„Völker, hört die Signale“

12. April 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Wissen Sie, was die Arbeit eines schreibenden Menschen ausmacht? Er sitzt daheim in seiner Schreibstube, schreibt dort seine Gedanken auf und sendet sie in die Welt hinaus. Es ist ein Schaffen, das nicht einfach so geschieht. In seiner Schreibstube werden Erlebnisse, Erfahrungen und Phänomene quasi unter einer Lupe angeschaut. Schreibende Pflegende tun dies natürlich auch. Sie blicken auf dasjenige, was sie selbst erlebt haben. Sie beschäftigen sich mit dem, was ihnen von Kolleginnen und Kollegen zu Ohren gekommen ist. Sie versuchen, es in Kontexte einzuordnen und eine bestimmte Bedeutung zu geben.

Was ist denn eigentlich so wichtig, wenn schreibende Menschen in ihrer Stube sitzen und nachdenklich auf die Fragen schauen? Zuerst einmal geht es darum, das Eine oder Andere aus der Distanz anzuschauen. Die Distanz sorgt für Sachlichkeit und Nüchternheit, nimmt manchen Fragen und Antworten die Emotionalität und die vorschnelle Parteilichkeit.

In Zeiten der Corona-Krise ist diese Aufgabe eines schreibenden Pflegenden besonders wichtig. Jeden Tag, wenn ich mir die Nachrichten im Fernsehen anschaue oder im Radio anhöre, so sind die Virologen die Propheten der Gegenwart. Den Medizinerinnen und Medizinern wird Autorität verliehen und Glauben geschenkt, wenn es darum geht, Antworten auf die Fragen zu finden, die Corona an die Gesellschaft und an den Alltag stellt. Es wird sogar der Eindruck erweckt, dass die Medizinerinnen und Mediziner den Politikerinnen und Politiker Orientierung geben, bevor sie Entscheidungen fällen, die alle betreffen.

In der Einsamkeit meiner Schreibstube irritiert mich dies. Menschen, die eigentlich in der Abgeschiedenheit und Stille eines Forschungsinstituts arbeiten, dort Zahlen und Fakten sammeln, treten aus dem Dunkel trister Gebäude in die Helligkeit der Fernsehkameras. Der Glanz, den sie verströmen, steigert sich mit den Botschaften, die Erleichterung und Entwarnung signalisieren.

Wo sind denn die Pflegenden in diesen bewegten Zeiten? Sie lassen sich beklatschen und fordern wieder einmal mehr Lohn. Ihnen scheint es in diesem Zusammenhang nicht bewusst zu sein, dass Lohnsteigerungen refinanziert sein müssen. Die Solidarität mit Pflegenden wird an dem Punkt enden, wenn Krankenkassenbeiträge oder Steuerleistungen erhöht werden müssen. Zugestanden: Auch mir würden 500 Euro monatlich im Alltag mehr Gelassenheit geben. Je länger ich pflegerisch arbeite, umso mehr muss ich für eine Änderung der Rahmenbedingungen plädieren.

Pflegende sind nicht zu hören, wenn es um die Auswirkungen der Corona-Pandemie gibt. Als Versorgende in den unterschiedlichen Settings haben wir ganz viel zu sagen. In der ambulanten Pflege bekommen wir mit, wie sehr Corona den Alltag der Menschen verändert. In der psychiatrischen Pflege können wir erahnen, was diese Pandemie mit den Seelen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen macht. Was machen wir stattdessen? Weitgehend schweigen wir, wie so oft.

Wenn der Gesundheitsminister Jens Spahn die Personaluntergrenzen außer Kraft setzt, so macht er nichts anderes als dass er Pflegeverantwortliche nachahmt. Wenn am Freitagmittag das Telefon auf der Station klingelt, sich eine Kollegin oder ein Kollege für das Wochenende arbeitsunfähig meldet, dann heißt es ganz einfach: „Ihr schafft das doch auch so, oder? Ich danke Euch“. Ganz selbstverständlich gibt es in Pflegeheimen noch Dienstzeitenregelungen, bei denen die 5,5-oder 6-Tage-Woche noch Gegenwart ist. Während in den meisten Berufen Ruhezeitenregelungen zwischen einem vollendeten und einem anzufangenden Dienst bei elf Stunden liegt, so ist bis heute gesetzlich geregelt, dass in Kliniken und Wohlfahrtseinrichtungen zehn Stunden in Ordnung sind.

Weder die Gesundheitspolitiker noch die Berufsverbände zeigen ein Engagement, dass Änderungen von Rahmenbedingungen in der pflegerischen Arbeit deutlich wichtiger sind als monetäre Abgeltungen. Es geht immer um den Begriff der Nachhaltigkeit, wenn ich in der Schreibstube politische Diskussionen höre. Die Anpassungen von Rahmenbedingungen böten diese Möglichkeit.

Als schreibender Pflegender stehe ich nun vor der Entscheidung, ob ich in der Einsamkeit der Schreibstube verharre oder mir das Megaphon in die Hand nehme, um einmal mehr zu rufen: „Völker, hört die Signale, auf zum … Gefecht …“.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at