Haben der Begriff der Heimat und die Sozialpsychiatrie etwas Gemeinsames? Folgt man den Gedanken des Psychiaters und Philosophen Martin Heinze, so ist der Verlust von Bindungen und eines heimatlichen Ortes für viele Menschen der Beginn eines seelischen Leidens. Die Sozialpsychiatrie begegne dem Entfremdungserleben vieler Menschen mit Angeboten wie Wohngruppen und Begegnungsstätten. Irgendwie überrascht der Zugang Heinzes zum Heimat-Begriff. Er macht deutlich, dass die seelische Balance entscheidend mit einem Beheimatungsgefühl in Zusammenhang steht.
Mit dem Buch „Utopie Heimat“ suchen die Autorinnen und Autoren engagiert nach dem Heimatbegriff im Zusammenhang mit psychischen Leiden sowie deren Ätiologie und Behandlung. Sie lösen die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft in Richtung eines tiefgründigen philosophischen Nachdenkens. Für Christian Kupke ist Heimat beispielsweise mehr als ein Ort. Er schreibt: „Dort, wo Menschen, deren Zeiterleben ich zu rekonstruieren suchte, wohnen, dort sind sie realiter zu Hause. Und dennoch sind sie dort auch nicht zu Hause, denn solange sie ihr Haus nicht bauen, im Sinnlosen nicht Sinn konstituieren, solange ist es nur ein phantasmatisches Haus, in dem sie ihr Leben leben“ (S. 81).
Sich mit den Autorinnen und Autoren des Buchs auf den Weg zu machen, dies bedeutet, einen Weg einzuschlagen, auf dem der Heimat-Begriff quasi eine Kultivierung erlebt. Heimat bedarf der eigenen Pflege, um die seelische Balance bewahren zu können. Rudolf Bernet nähert sich beispielsweise dem Phänomen des Heimwehs. Unter anderem gibt Bernet zu bedenken, dass der eigene Geburtsort und die eigene Heimat erst von der Sehnsucht her ihre außergewöhnliche Bedeutung gewännen. Mit dem Blick auf die „Therapie“ des Heimwehs stellt Bernet fest: „Nicht die Rückkehr in die Heimat, nicht das krampfhafte Ankämpfen gegen die Vergänglichkeit des menschlichen Lebenslaufs lindern das Leiden, von dem man meistens auch gar nicht geheilt werden will. Nur die Trauerarbeit an der eigenen Kindheit und Jugendzeit versöhnt mit dem eigenen Altern und macht reif für die beglückende Erfahrung der Erinnerung an längst vergessene Begebenheiten des eigenen Lebens“ (S. 101).
Es sind ganz unterschiedliche Dimensionen, mit denen sich dieses erkenntnisreiche Buch beschäftigt. Karen Joisten begibt sich auf die „Suche nach Heimat“ und erlebt den „Menschen zwischen Wohnen und Gehen“. Andreas Kriwak fragt nach den „unmöglichen Heimat“. Uwe Gonther schaut nach dem „Fremdsein im eigenen Land“ und der „Sehnsucht Hölderlins nach Heimkunft“. Inge Buck und Martin Bührig blicken auf „Literatur und Heimat“.
Das Buch „Utopie Heimat“ zeigt, wie schwierig der Begriff der Heimat zu fassen ist. Gleichzeitig wird bei der Lektüre mehr als deutlich, dass Heimat nicht nur etwas Identitätsstiftendes hat, sondern einen erheblichen Anteil an der Gesundheit bzw. Genesungsfähigkeit eines Menschen hat. Diese Dimension gilt es sich zu vergegenwärtigen, wenn jemand beispielsweise in der Gesundheitsversorgung tätig ist. Der Begriff der Heimat muss wohl auch mit einigen Unmöglichkeiten gedacht und bedacht werden.
Martin Heinze / Dirk Quadflieg / Martin Bührig (Hrsg.): Utopie Heimat – Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge, Parodos Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-938880-02-9, 248 Seiten, 19 Euro.