Schick mir keinen Engel, der alle Dunkelheit bannt aber einen, der mir ein Licht anzündet.
Schick mir keinen Engel, der alle Antworten kennt aber einen, der mit mir die Fragen aushält.
Schick mir keinen Engel, der allen Schmerz wegzaubert aber einen, der mit mir Leiden aushält.
Schick mir keinen Engel, der mich über die Schwelle trägt aber einen, der in dunkler Stunde noch flüstert „fürchte dich nicht“.
Elisabeth Bernet
Das Mobile Hospiz der Caritas der Erzdiözese Wien (1) betreut Menschen mit einer bösartigen, nach menschlichem Ermessen nicht mehr heilbaren Erkrankung und einer eng begrenzten Lebenszeit zu Hause. Unentgeltlich, unabhängig von Nationalität, politischer Überzeugung, Religion, sozialem Status. Als seinerzeitigem Pflegedienstleiter (2) im Mobilen Hospiz der Caritas Wien zählte es zu meinen Aufgaben, die neuen MitarbeiterInnen in der Hospiz- und Palliativpflege nach deren dreimonatiger Einarbeitungszeit im Rahmen einer Pflegevisite zu begleiten, um ihnen nach erfolgreichem Abschluss derselben einen guten Start in die unbefristete Anstellung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang war ich auch einer Mitarbeiterin zur Seite, die sich bei einer Familie zu einem Erstbesuch angekündigt hatte.
Die Ehefrau eines kranken 43-jährigen Familienvaters hat um Unterstützung gebeten, da sie „nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf steht“. Die Nöte waren durch die rapid fortschreitende Erkrankung, durch Ängste vor der unmittelbaren und auch der weiteren Zukunft und den Verlust des geliebten Menschen bedrohlich angewachsen. Die minderjährigen Kinder konnten mit den immer öfter unvermutet auftretenden Gefühlsveränderungen ihres Vaters schwer beziehungsweise nicht umgehen. Der Ausfall des Familienerhalters hat die zuvor schon prekäre finanzielle Situation nun auch noch in eine scheinbar unüberwindbare Enge getrieben. Die Betreuung und der fordernde pflegerische und persönliche Einsatz für ihren geliebten Mann wurde für die aufopferungsbereite Frau auch körperlich immer mehr auf eine harte Probe gestellt.
Während dieser ersten Begegnung mit der Familie in all ihren Nöten kam es zu einem sehr persönlichen Gespräch des Patienten mit meiner Mitarbeiterin. Er vertraute sich ihr an, teilte ihr seine Verlusterfahrungen mit. Er öffnete sich. Er weinte. Dann war eine lange Stille. Der Kollegin liefen einige Tränen über die Wangen…
Nach unserem Besuch war es mir sehr wichtig, mit der ersten Nachbesprechung des Besuches nicht zu warten bis wir wieder am Stützpunkt des Hospizes waren. In einem nahegelegenen Park setzten wir uns auf eine Bank. Meine Mitarbeiterin hatte große Angst, dass ich sie nun vielleicht nicht anstellen würde, weil sie geweint und sich somit nicht professionell verhalten hätte.
Ich wandte mich ihr zu und versuchte ihr nahezubringen, dass Professionalität und Empathie einander nicht ausschließen. Ich meinte: „…, wenn ich empathisch bin, versuche ich nicht nur mich in den Patienten hineinzudenken, sondern auch und vor allem, mit ihm zu denken. Da sind es eben nicht Übersicht, Logik und reproduzierbare Fakten, die oben anstehen, sondern es sind primär Emotionen. Wenn ich professionell bin, bewahre ich den Überblick. Ich treffe Entscheidungen bewusst auf der Grundlage von nachvollziehbaren Daten. Nichts ist der Intuition oder gar den Gefühlen überlassen: alles ist unter Kontrolle.“
Ich sah meine Mitarbeiterin an: „Deine Zuneigung war ehrlich, authentisch und fühlbar gewesen (sie neigte sich in der Tat zu dem Kranken im Bett hin); deine Anteilnahme tat dem Kranken und seiner Familie sichtlich gut; deine Berührungen – körperlich und emotional – haben die Familie gerade in dieser Situation offensichtlich getragen; die Worte, die du gesprochen hast, waren ein spürbarer Trost für diese Menschen in ihrem Leid. Du hast der Familie durch dein So-Sein wie du warst, geholfen. Danke. Du hast das gut gemacht.“
Wo wir Pflegende mit Menschen im terminalen Stadium einer unheilbaren Krankheit zu tun haben, sind nicht doppelbindende Studien, Abhandlungen und statistische Berechnungen die Lösung, sondern es gelten andere Werte: Vertrauen; jemanden an seiner Seite zu haben, an den man sich anlehnen kann; Linderung der vielfältigen Schmerzen und Nöte, um nur einige zu nennen.
Die professionelle Distanz bringt es mit sich, dass sich Pflegende von den Hilfebedürftigen fernhalten, weil sie glauben, sich nicht auf sie und ihre spezifischen Probleme einlassen zu sollen. Schließlich gibt es vorgegebene Lösungen, Standards, Behandlungspfaden, Leitfaden und Gesetz. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieses professionell distanzierte Verhalten und Kommunizieren viel Frustration und Unzufriedenheit mit sich bringen kann, denn wir vergrößern dadurch die Entfernung zwischen den Patienten und uns.
Kranke Menschen und ihre An- und Zugehörigen erleben in den Begegnungen mit Pflegenden oft das Gefühl, nicht mit ihrer eigenen Problematik, dem persönlichen Empfinden, ihren Ängsten, ja der ureigenen Existenzangst und ihrer tiefen Not gesehen zu werden. Das Gefühl, nur ein „Fall“ zu sein, mit dem standardisiert, ritualisiert, aber hoch professionell umgegangen wird, lässt sie in ihrem Leid allein und verstärkt es.
Viele Pflegende haben sich im Laufe von Ausbildung und Berufserfahrung eine „professionelle Distanz“ während fordernder Begegnungen zugelegt, um „durchzuhalten“ gleichsam nach der Auffassung: Wenn wir echte Profis sind und uns so verhalten wollen, dann dürfen wir den zu betreuenden Personen emotional nicht zu nahekommen. Wir müssen eine gesunde, eben eine professionelle Distanz wahren, um auf Dauer in der Pflege ohne auszubrennen tätig sein zu können und/oder andererseits nicht zur gefährlichen Helferpersönlichkeit zu mutieren. Denn das wäre ja auch nicht professionell.(3)
In Hospizarbeit und Palliativer Sorge kann ich natürlich nicht immer jede Nähe aushalten. Darum ist das Innehalten, das Pause machen, eine erholsame und heilsame Distanz für meine Gesundheit wichtig. Oder anders gesagt: ich als Pflegekraft habe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht die Balance von helfender Nähe und heilsamer Distanz zu beachten und einzuhalten. Darum sind in Hospizarbeit und Palliativer Sorge ja auch entsprechende Möglichkeiten zu Auszeiten vorgesehen. Die leitenden Persönlichkeiten in Hospiz und Palliativer Sorge sind verantwortlich und haben sich zu kümmern, dass ihre MitarbeiterInnen nicht (über längere Zeit) über ihre Grenzen gehen und entsprechende Oasen in ihrem Berufsalltag nützen (können). Dazu gehört auch, dass MitarbeiterInnen, die zu Überbefürsorgung neigen, mahnend und achtsam geführt werden.
Als Pflegedienstleiter sah ich es nicht nur als meine Aufgabe, dass Hilfebedürftige zu notwendender Hilfe gelangten, sondern ich sah meinen Auftrag auch darin, gelegentlich die Hilfebedürftigen vor den Helfensbedürftigen zu schützen. Mir sind Menschen suspekt, die IMMER NUR HELFEN wollen. Als MitarbeiterInnen in Hospiz und Palliativer Sorge ist es unsere Aufgabe, wie es Heinrich Pera (4) einmal formuliert hat, den Sterbenden auch in seine Freiheit zu begleiten, wenn er es wünscht.
Meiner jungen Mitarbeiterin war es bei ihrem obengenannten Erstbesuch gelungen, schnell mit den ihr anvertrauten Menschen in eine verlässliche und tiefe Beziehung zu treten, um deren Anliegen in Gänze zu verstehen und danach nach echten, tragfähigen Lösungen zu suchen. Dadurch eröffneten sich ihr und der Familie selbst weitere Möglichkeiten des Umgangs und der Unterstützung. Natürlich ergaben sich daraus auch weitere Verpflichtungen, in erster Linie die, die Treue (in der Begleitung) zu halten.
Die Beziehungen in Hospiz und Palliativer Sorge sind meist nicht von langer Dauer. Daher kann ich mich ihnen für diesen absehbaren, überschaubaren und aushaltbaren Zeitraum mit aller Empathie, Menschenliebe, Fachwissen, Erfahrung und eben Nähe, widmen. Meine Mitarbeiterin hat ihr Bestes gegeben, um die Familie in ihrer Krise zu unterstützen und zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist. Ihre professionelle Nähe beruhigte nicht nur die Hilfe suchenden Menschen, sondern machte letztendlich auch sie selbst zufriedener (und damit auch mich als Pflegedienstleiter). Ich konnte ihr das Wissen und die Zuversicht vermitteln, dass sie Menschen nahe sein darf und soll. Denn deshalb hat sie ja ursprünglich den Pflegeberuf gewählt, weil sie Menschen begegnen, weil sie ihnen in der Krise Unterstützung anbieten wollte. Das ist nicht mit Distanz, sondern nur mit Nähe und echter Zugewandtheit möglich, die gerade in helfenden Berufen ihren Platz haben und im Besonderen in der Begleitung Sterbender absolut unersetzlich und unerlässlich sind.
Heinrich Pera, ein Pionier der Hospizarbeit in Deutschland, sagte 1995 in einem Vortrag in Mainz: „…jeder Sterbende lebt uns unseren Tod vor. Das ist auch ein Geschenk. Sollte es nicht ein Hospiz geben mit dem Titel: `Lasst uns miteinander weinen´. Wir reden zu viel über Dinge und zu wenig von uns selbst.“
Wir tun den Kranken, ihren An- und Zugehörigen und uns selbst nur Gutes, wenn wir die „professionelle Distanz“ durch „professionelle Nähe“ ersetzen. Und das auch so zur Sprache bringen. Für mich ist Pflege dann professionell, wenn wir es schaffen, uns auf die Nähe in unserer Profession zu besinnen, die gewünscht, effektiv und absolut zielführend ist. Im Leben und Zulassen dieser Nähe werden wir unserem pflegerischen Auftrag gerecht. Und dadurch auch zufrieden. Es lohnt sich, professionell zu arbeiten – wenn unter Professionalität die Fähigkeit verstanden wird, fachliches Wissen mit mitmenschlicher Fürsorge zu verbinden. Nicht nur, weil es auf lange Sicht dem Wohl des Patienten dient, sondern auch, weil es die eigene Person erfüllt und zufrieden macht: Ich habe das Richtige getan.
Meine ganz persönliche Reihung der pflegerischen Kompetenzen:
-
Menschliche Kompetenz
-
Soziale Kompetenz
-
Kommunikative Kompetenz
-
Fachliche Kompetenz
Ad 3) Aus meiner Schneckenmetapher
Ich habe in meinen Seminaren und Vorträgen immer wieder einmal die Metapher/den Wunsch von der Schnecke den Teilnehmern mitgegeben. Der sechste und letzte Wunsch dabei bezieht sich auf die Verletzlichkeit einer Schnecke:
Ich wünsche dir, liebe Leserin, lieber Leser, dass du verletzlich bist wie eine Schnecke. Das klingt vielleicht etwas schwierig. Aber ich habe Sorge und Angst, vor Menschen, die keine Wunde kennen, die eine Elefantenhaut haben. Ohne Wertung. Ich kann Pflegerinnen und Pfleger verstehen, dass sie, um leben zu können, sich schützen, sich eine dicke Haut zulegen (hier: Professionelle Distanz). Ich habe vor diesen Menschen großen Respekt. Ich habe Sorge, dass wir nun sagen, was die da tun, ist schlecht. Sie tun es oft mit einem ja fast schon verwundetem Herzen und oft aus dem Verhalten heraus, um überleben zu können. Die Wunde ist (nach Dorothee Sölle) das Fenster der Verwundbarkeit. Die Wunde ist ein Fenster. Wenn dieses Fenster in der dicken Haut nicht wäre, wäre ich für andere nicht erreichbar. Ich wünsche dir, dass du für andere Menschen erreichbar bist, denn dann hast du was vom Leben. Dann lebst du. Lebe! Lebe wohl! © Martin Sorge, modifiziert nach H. Pera.
Fußnoten
1 https://www.caritashospiz.at/ https://www.caritas-wien.at/hilfe-angebote/hospiz/
2 Seit Herbst 2013 in Pension
3 Siehe: „Aus meiner Schneckenmetapher“ am Ende.
4 Heinrich Pera, 1938-2004, war ein deutscher katholischer Priester und Diplomkrankenpfleger. Pera gilt als Wegbereiter der Hospizbewegung in der DDR in den 1980er Jahren und später in der Bundesrepublik Deutschland.