In diesen etwas stilleren Tagen habe ich Hanns-Josef Ortheils Buch „Im Westerwald“ in den Händen gehabt. Darin finden sich Texte, mit denen einer der meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller durch sein Heimatdorf Wissen / Sieg und den umgebenden Westerwald streunt. Es ist die Region, die ihn geprägt hat wie keine andere. Dort, aber auch in Köln ist Ortheil in den 1950er-und 1960er-Jahren aufgewachsen. Ortheil schreibt über die „erste Heimat“. Wörtlich: „Gemeint ist damit jener Raum, auf den wir uns während unseres ganzen Lebens denkend und empfindend beziehen. Es ist der prägende Raum der frühesten Begegnungen mit den Menschen und Dingen, die für unser weiteres Dasein zentral und bestimmend werden“ (S. 6).
Mit dem Blick auf meine eigene pflegerische Praxis hat mich das kleine handliche Büchlein nachdenklich gemacht. In Düsseldorf und Umgebung bin ich groß geworden. Die rheinische Mentalität habe ich verinnerlicht, so glaube ich. In der heutigen LVR-Klinik in Düsseldorf habe ich fast ein Jahrzehnt gearbeitet. Dort habe ich meine ersten psychiatrisch-pflegerischen Schritte als Zivildienstleistender, Pflegehelfer, Auszubildender und examinierter Krankenpfleger gemacht. Es ist eine Klinik, die mich geprägt hat. Es sind die Zeiten gewesen, als die ins Leben gerufene Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) uns personelle Ressourcen gegönnt hat. Damals hatten wir die Möglichkeit, mit dementiell veränderten Menschen regelmäßig in einem Behinderten-Schwimmbad schwimmen zu gehen. Ich erinnere mich bis heute daran, wie die Augen der Damen damals gestrahlt haben, als sie diese Erfahrungen nochmals machen konnten.
Es muss auch schon in meinen ersten Monaten als Zivildienstleistender gewesen sein, dass ich das Buch „Irren ist menschlich“ in die Hände bekam. Diese wunderbare Wegweisung aus der Feder von Ursula Plog und Klaus Dörner hat meinen beruflichen Weg entscheidend geebnet. Sie haben mir schon früh veranschaulicht, dass in der psychiatrischen Arbeit die Anthropologie Vorrang vor der Psychopathologie hat. „Irren ist menschlich“ liegt noch heute wie ein Brevier auf dem Schreibtisch oder griffbereit im Bücherregal, um mich zu vergewissern, dass meine Haltung im psychiatrischen Alltag nicht abwegig ist.
Ortheil schreibt weiter: „Seine Gerüche, Farben, Wärmegrade und Klänge, seine Speisen und Getränke begleiten uns daher ein Leben lang. Manchmal mobilisiert unsere Erinnerung sie auch in der Fremde, und wir sehen Bilder und Szenen der „ersten Heimat“ vor dem inneren Auge. Das geschieht vor allem in jenen Momenten, in denen uns das Heimweh nach den Ursprungsgefilden überfällt und wir deutlich spüren, dass wir ihre Grenzen im Grunde nie ganz verlassen haben“ (S. 6).
Es sind natürlich unzählige Erinnerungen an Altbaugebäude, die wir heute (wenn es sie in der Art noch gäbe) als historische Denkmäler beschreiben würden. Es sind viele Gedanken an Aktivitäten, die nicht nur den Menschen, um die wir uns zu kümmern hatten, gefallen haben. Auch als Pflegende hatten wir einen ungeheuren Spaß an der Arbeit. Es sind zahlreiche Erlebnisse und Erfahrungen mit Menschen, die ich bis in die Gegenwart hinein nicht missen will.
Denn schon in dieser Zeit haben Kolleginnen und Kollegen mich ungemein geprägt, haben mir Nachdenkliches mit auf den Weg gegeben, wenn ich den pflegerischen und den psychiatrischen Alltag begreifen wollte. Es sind Kolleginnen und Kollegen gewesen, ohne die ich nicht derjenige geworden wäre (fachlich), der ich heute bin.
Insofern ist mir Ortheils Gedanke von der „ersten Heimat“ mehr als sympathisch. In diesen stillen Tagen hat er mich dazu bewegt, nochmals darüber zu sinnieren. Und mit einem Grinsen werde ich wahrscheinlich im Auto sitzen, wenn ich an der „ersten Heimat“ vorbeikomme.
Wie sieht es mit Deiner ersten Heimat aus?
Literatur
Hanns-Josef Ortheil: Im Westerwald, Dieterich`sche Verlagsbuchhandlung, Main 2019, ISBN 978-3-87162-102-4, 207 Seiten, 15 Euro.