Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld

12. November 2019 | Rezensionen | 0 Kommentare

Bekanntlich schreibt das Leben eines jeden seine Geschichten. Je enger die Bande zwischen Menschen ist, umso mehr gewinnt ein Begriff an Bedeutung, den die Philosophin Svenja Flaßpöhler unter die Lupe genommen hat. Aus der eigenen Lebensgeschichte hat sich Flaßpöhler mit dem Verzeihen beschäftigt. Flaßpöhler gelingt es, was nur wenigen Philosophinnen glückt. Sie macht die Geisteswissenschaft fruchtbar für das tägliche Leben.

Die Mutter hat die Familie verlassen, als Flaßpöhler selbst in der Pubertät war. Natürlich ist dies für eine junge Frau eine einschneidende Erfahrung gewesen. Mit der Unterstützung namhafter Denkerinnen und Denker aus der Geschichte der Philosophie reflektiert sie die Erfahrungen des Verlassenwerdens und der Ambivalenzen, wenn es Jahre später wieder zu Annäherungen kommt. Dass es zum Nachdenken über Verzeihen und Vergeben kommt, verwundert nicht.

Es verwundert auch nicht, dass sich Flaßpöhler diesem Lebensthema widmet. Sie wird im Laufe der Jahre immer wieder eingeholt worden sein. Das nur wenige Minuten dauernde Verlassen der Familie seitens der Mutter ist für die Kinder zu einem Jahre und Jahrzehnte bestimmenden Inhalt geworden. Dies wird auch deutlich in den Erzählungen Flaßpöhlers.

Flaßpöhler bezeichnet das Verzeihen als eine Herausforderung. Sie schreibt, dass derjenige, der verzeihe, weder gerecht noch ökonomisch oder logisch handele (S. 19). Flaßpöhler nimmt die Leserin tief in die Existentialität des Lebens mit. Sie schreibt: „Wer im eigentlichen, reinen Sinne verzeiht, stellt keine Bedingungen, erwartet keine Gegenleistung, überlegt nicht, ob sich sein Verzicht auf Vergeltung lohnt. Anders als der ökonomische Schuldenschnitt, der nie ohne Absicht geschieht, ist das Verzeihen, sagt Derrida, durch und durch zweckfrei …“ (S. 29).

Beim Verzeihen geht Flaßpöhler nicht bloß von einem individuellen Phänomen aus. In der Auseinandersetzung mit der Shoah gibt sie dem Verzeihen gleichfalls eine gesellschaftliche Dimension. In Anlehnung an die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erkennt sie die Schuld als „Stifterin von Moral“ (S. 173).

Flaßpöhlers Buch lässt die Leserin (auch) in einem hektischen Alltag still werden.

Schließlich erscheint das Verzeihen und Vergeben nicht als eine einfache Übung. Es reicht halt nicht, wie es in katholischen Kreisen über Jahrhunderte üblich gewesen ist, in den Beichtstuhl zu gehen. Vergeben und Verzeihen hat etwas mit dem Arbeiten an der eigenen Lebensgeschichte zu tun. Mit dem Blick auf die eigene Mutter formuliert sie bewegend: „Auch ich habe mir viele Jahre lang gewünscht, meine Mutter möge vergehen vor Reue, möge gemartert werden von ihrem schlechten Gewissen. Die Pein meiner Mutter wäre gewissermaßen der Preis für ihr Vergehen gewesen, die Währung zur Begleichung der Schuld. Aber … lässt sich eine Schuld wirklich durch Schmerz zurückzahlen? Welche Logik wohnt einem solchen Äquivalenzprinzip von Schuld und Gewissensbiss inne?“ (S. 98)

Svenja Flaßpöhlers Buch „Verzeihen“ zeigt, dass philosophisches Nachdenken das eigene Leben und die eigenen Wege bereichern kann, wenn nicht sogar den einen oder anderen Stein im täglichen Leben aus dem Wege räumt. Ganz praktisch.

Svenja Flaßpöhler: Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, Deutsche Verlagsanstalt, München 2016, ISBN 978-3-421-04463-1, 223 Seiten, 17.99 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at