Unabsehbare längerfristige Covid-19 – Auswirkungen auf psychisch erkrankte Menschen

8. November 2020 | Covid19, Fachwissen, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Psychische Belastungen durch die Pandemie werden an vielen Stellen thematisiert. Die längerfristigen Auswirkungen der Covid19-Pandemie auf besonders vulnerable Gruppen wie psychisch erkrankte Personen kommen bislang zu kurz. Die bisherigen individuellen Konsequenzen können aufgrund der derzeitigen Erkenntnisse nur anhand theoretischer Grundlagen, im psychosozialen Kontext und im Zusammenhang beobachteter Alltagssituation erfolgen. In der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen steht das subjektive Krankheitserleben des Einzelnen im Mittelpunkt und bildet die Basis des psychiatrischen Handelns. Dabei sind das Wissen um das vielfältige Verwoben-Sein, die vielgestaltige Erscheinungsweise psychischer Störungen und die mannigfaltigen Auswirkungen auf den Lebensalltag von Betroffenen erforderlich. Dieser Artikel kann als Problemaufriss dienen und erforderliche künftige Notwendigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen ableiten.

Die Corona-Pandemie hat eine Vielzahl von psychosozialen Folgen, insbesondere für den seelisch erkrankten Menschen, die weiter beforscht werden müssen. Pflegende sind deshalb aufgefordert, in der Versorgung dieser Klientel die besondere Vulnerabilität in den Blick zu nehmen. Nicht nur dies, auch die gemeinsame Erarbeitung von Bewältigungsstrategien sind Teil pflegerisch-psychiatrischer Expertise.

Pflege im psychiatrisch-psychosozialen Kontext befasst sich aufgrund ihres Selbstverständnisses mehr mit den Auswirkungen der Erkrankung als mit der Erkrankung selbst. Die meisten psychisch erkrankten Menschen, ihre Angehörigen oder das soziale Umfeld suchen nicht wegen der Krankheitssymptome Hilfe, sondern in der Regel sind es die sozialen und medizinischen Folgeerscheinungen, welche die Betroffenen dazu bewegen, professionelle Hilfe aufzusuchen (Schädle-Deininger & Villinger, 1996, S. 49). Vor diesem Hintergrund müssen geeignete Hilfsangebote rechtzeitig und in geeigneter Form angeboten werden.

Dies gilt besonders in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie. Deutlich wird derzeit, dass viele psychisch erkrankte Menschen und ihr Umfeld durch die Pandemie verunsichert sind, dass viele selbstverständliche Hilfsangebote reduziert sind oder gar entfallen und dass dadurch ganz elementare Bedürfnisse wegfallen, beispielsweise direkte Kontakte, Gruppenangebote und regelmäßige gemeinsame Aktivitäten sowie bestimmte Trainingsangebote.

Psychisch erkrankte Menschen erspüren und bemerken die leisesten Schwingungen, Erschütterungen und Veränderungen. Luc Ciompi hat im Zusammenhang von erkennen, dass etwas in der Familie, im sozialen Umfeld, am Arbeitsplatz oder im Kontext des gesamten Zusammenlebens nicht stimmt, psychisch erkrankte Menschen als die „Seismographen der Gesellschaft“ bezeichnet. Verunsicherung führt zu Angst und Angst kommt so gut wie bei allen psychischen Erkrankungen vor und wird in besonders verunsichernden Situationen verstärkt. Von daher ist die derzeitige Lage von psychisch erkrankten Menschen als prekär zu bezeichnen.

Einblick in theoretische Grundlagen

Ein paar wenige theoretische Ansätze sollen dargelegt werden, um die Komplexität psychischer Reaktionen und die besondere Situation psychisch erkrankter und behinderter Menschen im Kontext der Corona-Pandemie zu verdeutlichen und die künftig notwendige (Pflege-) Forschung aufzuzeigen.

Affektlogik

Gesellschaftliche Veränderungen und irritierende Alltagssituationen wirken sich in besonderem Maße auf leicht zu verstörende Menschen wie psychisch Erkrankte aus. Luc Ciompi stellt aufgrund umfangreicher Forschungen, die er immer weiterentwickelt hat, in seiner Veröffentlichung „Affektlogik“ beschriebenen innovativen Theorie, fest, dass es ein ständiges Zusammenspiel von Fühlen, Denken und Verhalten gibt. Er betont zudem die Wechselwirkung zwischen den drei Komponenten. In diesem Kontext entwirft er im Grundsatz das gesetzmäßige Zusammenwirken von Emotion, Kognition und Aktion zu einem Gesamtkonzept. Basis seiner Überlegungen und Untersuchungen kommen aus ganz verschiedenen Wissenschaften wie der Evolutionswissenschaft und Neurobiologie, der Soziologie und Psychiatrie sowie der Emotionspsychologie und Psychoanalyse. Eingebettet ist der theoretische Ansatz in die allgemeine Systemtheorie und schließt die „Theorie der nichtlinearen Dynamik“ (dynamical systems theory), also die „Chaostheorie“ mit ein. In nichtlinearen Systemen können schon sehr kleine Veränderungen zu nicht vorhersehbaren umfangreichen Auswirkungen und Resultaten führen, beispielsweise indem Irritationen in Verbindung mit negativen Erfahrungen gebracht werden.

Thesen zur Affektlogik

Ciompi formuliert in seinen Vorlesungen fünf Thesen zur Affektlogik, nämlich

  1. dass in sämtlichen psychischen Leistungen Fühlen und Denken – oder Emotion und Kognition, Affektivität und Logik im weitesten Sinn untrennbar zusammenwirken,
  2. dass Affekte alles Denken und Verhalten nicht nur andauernd begleiten, sondern zu einem guten Teil auch richtiggehend leiten,
  3. dass situativ zusammengehörige Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen sich im Gedächtnis zu funktionellen Einheiten im Sinn von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (FDV-Programmen) verbinden, die sich in ähnlichen Situationen immer wieder neu aktualisieren, differenzieren und gegebenenfalls auch modifizieren,
  4. dass die Psyche fraktal strukturiert ist, das bedeutet, dass „Selbstähnlichkeiten“ in der Grundgestalt „im Größten das Kleinste“ und „im Kleinsten das Größte“ sein kann. Das bedeutet z. B. auch, dass in jedem vorherrschenden Gefühl alle anderen (Grund-) Gefühle irgendwie noch versteckt in unterschiedlicher Intensität enthalten sind,
  5. dass Affekte die entscheidenden Motoren und Organisatoren aller psychischen und sozialen Entwicklung sind (Ciompi 2002, Seite 16 f., Abb. 1).

Abb. 1 Affekte und ihr Zusammenspiel (eigene Darstellung)

 

Diese dargestellten Mechanismen machen deutlich, dass menschliches Fühlen, Denken und Handeln im Alltag nicht strikt trennen lassen, sondern sich eher in der Reflexion bzw. Analyse einer Situation auseinanderhalten lassen, dies wird im nachfolgenden Beispiel verdeutlicht.

Frau Klein ist jetzt während der Corona-Zeit beim Einkaufen aufgefallen, dass der Einkaufswagen sich „klebrig“ anfühlte. Der Gedanke, dass das mit dem Covid19-Virus zusammenhängen könnte ließ sie nicht mehr los, auch als sie Zuhause war. Die logische Überlegung, dass der Wagen durch Desinfizierungsmittel so kleben könnte, kam ihr nur kurz. Das Ganze machte ihr große Angst und beherrschte ihre Gedanken und Gefühle…

Das Fühlen, Denken, Affektivität und Logik konnten nicht mehr auseinandergehalten werden.

Frau Klein konnte sich nicht mehr ablenken, es war wie eine Denkschleife, sich angesteckt zu haben, sie beobachtete sich ständig, ob sie irgendeine krankhafte Reaktion feststellen kann…

Das Denken und Handeln werden richtiggehend geleitet.

Im weiteren Verlauf stellte sie einen Zusammenhang zu früheren Erlebnissen her, nämlich, dass ein Bekannter ihrer Eltern an einer Sepsis schwer erkrankt und später auch gestorben ist und dass es ihr wahrscheinlich auch so gehe. Deshalb putzte sie nun zwei Mal am Tag die Wohnung, was ihr jedoch keinerlei Sicherheit gegeben hat…

Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme werden aktualisiert und zu einer funktionellen Einheit.

Frau Kleins Angst steigert sich in unterschiedlichen Alltagssituationen, die Gefühle von Angst, Alleingelassen zu sein, mit und durch die sich anbahnende Erkrankung nach und nach einsamer zu werden vermischen sich mit dem Grundgefühl, das sie seit ihrer Kindheit mit sich trägt, nicht erwünscht und ungeliebt zu sein …

Aktualisierung von (Grund-) Gefühlen und „Selbstähnlichkeiten“.

Frau Klein, die aufgrund einer psychischen Erkrankung immer mal wieder in der Institutsambulanz Rat gesucht hatte und behandelt wurde, wendet sich an die pflegerische Mitarbeiterin Frau Lux, die sie kennt. Sie verabreden sich mit all den derzeitigen Auflagen. Es ist zu hoffen, dass Frau Lux, wie schon bei früheren Kontakten an den Ressourcen und den Fähigkeiten von Frau Klein anknüpfen kann und sie gemeinsam die Krise bewältigen, Frau Klein genügend Abstand gewinnt und im Sinne von Empowerment, Resilienz sowie Recovery, sich wieder stabilisieren und ihren Weg zu Wohlbefinden und Gesundung gehen kann.

Affekte als Motoren und Organisatoren sozialer und psychischer Entwicklung.

Normalität

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die „Normalität“. Was ist normal? Müssen wir uns nicht der „Doppelsinnigkeit“ des Begriffes „Normalität“ bewusst sein: zum einen das „Soll-Maß“ eines gelingenden Lebens, zum anderen das „was durchschnittlich erwartbar ist“.

„Wir bewegen uns bei der Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit immer wieder in einer Grauzone zwischen pathologischer Eindeutigkeit, klinischer ‚Auffälligkeit? und soziokulturellen Bewertung (‚Normalität‘). Schwere Krankheit und vollkommene Gesundheit, seien sie körperlicher oder psychischer Natur, verstehen sich meist von selbst. Probleme bereitet das, was dazwischenliegt: das Kontinuum zwischen den Störungen des Wohlbefindens und dem Leiden an Störungen von Körper und Psyche. Da gibt es keine eindeutig medizinisch-fachlichen Abgrenzungen. Da spielen subjektive Empfindungen und soziokulturelle Bewertungen eine zentrale Rolle“ (Finzen, 2018, S. 42 f.)

Finzen betont, dass unsere Befindlichkeit und unser Leiden etwas zutiefst Subjektives ist Was dem einen unerträglich erscheine, könne ein anderer gut aushalten. Er führt an, dass das die britische National Association for Mental Health (MIND) bereits 1971 Jahre im „MIND-Manifest“ deklariert:

„Es gibt keine Grenzen zwischen seelischer Gesundheit und seelischer Krankheit. Die meisten psychisch Kranken erleben Phasen innerer Stabilität und Einsichtsfähigkeit. Die meisten Menschen leiden unter unbegründeten Ängsten und zeitweise depressiven Verstimmungszuständen. Die psychisch Kranken sind keine besondere Menschenart, die mit der Welt, in der wir leben, und unseren alltäglichen Erfahrungen nichts zu tun hätten: Sie sind wie wir und wir sind wie sie […]“ (Finzen, 2018, S. 46).

Am Ende des Buches stellt Finzen fest, dass das Normale das Normale ist und dass dies seine zentrale These sei. Er habe sie vor allem am Beispiel der Psychiatrie und des psychiatrischen Denkens entwickelt. „Sie gilt aber nach meiner Überzeugung für alle gesellschaftlichen Bereiche. Ich weiß, das Bild, das sich uns präsentiert ist ein anderes. Wir alle tragen – versteckt oder offen – ein Bedürfnis nach Bildern vom Nichtnormalen mit uns herum.“ Er fährt fort, dass das Normale einfach langweilig sei und konstatiert, dass Menschen sich schon immer bevorzugt über Unglücksnachrichten ausgetauscht haben (Finzen, 2018, S. 131).

Luc Ciompi zeigt bereits 1994 in seinem Vortrag auf dem XIV. World Congress of Social Psychiatry in Hamburg, unter dem Titel „Die Philosophie der Sozialpsychiatrie im Rahmen eines psycho-sozio-biologischen Verstehensmodells der Psyche“, auf, dass in diesem Kontext der Schwerpunkt im Verstehen und Behandeln psychischer Störungen vor allem im sozialen Umfeld liege, ohne gleichberechtigte biologische und psychodynamische Ansätze auszuklammern und betont das unverzichtbare menschliche und soziale Engagement. Er benutzte das Bild, dass psychisch erkrankte Menschen aus dem Gleichgewicht gekommen sind und deshalb etwas „ver-rückt“, d. h. aus ihrer Mitte geraten bzw. irritiert sowie verunsichert und demzufolge auf eine zuwendende Unterstützung angewiesen sind (Ciompi in Bock et. al., 1995). Dieses Bild macht deutlich, dass psychische Erkrankungen zutiefst menschlich sind und jeder von uns erkranken kann.

Was bedeutet es, ver-rückt zu sein? Der einzelne Mensch kann sich in diesem Moment nicht mehr als integer erleben. Säulen, die ihn oder sie im Alltag tragen, verlieren an Haltekraft, sie werden brüchig. Subjektiv bekommt der Mensch das Gefühl, dass die Festigkeit des eigenen Stehens auf dem Boden nicht mehr in der gewohnten Weise gegeben ist. Anselm Grün nutzt den Begriff des Bei-sich-Seins bzw. des Bei-sich-Daheim-Seins. Er geht in der Betrachtung der Eigenheiten der Corona-Zeit weiter. Es geht ihm um das Wohlfühlen, somit um die Lebensqualität. Er stellt die Frage, inwieweit es dem zeitgenössischen Menschen gelingt, sich in der eigenen Häuslichkeit wohlzufühlen. Grün schreibt: „Gerade in solchen Momenten, in denen wir äußerlich begrenzt werden, stellt sich uns unweigerlich die Frage: Was brauchen wir, um uns wohl zu fühlen in unseren vier Wänden? Was brauchen wir wirklich? … Kann ich zuhause bei mir daheim sein? Kann ich überhaupt bei mir daheim sein?“ (Grün 2020, S. 59 / 60). Es ist sicher so, dass schon viele Menschen ohne jede Krisenerfahrung nicht bejahen können, dass sie sich in den eigenen Wänden bei sich fühlen. Eine alltägliche Erfahrung, wie beispielsweise die Corona-Pandemie, sorgt durchaus auch bei offenbar gesunden Menschen dafür, dass er oder sie sich ver-rückt fühlt und aus der Balance gerät. Für den psychisch instabilen Menschen hat das Aus-dem-Gleichgewicht-Kommen einschneidendere Konsequenzen.

Corona verunsichert psychisch erkrankte Menschen

Wenn wir die bisherigen Aspekte auf die Situation eines von einer psychischen Erkrankung Betroffenen betrachten, muss das beträchtliche Auswirkungen haben. Und das ganz gleich in welcher Phase des Befindens, Gesundens oder mehr oder weniger stabilem Zustand sich der Einzelne befindet. Psychisch erkrankte Menschen erleben durch die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie, dass ihnen der feste Boden unter den Füßen sprichwörtlich weggezogen wird. Die meisten von ihnen leben allein. Sie sind darauf angewiesen, dass sie niederschwellige Hilfe-Angebote wie gemeindepsychiatrische Zentren eigeninitiativ besuchen können. Gleichzeitig müssen sie darauf vertrauen, dass Angebote wie das Betreute Wohnen den aufsuchenden Charakter nicht aufgeben. Wenn es stimmt, dass jeden Morgen oder jeden Tag die Tragfähigkeit der Qualität unserer Beziehungen erspürt wird (Bliersbach, 2014, S. 23), dann bergen die schwindenden Kontakte die Gefahr, dass psychisch kranke Menschen ein Fundament des Alltags nicht mehr spüren.

Für den psychisch erkrankten Menschen ist die Kraftanstrengung größer als für den seelisch gesunden Menschen, um Regulationsleistungen für alltägliche Bewegungen in verschiedenen Kontexten des Lebens zu erbringen. Sie müssen sich mehr mühen, um mit erfahrener Wirksamkeit und erfahrener Ohnmacht zurechtzukommen. In Zeiten der Corona-Pandemie kommt es letztlich zu der Situation, dass sie durch psychiatrisch Tätige wenig oder keine Unterstützung erfahren. Sie können nicht an der eigenen Lebensgeschichte schreiben. Sie können dem Alltag keinen Sinn geben. Ihnen ist eine entscheidende Möglichkeit genommen, den Lebensalltag zu reflektieren. Die Folge bei psychisch erkrankten Menschen kann sein, dass sie Ängste bekommen. Es gelingt nicht, Befürchtungsdynamiken zu kompensieren.

Angst

Richter unterstreicht, dass Angst nicht allein im Individuum begründet sei (Richter, 2014, S. 90). Menschen seien soziale Wesen, so tangierten gesellschaftliche Bedingungen das Angsterleben (Richter, 2014, S. 90). Es macht sicher Sinn, immer auch über die eigenen Ängste nachzudenken, wenn der Mitmensch in den Blick genommen wird. Die Sensibilität dafür, über eigene Ängste nachzudenken, führt, wenn es gut läuft, zu angepasstem Hilfe-Verhalten. Wenn Befürchtungen einen überdimensionalen Raum im Leben des Einzelnen einnehmen und das Leben und das Verhalten bestimmen, sind sie störend oder auch krankhaft. Ziel muss es im professionellen Umgang sein, sich an der individuellen Lebenssituation orientieren und Situationen zu identifizieren, in denen die Angst abnimmt oder in welchem Zusammenhang die Angst verstärkt wird. Dies erfordert eine Grundhaltung, die Hoffnung vermittelt und den Betroffenen darin unterstützt, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Reduktion der Angst einzusetzen und immer wieder gemeinsam zu reflektieren, was hilfreich ist und was eher nicht, um der Angst zu begegnen. Bei allem gilt es zu bedenken, dass Angst zur normalen Reaktion eines Menschen gehört und sowohl den gesunden als auch den körperlich oder psychisch erkrankten Menschen betrifft und für jeden Menschen eine Funktion hat.

Das Pflegephänomen Angst zeigt sich in unterschiedlicher Intensität und je nachdem auf welcher Stufe sich ein Betroffener befindet, gibt es verschiedene, ganz individuelle Umgangsweisen, von Ablenkung über gezielte Übungen ggf. bis hin zu einer gestuften Reizkonfrontation. Es gilt die Angst frühzeitig zu erkennen, einzustufen und gemeinsam mit dem psychisch Erkrankten systematisch nach Lösungen zu suchen. Dies könnte die nachfolgende Tabelle 1 unterstützen:

Tab. 1 Pflegephänomen Angst im Kontext pflegerischen Handelns (eigene Darstellung)

 

Wichtig ist es, dass Helfende den Blick für die Realität behalten und sich durch Supervision und Kollegiale Beratung oder andere Verfahren auf der Metaebene Unterstützung holen und wieder Abstand gewinnen, um hilfreich zu sein.

Einsamkeit, Isolation und ihre Folgen

Neben der Angst spielt die Einsamkeit bei psychisch erkrankten Personen eine wesentliche Rolle und verstärkt sich durch die bereits beschriebene Situation jetzt während der Corona-Pandemie. Sie fühlen sich dadurch noch mehr ausgegrenzt und abgeschieden, ganz abgesehen vom unterschiedlichen Bedürfnis nach sozialer Nähe oder Distanz. Auch das Netz an Kontakten wird anders erlebt. Einsamkeit und soziale Isolation werden in der Regel synonym verwandt.

In der Bewältigung der Isolation, auch in Kombination mit der weiter unten ausgeführten Befürchtungsdynamik, spielen individuelle kompensatorische Schemata der Persönlichkeit eine Rolle, die sich auch aus vorbestehenden Belastungen und Erfahrungen entwickelt haben und die wir aus Konflikt- und Trauma-Modellen kennen. In der psychotherapeutischen Behandlung bei Belastungsfolgen durch Isolation stehen Interventionen im Vordergrund, die sich an dem individuellen kompensatorischen Stil der Betroffenen orientieren, wie der vermeidende, der impulsive, der depressive und der ängstliche Stil oder auch Mischformen, für die jeweils eine spezifische Intervention anzuraten ist. (Bering, Schedlich & Zurek, 2020, S. 40)

Nach den Worten des Benediktinerpaters Anselm Grün dürfen in einer Zeit der Isolation existentielle Momente und Bedürfnisse nicht missachtet werden. Der Mensch lebe nicht vom Brot allein (Grün, 2020, S. 10). In der Krise bräuchte jeder Mensch Weggefährtinnen und Weggefährten, „die offen sind, die Emotionen zeigen und verstehen, die empathisch sind, um diese Krise ohne große Verwerfungen zu meistern“ (Grün, 2020, S. 15). Damit bringt Grün auf den Punkt, dass bei aller sozialen Distanz eine Weggefährtenschaft von Bedeutung ist.

Weggefährtenschaft kann für psychiatrisch Pflegende viel bedeuten. Im Kern geht es darum, nicht nur für die Betroffenen, sondern insbesondere mit den Betroffenen zu arbeiten und wo immer es geht sein soziales Umfeld mit einzubeziehen. Es kann sicher eine Hürde sein, in Zeiten einer Pandemie den Betroffenen oder die Betroffene in der eigenen Häuslichkeit zu besuchen. Die Angst, sich während der gemeinsam verbrachten Zeit mit dem Virus zu infizieren, ist groß. Zur Weggefährtenschaft gehört es sicher, nach anderen Möglichkeiten des Austauschs und der Hilfeleistung zu schauen. Mit Abstand lässt sich auch auf Bänken in einem Park begegnen. Mit Distanz lässt sich durch das Wohnquartier gehen. Lassen psychiatrisch Pflegende in der Zeit der sozialen Distanzierung zu, den Betroffenen nur über technische Kommunikationswege zu begegnen, so entgleitet die Qualität der Begleitung seelisch erkrankter Menschen. Die Wahrnehmung bleibt trotz guter Technik unvollständig, da die „Zwischentöne“, das Atmosphärische usw. nicht ausreichend erspürt werden kann.

Schließlich ist es so, dass der Mensch im aktuellen Lockout „wider seine Natur als soziales und bedürftiges Wesen“ handelt (Beck, 2020, S. 55). Soziale Zuwendung gehöre zum täglichen Leben. Bekommt der Mensch durch die soziale Distanz bzw. Selbstisolation die Nähe nicht, ist mit schwerwiegenden Problemen zu rechnen. Wenn ein Mensch seelisch erkrankt ist, geht eine erhöhte Vulnerabilität damit einher. Wen wundert es, dass die Verbindung von erhöhter Vulnerabilität (hier mal eher Verletzlichkeit?) und nachvollziehbaren Folgen der Isolation zu akuten Phasen seelischer Erkrankungen führen. Beck schreibt dazu: „Wir sind von Geburt an auf soziale und körperliche Zuwendung und Nähe angewiesen. Wird dies verweigert oder auf längere Zeit entzogen können schwerwiegende Probleme entstehen. Experimente mit sozialer Deprivation, d. h. der Entzug bzw. die Entbehrung von sozialen Beziehungen und Kontakten oder die bekannte Geschichte des Kaspar Hauser (1812 – 1833), eines Findlings, der jahrelang in vollkommener sozialer Isolation leben musste, zeigen die fatalen Folgen von sozialer Bindungslosigkeit oder Bindungsverlust und die negativen Auswirkungen auf Wohlempfinden, Leistungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung“ (Beck, 2020, S. 55/56).

Lösungsansätze

Es gibt immer nur individuelle Wege und Prozesse der Veränderung und persönlichen Lösungen. Von daher kann es keine Rezepte geben, sondern nur Denkanstöße und berufliche Fachlichkeit, um die psychiatrisch-pflegerisches spezifisches Wissen in den Kontext der jeweiligen persönlich geprägten Situation zu setzen und gemeinsam mit dem psychisch erkrankten Menschen nach gangbaren Wegen zu suchen, damit er seine Ziele und erwünschte oder angestrebte Lebensqualität in seinem Fortschrittsrhythmus entwickeln kann und die Unterstützung, Hilfe und Pflege bekommt, die er benötigt.

Unsere Gesellschaft befindet sich gegenwärtig mitten im Auge eines gewaltigen Hurrikans einer massiven, umfassenden Traumatisierung. In der schockhaften Konfrontation mit einem Trauma und, vor allem, in der Bewältigung von traumatischen Ereignissen sind metaphorische Narrative als psychologische Hilfskonstruktionen für die Wiederherstellung von Stabilität und Struktur kaum zu überschätzen. Dabei müssen wir auf das ideologische und emotionale Potential dieser Konstruktionen achten. (Beck, 2020, S. 59 / 60)

Der Begriff »Resilienz« leitet sich vom englischen Wort »resilience« ab, das mit Spannkraft, Widerstandsfähigkeit oder Elastizität übersetzt werden kann und die Fähigkeit einer Person beschreibt, widrige Lebensumstände erfolgreich zu bewältigen und sich ihnen gegebenenfalls anzupassen. Resiliente Menschen verfügen über eine positive Selbst- und Fremdeinschätzung trotz Risikobelastung; auch unter möglicherweise extremen Belastungen bleiben sie von psychischen Störungen verschont, bei ihnen ist die Fähigkeit zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben bei belastenden, evtl. traumatischen Erfahrungen ausgeprägt (vgl. Wustmann 2004).

Resilienz stellt das Gegenstück zur Vulnerabilität dar, das heißt der Verwundbarkeit eines Menschen gegenüber ungünstigen Lebensumständen. Im Gegensatz zu einem resilienten gelingt es dem vulnerablen Menschen nicht, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, da ihm Bewältigungskompetenzen und soziale Unterstützung fehlen, um Belastungssituationen zu meistern (Barwinski, 2020, S. 102).

Der Rhythmus, der persönliche wie der einer Gemeinschaft, sollte immer mit Augenmaß und einem Gefühl für die Umgebung und die Umstände betrachtet und gelebt werden. Es geht nicht um Beliebigkeit, manche Gewohnheiten muss man sich auch erst antrainieren (Grün, 2020, S. 39). Dabei können Rituale uns in Umbrüchen und Krisen noch etwas anderes geben: nämlich das Gefühl, das wir bei uns selbst sind (Grün, S. 40).

Auch der Recovery-Ansatz, der eng verbunden ist mit der Selbstbestimmung des Empowerment-Gedankens, geht davon aus, dass es tragfähige Beziehungen braucht, um einen Rahmen zu schaffen, fachlich-kompetente Hilfestellungen durch Krisen und die Erkrankung zu ermöglichen. Um den Recovery-Prozess anzustoßen und Hoffnung zu vermitteln, braucht es Pflegende, die an mögliche Veränderungen glauben. Im Zusammenhang mit dem Recovery-Prozess. Fragen, die professionell Pflegenden weiterhelfen sind beispielsweise (Schädle-Deininger/Wegmüller, 2017, S.274):

  • Was kann der/die professionell Pflegende zur Wiedererlangung des Selbstvertrauens und des Glaubens der Person an sich selbst tun?
  • Welche Anteile der pflegerischen Begleitung machen es möglich, dass Betroffene die Freiheit haben, ihren Sinn und Lebenszwecke wiederzufinden und/oder zu entwickeln?
  • Welche pflegerischen Mittel haben psychiatrisch Pflegende, um die Entwicklung des (Selbst-)Vertrauens zu unterstützen und Herausforderungen anzunehmen?
  • Welches pflegerische „Handwerkszeug“ hat der/die Professionelle, um die betroffene Person dabei zu unterstützen, sich eigene Methoden zu erarbeiten, um kritischen oder bedrohlichen Situationen zu begegnen und diese zu bewältigen?

Deutlich wurde durch Mitteilungen von Kolleginnen und Kollegen in unterschiedlichen Kontexten der psychosozialen Versorgung, dass im Umgang mit den Bedingungen der Pandemie in Teams, in denen Phantasie, Mut und Engagement vorherrschen, viele kreative Lösungen für den einzelnen psychisch erkrankten Menschen und seine individuelle Situation gefunden wurden und werden.

Ausblick

Die Erfahrungen, die derzeit von allen Berufsgruppen in der psychosozialen Praxis gemacht werden, sind sehr unterschiedlich bzw. gegensätzlich. Es wird darauf ankommen. aufgrund dieser Erfahrungen, zu untersuchen, welche Wirkfaktoren möglicherweise dabei helfen, auch in extremen Situationen einigermaßen stabil zu bleiben und Krisen zu überstehen.

  • Ist es eher das soziale Netz, das auf unterschiedliche Weise aufrechterhalten wird, auch wenn Beschränkungen gelten?
  • Oder sind es die professionellen Kontakte, auf die zurückgegriffen werden kann, weil diese bereits bestehen?
  • Könnte es sein, dass durch solche Rahmenbedingungen eher resilientes Verhalten im Sinne von Mobilisierung der Widerstandsfähigkeit und der eigenen Ressourcen zum Tragen kommen oder besser kommen können?

Es gibt sicher viele weitere Fragen, die sich lohnen beforscht zu werden, um weitere Konzepte zu entwickeln, die der Situation Rechnung tragen, dass wir mit dem Corona-Virus noch lange zu tun haben.

Bleibt die Hoffnung, dass durch Forschung die WHO in absehbarer Zeit, wie am 08. Mai 1980, also vor 40 Jahren die Pocken, Corona in nicht allzu langer Zeit als „besiegt“ deklarieren kann und zeitnah Impfstoffe und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Literatur

Barwinski, R. (2020). Die psychischen Folgen der Pandemie konstruktiv bewältigen – die Möglichkeiten der Resilienz. In R. Bering & C. Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer (S. 97-111). Stuttgart: Klett-Cotta.

Beck, V. (2020). Die ungewollte soziales Distanz in Zeiten der Corona-Pandemie: Eine Analyse der psychischen Auswirkungen (S. 54-65). In R. Bering & C. Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer. Stuttgart: Klett-Cotta.

Bering, R., Schedlich, C. & Zurek, G. (2020). Psychosoziale und psychotherapeutische Hilfen bei pandemischer Belastung. In R. Bering & C. Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer (S. 40- 52). Stuttgart: Klett-Cotta.

Bliersbach, G. (2014). Panorama gegenwärtiger Lebensängste (S. 21-29). In T. Hax-Schoppenhorst & A. Kusserow: Das Angst-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe. Bern: Hogrefe.

Bock, T. et. al. Hrsg.: (1995) Abschied von Babylon – Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie, Psychiatrie Verlag Bonn

Ciompi, L.: (1998) Affektlogik – Über die Struktur der Psycho und ihrer Entwicklung- ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Klett-Cotta Stuttgart (erste Auflage 1982)

Ciompi, L.: (2002) Gefühle, Affekte, Affektlogik – Wiener Vorlesungen, Picus Verlag Wien

Finzen, A.: (2018) Normalität – Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft, Psychiatrie Verlag Köln

Grün, A. (2020). Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung. Freiburg im Breisgau: Herder.

Richter, M. T. (2014). Das Phänomen der Angst im Krankenhaus. In T. Hax-Schoppenhorst & A. Kusserow: Das Angst-Buch für Pflege-und Gesundheitsberufe (S. 85-95). Bern: Hogrefe.

Schädle-Deininger, H.; Villinger, U.: (1996) Praktische Psychiatrische Pflege – Arbeitshilfen für den Alltag, Psychiatrie Verlag Bonn

Schädle-Deininger, H.: (2010) Menschen mit Angst professionell begegnen, pflegen: psychosozial 1/2010, Friedrich Verlag Seelze

Schädle-Deininger, H.; Wegmüller, D.: (2017) Psychiatrische Pflege – Kurzlehrbuch und Leitfaden für Weiterbildung, Praxis und Studium, Hogrefe Verlag Bern

Internet

Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation (BAGSO)e. V. „Menschen in der Pflege nicht allein lassen! Stellungnahme zur Corona-Epidemie in Deutschland Kontaktadresse (stupp@bagso.de)

Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie www.dgsp-ev.de (Stellungnahmen)

Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes sowie der Verbände der Krankenkassen auf Bundesebene zur Versorgung mit häuslicher Krankenpflege (HKP) während der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2. gültig bis zum 31. Mai 2020 – www.gkv-spitzenverband.de

Kolleg*innen der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) AG – Zentrum Psychiatrische Rehabilitation Dirk Richter, Walter Gekle und Res Hertig haben ein Papier zur Coronavirus-Pandemie erstellt „Empfehlungen für die Versorgung und Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen“ (Kontaktadresse: dirk.richter@upd.unibe.ch )

Italienische Gesellschaft für Psychiatrische Epidemiologie: „Verfahrensregelungen für psychiatrische Einrichtungen während der Coronavirus-Pandemie-Krise“ (Italienisches Original: https://siep.it/wp-content/uploads/2020/03/Istruzioni-Operative-SIEP.pdf) (Übersetzung per DeepL (www.deepl.com) Überarbeitung und Anpassung an sprachliche Gepflogenheiten: Dirk Richter, UPD Bern)

Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München geht die Konsequenzen der Corona-Pandemie pragmatisch an und stellt ein verhaltenstherapeutisches Kurzprogramm zur Verfügung.

https://www.psych.mpg.de/interventionsprogramm?c=1874001

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