Psychiatrisch Pflegende begegnen in der täglichen Praxis vielen traumatisierten Menschen. Trotzdem überwiegt der Eindruck, dass in der Begegnung mit den oft komplex verstörten Betroffenen eine große Sprachlosigkeit herrscht. Die Pflegewissenschaftlerin Anja Maria Reichel setzt dieser Hilflosigkeit eine Handreichung entgegen, die eine große Relevanz für die pflegerische Praxis hat. In seinem Vorwort macht Professor Michael Schulz deutlich, welches Potential Reichels Buch hat: „Dem Buch liegt ein wohltuendes Vertrauen in die Kraft der Pflege zugrunde und gleichzeitig lässt die Autorin die Berufsgruppe nicht aus der Verantwortung“ (S. 8).
In Reichels Buch wird offensichtlich, wie schwierig die Begleitung traumatisierter Menschen sein kann. Die traumatische Situation könne so überwältigend sein, „dass es durch diese deutliche Überforderung eben nicht zu einer emotionalen Reaktion kommt“ (S. 14). Die Psyche der Betroffenen sei dann derart überfordert, dass jegliche Emotion unterdrückt werde.
Reichel erklärt in einem ersten Schritt, was ein Trauma ist. Im Anschluss zeigt sie auf, wie man Betroffenen helfen kann. Sie betont, welchen entscheidenden Einfluss Milieufaktoren bei der Begleitung Traumatisierter haben. Es werde auf ein so weit als möglich schonendes Stationsklima geachtet, das Betroffenen Rückzugsräume für die innere Arbeit an belastenden Lebensereignissen biete (S. 40). Diejenigen Menschen, die in der Trauma-Behandlung sind, tragen nach Reichel zu einem großen Teil die Verantwortung für den eigenen Genesungsprozess (S. 40).
Es fällt leicht, sich unter der Anleitung Reichels mit der traumasensiblen psychiatrischen Pflege zu beschäftigen. Die Sprache ist verständlich, der Aufbau des Buchs strukturiert, die Strukturelemente in der Gestaltung tun ihr Übriges dazu. Mit dem Blick auf die Pflegeanamnese stellt Reichel fest: „Traumabezogene Pflegeanamnesen sind anspruchsvoll, da die Informationserfassung durch zwei Problemfelder erschwert werden kann. So gibt es auf Seiten der Betroffenen oft Schuld-und Schamgefühle, die das Gespräch behindern. Insbesondere rituell missbrauchte Menschen haben darüber hinaus regelrechte Schweigegebote verinnerlicht“ (S. 61).
Reichel arbeitet konsequent den Prozess traumasensibler psychiatrischer Pflege auf. Dabei unterstreicht sie, dass es bedeutsam ist, von positiven Lebenserfahrungen zu sprechen, „denn so können Patienten sich gegenseitig dabei unterstützen, in Zukunft mehr solcher Erfahrungen zu machen“ (S. 71). Dem Grauen setzt Reichel die Freude entgegen.
Bei den Säulen traumasensibler psychiatrischer Pflege nennt Reichel die Patientenedukation und die Dialektisch-Behaviorale Therapie, imaginative Methoden und die Arbeit mit dem inneren Kind. Sie betont das Einbeziehen von Körper und Sinnen. Dabei gehe es um die Stabilisierung durch ausreichend Bewegung und die Ermöglichung heilsamer Körpererfahrungen. Bei der Beschäftigung mit dem Körper müsse man kleinschrittig und schonend vorgehen.
Wenn sich psychiatrisch Pflegende die inhaltlichen Impulse Reichels zu Herzen nehmen, dann werden vor allem die Betroffenen davon profitieren. Die Sprachlosigkeit wird sicher weichen, die professionellen Helferinnen und Helfer zu Worte und zu Handwerkszeug kommen.
Anja Maria Reichel: Traumasensible psychiatrische Pflege, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-88414-699-6, 155 Seiten, 25 Euro.