Philosophische Bücher leben davon, dass sie einem breiteren Publikum einen Zugang zu einem kritischen und reflektierenden Denken ermöglichen. Das Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ leistet dies. Der Philosoph und Theologe Byung-Chul Han wirft den einen oder anderen kritischen Blick auf ganz unterschiedliche Zeiterscheinungen.
Aus dem Alltag weiß jede und jeder, wie wichtig Gewohnheiten und Rituale sind. Han nennt Rituale „symbolische Handlungen“, die jene Werte und Ordnungen tradieren und repräsentieren, die eine Gemeinschaft trügen. Konstitutiv für die Rituale sei die symbolische Wahrnehmung (S. 9). Han bietet einmal mehr Momente, in denen der Leserin und dem Leser bewusst wird, dass Rituale das Leben stabilisieren. Sie seien Ruhepole des Lebens. Noch mehr: „Rituale bringen eine Resonanzgemeinschaft hervor, die zu einem Zusammenklang, zu einem gemeinsamen Rhythmus fähig ist …“ (S. 19).
Während Han an vielen alltäglichen Ereignissen verdeutlicht, wie prägend Rituale sind, so bringt er viele nachdenkliche Worte ein. Unter anderem berichtet er von einem gegenwärtigen „Zwang der Authentizität“ (S. 25). Der Authentizitätszwang führe zu einer narzisstischen Introspektion, zu einer permanenten Beschäftigung mit der eigenen Psychologie. Damit sagt Han der Therapeutisierung und Psychologisierung des Alltags den Kampf an, fordert irgendwie mehr Bodenständigkeit ein. So formuliert er mit dem Blick auf das soziale Leben der Gegenwartsmenschen: „Die Gesellschaft der Authentizität ist eine Gesellschaft der Intimität und Entblößung. Ein Seelen-Nudismus verleiht ihr pornografische Züge. Soziale Beziehungen sind umso echter und authentischer, je mehr Privatheit und Intimität offenbart werden“ (S. 27). Han setzt seine Kritik fort, wenn er unterstreicht, dass die Kultur der Authentizität mit dem Misstrauen gegenüber ritualisierten Interaktionsformen einhergehe. Authentisch seien allein spontane Gefühlsregungen, „also subjektive Zustände“.
Die Lektüre des Buchs „Vom Verschwinden der Rituale“ lässt die Leserin und den Leser tief in sich hineinhorchen. Unausweichlich stellen sich die Leserin und der Leser die Frage, wie es denn mit der eigenen Haltung zu den formulierten Positionen und vorgestellten Ritualen aussieht. Eine andere Chance haben die Leserin und der Leser nicht. Han gibt die Möglichkeit in sich hineinzuhorchen, wenn er über den Ortsbegriff schreibt: „Der Mensch ist ein Ortswesen. Der Ort macht erst das Wohnen, den Aufenthalt möglich … Destruktiv ist die totale Ent-Ortung der Welt durch das Globale, die alle Unterschiede nivelliert und nur Variationen des Gleichen zulässt“ (S. 43).
So zeigt Han auch auf, wie wichtig Rhythmen des religiösen Lebens für den Alltag der Menschen sind. Da erscheint es nachvollziehbar, wenn er heutige Feste und Festivals als „Gegenstand eines Eventmanagements“ (S. 53) brandmarkt.
Hans Buch liest sich nicht als spannende Zeitbeschreibung, die sich in einem Fluss gönnen lässt. Bei seinen inhaltlichen Impulsen ist es nötig, seine Gedanken in Portionen zu sich zu nehmen. Denn es gilt, seine Ideen in das eigene Lebenskonzept einzuordnen, mit den eigenen Alltagsmatritzen abzugleichen.
Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale – Eine Topologie der Gegenwart, Ullstein-Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-550-05071-8, 121 Seiten, Euro.