Von Augenblicken und Ewigkeiten

23. Februar 2020 | Rezensionen | 0 Kommentare

Pflegenden fällt es häufig schwer, die Perspektive der Menschen einzunehmen, für die sie Tag für Tag ihren Dienst tun. Im pflegerischen Alltag fehlt es oft an Zeit und Gelegenheiten, um die Sicht der Betroffenen wahrzunehmen. Brigitte Guschlbauer lässt tief blicken. Sie erzählt in dem beeindruckenden Buch „Von Augenblicken und Ewigkeiten“, wie es ihr als Langzeitintensivpatientin ergangen ist. Über viele Wochen und Monate ist sie ans Bett gefesselt und auf die Hilfe professionell Pflegender angewiesen gewesen.

Guschlbauer schreibt: „Ich berichte von meiner Rückkehr aus dem Nahtod, von Halluzinationen und Irritationen, von meinem ganz persönlichen Orientierungsraum, von Berührungen und Erfahrungen bei der Körperpflege. Vom Gefüttertwerden, vom Glück, Wasser zu trinken, und der Schwierigkeit, dahin zu kommen. Von Einsamkeit, Missverständnissen, den Anstrengungen der Mobilisierung und vielen hilfreichen Menschen“ (S. 9).

Guschlbauers Buch lebt von der Ursprünglichkeit und Direktheit der Erfahrungen, die sie über die mehr als 100 Seiten berichtet. Sie schreibt quasi nicht um den heißen Brei herum. Nein, als Leserin und Leser fühlt man sich schnell in die Situationen mitgenommen. Man fühlt sich zügig als teilnehmende Beobachterin bzw. teilnehmender Beobachter.

Gleichermaßen ergreifend wie faszinierend sind Schilderungen, wenn Guschlbauer beispielsweise berichtet, wie sich bei Schläuchen in verschiedenen Körperöffnungen die Zunge selbständig macht und nicht mehr dem Willen der kranken Frau folgen will. „Die Zunge ist nicht folgsam und fällt wieder heraus“ (S. 28), schreibt sie unter anderem. Die Zunge gehe auf Wanderschaft. Sie habe Platz für Erkundungen.

Natürlich wird erlebbar, wie Guschlbauer auf der Intensivstation das selbstverständliche Atmen wieder erlernt hat. Systematisch nutzen die Pflegenden die Beatmungsmaschine, um Guschlbauer wieder zum selbständigen Atmen zu bekommen. Sie kommentiert: „Es gibt hier wenig, wovor ich mich fürchte. Ich bin medikamentös sehr gut abgeschirmt, habe selten Schmerzen und bin auch sonst oft ganz guter Dinge. Aber dieses Gerät ist mein Untergang“ (S. 39).

Der Weg ins Leben und in die Normalität ist für Guschlbauer natürlich eine große Aufgabe. Daraus macht sie in dem Buch keinen Hehl. Für den professionell Pflegenden, aber sicher auch viele Angehörige betroffener Menschen ist nachvollziehbar, wie steinig der Weg aus dem Bett auf der Intensivstation in das häusliche Umfeld ist.

Als gelernte Sozialarbeiterin sind ihr viele grundsätzliche Fragen bewusst, mit denen sich professionell Tätige in einem psychosozialen Handlungsfeld beschäftigen müssen. Aus der eigenen Betroffenheit heraus blickt sie auf die Pflegenden. Ihr wird klar: „In einer so langen Zeit baut man als Patientin unweigerlich eine Beziehung zu den Menschen auf, die einen tagtäglich versorgen. Ich habe nicht nur Pflege gebraucht, sondern auch Zuwendung … Man muss eine professionelle Distanz bewahren, um handlungsfähig zu bleiben. Aber vielleicht ist es möglich, so etwas wie eine professionelle Nähe zu entwickeln. Die Pflegerin, die mir das Waschfest veranstaltet hat, ist sehr professionell bei sich geblieben. Aber es war auch zu spüren, wie sehr sie sich gefreut hat, mir eine so große Freude zu machen“ (S. 104).

Ein eindrucksvolles Zeugnis von Pflege-Wirklichkeit.

Brigitte Guschlbauer: Von Augenblicken und Ewigkeiten – Reisebericht einer Langezeitintensivpatientin, Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-86321-413-5, 111 Seiten, 12.95 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at