Geschwister streiten auch mal. Aber Marie und Lena rangen schon vor ihrer Geburt im Mutterbauch miteinander – nicht mit ihren winzigen Fäustchen, sie bekämpften sich bis aufs Blut. Die Zwillinge hingen mit ihren beiden Nabelschnüren an einem Mutterkuchen. Sie stritten um die wichtigste Ressource: Nahrung. Die Ärzte nennen solch einen Kampf „Feto fetales Transfusionssyndrom“ – der eine Fötus erhält zu viel Blut, der andere darbt. Als die Ärzte in Berlin im Ultraschall das Dilemma erkannten, waren die beiden Ungeborenen 20 Wochen alt. Die Eltern standen vor einer Lebensentscheidung. Entweder es gelingt bei einem Eingriff, die Blutkreisläufe zu trennen. Oder eins, vielleicht gar beide Föten sterben. Für die riskante Prozedur sollte die Familie zu Spezialisten nach Hamburg fahren. In der Nacht vor der OP platzte die Fruchtblase und nahm den Eltern die Entscheidung ab. Beide Kinder wollten offenbar raus: Lena mit 535 Gramm, Marie mit 200 Gramm mehr.
Heute sind Marie und Lena fast vier Jahre alt. Sie laufen mir auf dem Gang der Charité entgegen, sind munter, etwas zierlich für ihr Alter, aber aufgeweckt, neugierig und voller Quatschideen – so wie man das jedem Kindergartenkind wünscht.
Hier in der Kinderklinik habe ich vor mehr als 20 Jahren als Arzt meine ersten medizinischen Erfahrungen gesammelt. Ich wollte wissen, was sich seitdem getan hat, und mache noch einmal „Arzt im Praktikum“. Ich darf die Schwestern, Ärzte und Therapeuten drei Tage lang begleiten. In der ambulanten Sprechstunde für die ehemaligen Frühchen erlebe ich die erste wichtige Neuerung: Die Eltern und Kinder bekommen von Anfang an einen festen Kinderarzt, der sie kontinuierlich begleitet. Kinder in ihrem Entwicklungsstand einzuschätzen ist eine hohe Kunst. Erstens ist die Bandbreite dessen groß, was ein Kind mit vier Jahren „zu können hat“. Und wer die Kleinen nur sporadisch sieht, vertut sich leicht im Urteil. So wie ich. Ich höre bei einer der beiden ein Atemgeräusch und denke an Asthma oder eine akute Erkältung. Gut, dass die Kinderneurologin Elisabeth Walch Marie und Lena noch von der Station kennt und weiß, wie lange die eine nicht selbst atmen konnte und den lebenswichtigen Sauerstoff über eine Kanüle bekam. Es gibt die Geräusche aufgrund der Vernarbung, die sie offenbar nicht stört.
Die Eltern haben das Fotoalbum dabei: Auf einem Bild liegen die beiden Kämpfer der alleruntersten Gewichtsklasse friedlich nebeneinander im Brutkasten. Die Mutter erinnert sich: „Jeder Tag ohne eine schlechte Nachricht war ein guter Tag. Dass wir das alle durchgestanden haben, ist für mich immer noch ein einziges Wunder.“
Das Paar beeindruckt mich, wie es mir manchmal unter Tränen seine Geschichte erzählt und gleichzeitig so einen starken Zusammenhalt ausstrahlt. Leider zerbricht die Mehrzahl der Familien an der traumatisierenden Erfahrung, dem komplizierten Alltag mit medizinischen Geräten im Kinderzimmer und der ständigen Sorge um das Leben über Monate und Jahre. Ironischerweise ist die Prognose für die Kinder besser als die für die Partnerschaft: 90 Prozent dieser Kinder überleben heutzutage, und von den überlebenden haben über 80 Prozent im weiteren Leben keine Probleme, die auf die zu frühe Geburt zurückzuführen sind. Je genauer man hinschaut, desto eher entdeckt man die oft gar nicht so auffälligen Folgen einer langen Beatmung oder findet Zeichen einer verzögerten Hirnentwicklung wie Lese-Rechtschreib Schwächen, Essstörungen und emotionale Probleme – und kann tätig werden. Wer vor 25 Jahren sein Leben im Brutkasten begann, blieb laut einer amerikanischen Langzeitstudie häufiger ohne Arbeit und ohne festen Lebenspartner.
Ernster nimmt man heute auch die emotionale Betreuung von Eltern und Kindern. Auf der Frühchenstation treffe ich mehrere meiner ehemaligen Kollegen wieder. Die Schwestern, die mich noch von früher kennen, erzählen mir begeistert, was sich alles geändert hat:“Heute bilden wir viel stärker ein Team mit den Eltern. Wenn die eingebunden sind und sich kompetent fühlen, hat das Kind die beste Entwicklung.“ Bianka Rösner, die hier die Stationsleitung innehat, erinnert sich, wie umstritten es noch in den 90er Jahren war, den so zerbrechlich wirkenden Kindern überhaupt den Kontakt zur Mutter zu erlauben. „Die Känguru-Methode hatte erst viele Gegner, die meinten, die Kinder gehören in den Brutkasten und müssen vor den Keimen der Umgebung geschützt werden. Heute wissen wir: Die Nähe zur Mutter ist das Beste für das Kind. Die Keime auf ihrer Haut sind nicht die gefährlichen. Und auch die Väter dürfen mit ihren Kindern kuscheln, die haben heute einen viel aktiveren Part als früher.“
Bei einem fünf Tage alten Zwillingspaar darf ich diesem zärtlichen Moment beiwohnen. Die Kinder wiegen weniger als ein Kilo, aber sie sind stark genug, aus ihrem Bettchen auf die Brust von Papa und Mama gelegt werden zu dürfen. Auf den Monitoren sehe ich, was jeder im Raum spüren kann: Die Kinder fühlen sich wohl, ihr Herzschlag beruhigt sich, sie atmen weniger hektisch, schließen die Augen und genießen die Nähe. Der Chefarzt Christoph Bührer beschreibt die Herausforderung so: „Wir sind hier eine Intensivstation, die gleichzeitig auch Wohnzimmer ist. Und dafür haben wir über einen Förderverein mit Spendenmitteln Stellwände angeschafft, damit sich die Eltern auch ein bisschen vor Blicken schützen können. Intimität ist wichtig, aber keine Kassenleistung.“ Zwei Zimmer weiter erlebe ich die heilsame Kraft der Musik. Seit Menschengedenken singen Mütter für ihre Kinder. Aber wer traut sich das, wenn das Leben so ganz anders startet als erhofft? Stephanie Scileppi ist Musiktherapeutin und hat verschiedene Instrumente dabei, um sich auf jedes Kind und jede Mutter „einstimmen“ zu können. Heute besucht sie Tom. Er hatte kurz nach der Geburt eine fiese Darmverschlingung, die ihn und seine ghanaische Mutter alle Kraft kostete. Stephanie erklärt: „Für Tom habe ich ein Kinderlied aus ihrer Heimat gelernt, hör mal.“ Ich versuche es mit dem einzigen afrikanischen Kinderlied, das ich kenne, „Sali Bonani“ . Stephanie zwinkert mir zu: „Viel zu schnell! Und versuch es mal zu hauchen.“ Dann fängt sie an zu singen. Die Melodie wird wie das Essen auch in viele kleine Häppchen geteilt, damit die Kinder sich erst an einen Teil gewöhnen können. Erst wenn der erste Part vertraut und verdaut wurde, bietet die erfahrene Therapeutin die Fortführung an. Die Mütter werden angeleitet und ermutigt, so zu singen, und können diese Fähigkeit nach der Entlassung zu Hause weiterführen. Dass die Musik ankommt, sehe ich bei Tom, der ganz selig entspannt und dann einschlummert. Die Verwaltungen erkennen keine Notwendigkeit, für diese Art der sozialen und seelischen Unterstützung Stellen zu finanzieren. Nur wenn gerade beim Elternverein genug Spenden eingegangen sind, geht Stephanie wieder zu den Kindern.
Schwester Ute ist eine weitere Meisterin ihres Fachs. Sie hat sich in der Methode Kinaesthetics weitergebildet und nimmt mit ihren Händen jede kleinste Muskelspannung der Frühchen wahr. Die Anpassung an die Welt der Schwerkraft war ja für deutlich später vorgesehen. Die Muskeln reichen gerade mal, um sich im Fruchtwasser zu bewegen, aber in der Luft wird ein Arm oder Bein schnell zu schwer. Und das stresst die Kleinen, die gewohnt sind, mit der Gebärmutter einen engen und schützenden Raum um sich zu haben. Ute bildet diese Grenzen mit Tüchern nach. „Stell dir vor, dir reißt nachts jemand die Bettdecke weg, das würde dich auch stressen!“ Ute nimmt sich Zeit für jede Bewegung. Die Windel in einem Brutkasten so zu wechseln, dass sich das Kind dabei wohlfühlt, ist eine hohe Kunst. Das kann schon mal 20 Minuten dauern. Gefühlt noch länger. Ich bewundere die Geduld. Jeder Achtsamkeitskurs verblasst gegen diesen buddhistischen Buxenwechsel. Die Eltern schauen zu, denn bald sollen sie das selbst können. Die Windel hat keinen Namen. Besser gesagt keine Nummer. Es gibt diese Größe nicht im Drogeriemarkt. Sie müsste „Minus drei“ heißen, so winzig ist sie. Sie ist selbst für Puppen zu groß.
Als ich geboren wurde, gab es keinen Ultraschall. Meine Mutter war „guter Hoffnung“. Und viel mehr wusste manauch nicht über das, was da kommen mag. Junge oder Mädchen? Gesund oder nicht? Das war Schicksal. Und ein Teil bleibt auch bis heute schicksalhaft, unvermeidlich, unheilbar.
Kerstin von der Hude und die Teams der Elternberatung sowie die für Palliativversorgung weitergebildeten Mitarbeiter leisten Pionierarbeit. Sie begleiten Familien, bei denen die Kinder nicht über lebensfähig sind. „Früher hat man den Müttern die Kinder nicht einmal gezeigt, weil man dachte: aus den Augen, aus dem Sinn. Heute wissen wir: Nur wenn man zu dem Kind eine Beziehung aufgebaut hat, kann man trauern.“ Es sind oft die kleinen Dinge des Lebens, die in schwierigen Situationen Halt geben. Sie führt mich in einen kleinen intimen Raum, wo in vielen Gesprächen und Ritualen Abschied genommen werden kann. Sogar die Geschwister werden heute nicht ausgesperrt, sondern dürfen ihr Brüderchen oder Schwesterchen sehen, berühren und begreifen, dass es nur in ihrer Erinnerung weiterleben kann.
So nah man angesichts der kleinsten Kinder den großen Fragen von Warum und Wofür kommt – ich bin beeindruckt von der Menschlichkeit, dem Engagement und der Demut, mit der in der Klinik behandelt, begleitet und gepflegt wird. Während in vielen Bereichen der Medizin die Patientenperspektive immer weniger eine Rolle spielt und viele sich ausgeliefert fühlen, hat hier in den letzten 20 Jahren eine stille Revolution stattgefunden: Was brauchen die Kinder? Was brauchen die Eltern? Was ist langfristig für deren Wohlergehen gut? Nicht die Maschine steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch. Dazu gehört auch, dass Eltern, wie die von Marie und Lena, von ihrer Erfahrung etwas weitergeben an diejenigen, die jetzt gerade akut mit diesem Einbruch in ihr Leben konfrontiert sind. „Nach dem Besuch hier in der Nachuntersuchung bin ich auf Station und habe drei Stunden mit einer anderen Mama gesprochen. Die Mütter wollen oft nicht mit jemandem reden, der keine Vorstellung davon hat, was sie durchmachen. Ich kannte das ja auch nicht vorher.“
Chefarzt Christoph Bührer hat seit Jahren die oberste Verantwortung für all die kritischen Situationen und strahlt dabei eine große Ruhe aus: „Wir müssen hier vor allem Zeit gewinnen und Schutzraum bieten. Dann wachsen die Kinder von allein. Positiv betrachtet: Frühgeburtlichkeit ist eine der wenigen Krankheiten, die nicht wiederkommen. Es gibt keine Rückfälle.“ Stimmt. So sehr zu früh kommt man nur einmal im Leben. Selbst als Zwilling.