Überlasst die Welt nicht die Wahnsinnigen

6. November 2020 | Rezensionen | 0 Kommentare

Rita Süssmuth zählt zu den profiliertesten Politikerinnen der vergangenen Jahrzehnte. Sie ist immer eine derjenigen gewesen, die ihre Meinung deutlich gesagt haben. In dem Buch „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“ ist dies nicht anders. Sie schreibt ein Vermächtnis an die junge Generation, ruft ihnen ins Gedächtnis, nicht nur politisch zu denken, sondern auch politisch zu handeln. „Einen Brief an die Enkel“ nennt sie das Buch im Unterteil. Lebhaft ist es vorstellbar, dass sie mit Enkelinnen und Enkeln auf dem heimischen Sofa hockt. Dabei blitzt der Kampfeswille früherer Jahre auf – anstatt Kamellen zu erzählen, was sie in ihren Laufbahnen als Hochschullehrerin und Politikerin erlebt hat.

Ja, Süssmuth sieht die politische Lage als bedrückend und bedenklich. Nicht anders ist zu verstehen, dass die Welt nicht Wahnsinnigen überlasst werden solle. Sie rät den jungen Menschen, nicht zimperlich zu sein, wenn sie den eigenen Ideen Gehör verschaffen wollen. Süssmuths „Dennoch“ besteht aus dem „tatkräftigen Widerspruch gegen die sogenannte Realpolitik, aus dem Widerspruch gegen Menschenverachtung und Populismus, aus dem Widerspruch gegen Gewalt, Fremdenhass und Dummheit“ (S. 90).

Das Buch Süssmuths zu lesen weckt auf, lässt aus einer Nachdenklichkeit einen Keim des eigenen Mutes und des Kampfeswillen wach werden. So zeigt sie zum Ende des Buchs hin, welche entscheidenden Fragen zum Gelingen der zeitgenössischen Gesellschaft gestellt werden müssten. Mit dem Fokus auf die Bildung schreibt sie, „dass wir wieder vom Menschen her denken und seiner individuellen Leistungskraft“ (S. 93) denken müssen. Beim Nachdenken über die Arbeit müsse der traditionelle Arbeitsbegriff hinter sich gelassen werden. Es müsse Platz geschaffen werden für jene Tätigkeiten, „die wir bislang … noch gar nicht kennen: Familienarbeit, Nachbarschaftsarbeit, soziale und emotionale Arbeit über den Gartenzaun hinweg“ (S. 93).

Süssmuth gehört nicht zu den Politikerinnen, die mit der Arroganz der Erfahrenen diese Ermutigungsschrift in die Welt setzt. Sie setzt bei den Menschen an, zeigt das Bemühen, aus den eigenen Erfahrungen als Mensch und als Politikerin die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie wünscht offenbar den gemeinsamen und den gemeinschaftlichen Diskurs der Menschen. Dazu eignet sich das handliche Buch, das gut während einer Zugfahrt oder in einem gemütlichen Kaffeehaus gelesen werden kann.

Bedrohungen und Ängste beantwortet Süssmuth nicht mit Resignation, sondern mit „Kraft und Wagnis“. Abwarten und Schweigen helfe nicht, sondern die Bereitschaft, „mitzuwirken, dass etwas in Bewegung kommt“.

Süssmuth empfiehlt, den Veränderungswillen mit der Kraft des Humors zu begleiten. Humor gebe Leichtigkeit, vermeide Verbissenheit. Konkret schreibt sie: „Aber mit einem Lächeln im Gesicht für eine bessere Welt einzutreten scheint mir nach wie vor der bessere Weg, als ein Messer zwischen den Zähnen zu tragen“ (S. 75). Oder mit dem schweizerischen Schriftsteller Max Frisch unterstreicht sie: Eine Krise ist eigentlich ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“ (S. 77).

Süssmuths Zwischenruf tut gut, lässt im Alltag etwas verschnaufen und erinnert daran, dass eine jede und ein jeder seine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen hat.

 

Rita Süssmuth: Überlasst die Welt nicht die Wahnsinnigen – Ein Brief an die Enkel, Bene-Verlag, München 2020, ISBN 978-3-96340-136-7, 107 Seiten, 12 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at