zu übernehmen, lässt sich noch aus einer weiteren Position begründen. In der Ende 2015 vorgelegten Dissertation von Constanze Eylmann7 aus Ludwigsburg zum Habitus in der Altenpflege wird aus soziologischer Sicht das Milieu der Altenpflege als prekär identifiziert. Das liegt an der zunehmenden Sparpolitik, die durch „(…) Kostendämpfungsgesetze, Gehälter und Qualität von Humandienstleistungen drückt und dies trotz ansteigender Qualifikationen der Arbeitnehmer“ (Eylmann 2015: 94).
Erschwerend kommt hinzu, dass in der Bildung eine daraus folgende personelle Emanzipationsaufgabe der Bildungsträger für die Pflegenden in diesem Feld nicht wahrgenommen wird.
THESE 2
Ich möchte hieraus zusammenfassend eine zweite These an diesem Abend wagen:
Das Feld der Pflege manifestiert sich traditionell und weiterhin als zunehmend prekär.8 Durch den hohen Zuwendungsgrad den Pflegende tagtäglich der Gebrechlichkeit und Krankheit pflegebedürftiger Menschen widmen, hat man es hier mit einer hochsensiblen und vulnerbalen Berufsgruppe zu tun, die ihres Gleichen unter anderen Branchen sucht.
SCHLUSS
Pflegewissenschaftliches Plädoyer
Aus pflegewissenschaftlicher Sicht möchte ich eindeutig und mit aller Schärfe kritisieren, wie in den derzeitigen politischen Diskursen Machtkonstellationen mittels Sprachspielen ausgetragen werden! Bei der unzureichenden politischen Bildungsarbeit,
die an den Ausbildungsstätten stattfindet, bei der bereits zunehmend durchökonomisierten Praxis von Pflegenden und den Zuständen, unter denen Pflegende Tag für Tag handeln müssen, wäre v.a. Dingen aus der Verantwortungsperspektive der politischen Entscheidungsträger sehr wichtig, die Pflegenden nicht wieder als Spielball zu Zwecken arbeitsmarktpolitischer und machtpolitischer Konstellationen zu instrumentalisieren.
Als bayerischer Professor für Pflegepädagogik bedauere ich sehr, dass das bayerische Ministerium für Gesundheit und Pflege die traditionelle Linie der Fremdbestimmung der Pflege weiter fortschreibt und die Studienergebnisse der 2012 von den Kolleginnen Büker und Lademann durchgeführten Studie ausschließlich in dieser Richtung interpretiert haben!
Als Pädagoge gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich die Regierungskunst aus pflegewissenschaftlicher Sichtweise beratungs- und lernfähig zeigt, denn das unterscheidet politische und wissenschaftliche Kunst von politischem und wissenschaftlichem Handwerk!
Herzlichen Dank!
Literatur:
Eylmann, C. (2015): Es reicht ein Lächeln als Dankeschön. Habitus in der Altenpflege. Osnabrück, V&R Verlag
Kellner, A. (2011): Von der Selbstlosigkeit zur Selbstsorge. Eine Genealogie der Pflege. Berlin, Lit-Verlag
Fussnoten
1 Dieser essayistische Beitrag basiert auf einem Prolog zu einer Podiumsdiskussion, die am 3. Februar 2016 im Hansahaus München zum Thema Pflegekammer vs Pflegering statt gefunden hat. Veranstalter war die KAB München. Teilnehmende am Podium waren die Bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, Melanie Huml, Robert Hinke, Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Prof. Dr. Michael Bossle und Alexandra Kurka Wöbking, DBfK Südost. Jede teilnehmende Person des Podiums konnte ein Statement zu 10 Minuten verlesen. Das vorliegende Statement des Autors war der zweite Beitrag des Abends.
2 Zur Chronologie der Debatte um eine Pflegekammer in Bayern siehe auch Pflege Professionell, Ausgabe 1, S. 52
3 Der Abend war mit rund 200 Personen gut besucht.
4 Zu finden im Internet unter: https://www.stmgp.bayern.de/pflege/interessenvertretung/index.htm (Zugriff vom 01.02.16)
5 Prof. Dr. Anne Kellner, Professorin für Berufspädagogik und Pflegewissenschaft
6 Das „Exit-No-Voice Syndrom“ wird erstmals von Rabe-Kleeberg noch als ‚Exit – Voice Syndrom’ für die Pflege eingeführt: „Für Rabe-Kleberg löste der berufsfluchtbedingte und notorische Pflegenotstand – auch wenn er noch nicht zu einer grundlegenden Infragestellung der Konstitutionsbedingungen des Berufes geführt hat – einen virulenten, sich eher noch beschleunigenden Prozess der systematischen Selbstreflexion der Frauen in den ihnen traditionell ‚zugeeigneten‟ Berufen aus. In den Bereichen der Pflege von Kranken und Alten werden in den letzten Jahren Entwicklungen beobachtet, die denen ähneln, die Hirschmann als „Exitand- Voice-Syndrom“ beschrieben hat: Ein Zusammentreffen von Handlungstypen wie Fliehen oder Meiden (Exit) und Protest und Widerstand (Voice), das in der Lage sein soll einen bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungsschub auszulösen (Vgl. Rabe-Kleeberg in Kellner 2011: 198). Kellner führt weiter aus: „Leider kann ich die ‚Hoffnungen‟ von Rabe-Kleberg nur bedingt teilen: Exit erscheint derzeit als die dominierende Antwort der Pflegenden – Ihre Stimme (Voice) lässt sich kaum vernehmen: Auch wenn viel zur Aufklärung der traditionellen und geschlechtertypischen Arbeitsverhältnisse u.a. von engagierten Pflegewissenschaftlerinnen geleistet wurde, leidet die Mehrheit der Pflegenden weitgehend im Stillen“ (Kellner 2011:198).
7 Prof. Dr. Constanze Eylmann, Professorin für Pflegewissenschaft an der EFH Ludwigsburg
8 Dazu Eylmann weiter: „Die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege sind überdauernd von mangelnden Ressourcen und hohen Belastungen gekennzeichnet. Der durchgängige Mangel an Arbeitskraft zur Versorgung alter Menschen scheint, neben der Berufsmotivation, das stabilste der überkommenen Merkmale zu sein“ (Eylmann 2015: 278).