Was ist eigentlich transkulturelle Pflege? Gibt es nicht Rezepte für den Umgang mit erkrankten Menschen, die Migrationserfahrung haben? Muss sich ein Pflegender auf den kulturellen Hintergrund einlassen, den ein Mensch mitbringt, dem er in der pflegerischen Arbeit begegnet? Es gibt unzählige Fragen, die pflegerische Praktikerinnen und Praktiker haben. Auf der Such nach Antworten sind sie ständig. Für Michael Schilder und Hermann Brandenburg geht es in dem Aufsatzband um die Frage, „wie wir uns – angesichts der Vielfalt, Unübersichtlichkeit und zunehmenden Komplexität der Welt – die Dinge zurechtlegen und uns orientieren“ (S. 18).
Die Beiträge geben Orientierung, dies muss man ihnen lassen. Sie nehmen die pflegerischen Praktikerinnen und Praktiker in die Pflicht. Denn sie funktionieren nicht im Sinne einer Anleitung, wie transkulturelle Pflege stattfinden soll. Nein, Pflegende müssen die Anregungen der Aufsätze aufgreifen, sie auf der Matrix des eigenen Handlungsfeldes deklinieren. Damit geben sie Pflegenden vor allem Gestaltungsräume. Sie können im pflegerischen Alltag erproben, wie transkulturelle Pflegende gelingend stattfinden kann. Sie können sich mit Phänomenen wie Fremdheit und Anderssein, kulturelle Differenzen und Annäherungen beschäftigen.
So schreibt der Pflege-Ethiker Stefan Heuser über den „kultursensiblen Umgang mit Fremdheit“. Er unterstreicht in seinem Beitrag den Begriff der person-zentrierten Pflege. Von dieser könne gesprochen werden, „wenn der jeweils Andere in der Interaktion mit dem präsent sein wird, was sein oder ihr Leben gut werden und bleiben lässt, was sein oder ihr Leben trägt und ausmacht“ (S. 37). In diesem Zusammenhang betont Heuser, Pflegefachkräfte und andere Professionen könnten in der Versorgung „die sozialen Determinanten und mit ihnen die für die gesundheitliche Versorgung wesentlichen Aspekte des Lebenslaufs, der Lebenssituation, der Lebenswelt und der Lebenslage … in Erfahrung bringen und für die Erarbeitung eines möglichst personenbezogenen, kultursensiblen Pflegearrangements und zur Förderung der individuellen Krankheitsbewältigung berücksichtigen“ (S. 40).
Der Pflegewissenschaftler Michael Schilder setzt sich in seinen Ausführungen differenziert mit dem Begriff der transkulturellen Kompetenz auseinander. In Anlehnung an Dagmar Domenig blickt er auf eine dynamische Fähigkeit, die in pflegerischen Interaktionen zur kontext-und situationsspezifischen Bezugnahme auf das einzigartige Individuum befähige. Zu dieser Fähigkeit zähle die Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung sowie narrative Empathie. Nach Schilder bedeutet Selbstreflexivität in beruflicher Hinsicht „die Bewusstwerdung darüber, welches Menschenbild dem eigenen Handeln zugrunde liegt“ (S. 57).
Dies ist für die transkulturelle Pflege natürlich von besonderer Bedeutung. Deshalb ist Schilder und Brandenburg dafür zu danken, dass sie einen Band zusammengestellt hat, der sich nochmals mit grundlegenden Fragen beschäftigt. So schreiben die anderen Autorinnen und Autoren über die berufliche Integration von neu migrierten Pflegefachkräften, über die Pflegedidaktik sowie interkulturelle Öffnungsprozesse in der Altenhilfe und im Krankenhaus.
Für die Pflegpraktikerin, für den Pflegepraktiker ist entscheidend, dass das Buch „Transkulturelle Pflege“ Horizonte bietet, gleichzeitig den Einzelnen auffordert, seine eigene Position zu finden. Dies tut auch not, schließlich brauchen Menschen mit Migrationserfahrung eine Sensibilität, die über das eigentliche Maß hinausgeht.
Michael Schilder / Hermann Brandenburg (Hrsg.): Transkulturelle Pflege – Grundlagen und Praxis, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-033076-4, 200 Seiten, 36 Euro.