Sucht – Gehirn – Gesellschaft

2. März 2019 | Rezensionen | 0 Kommentare

Menschen fällt der Umgang mit Suchterkrankungen schwer – ob als Betroffener, als Angehöriger oder einfach nur als jemand, der sich damit beschäftigen will. Felix Tretter gehört zu denjenigen Experten, die die Sucht als Phänomen für die Allgemeinheit verstehbar machen wollen. Er macht nicht bloß dies. Tretter gehört seit vielen Jahren zu den führenden Forschern. So gelingt ihm mit dem Buch „Sucht – Gehirn – Gesellschaft“ den aktuellen wissenschaftlichen Stand mit einer Relevanz für die populäre Leserin und den populären Leser darzustellen, wie es nur wenigen Autorinnen und Autoren gelingt.

Aufhorchen lässt, wenn Tretter über „die Ökologie der süchtigen Person“ schreibt. Nach seiner Ansicht sei die Person zunächst ein bio-psycho-soziales Wesen, „also als situiertes und verkörpertes Subjekt“ (S. 61). Im Prinzip sei zwischen der Person und der Umwelt eine ausgeglichene Geben-Nehmen-Beziehung erforderlich, sonst träten Störungen auf, „die aus der Sicht als Person als Stress empfunden werden“ (S. 62). Tretter ermuntert, die Lebenswelt eines Suchtkranken anzuschauen. Dann biete sich für ein tieferes und zugleich umfassenderes Verständnis der Sucht als Entwicklungsprozess ein Konzept der „Ökologie der Person“ an (S. 72).

Eine solche Sicht verhindert natürlich, dass beispielsweise eine helfende Person in einem psychosozialen Beruf eine negative Sicht auf die Sucht an sich und die von ihr betroffenen Menschen entwickelt. Menschen ihres zu schwachen Willens wegen „anzuklagen“ reicht genauso wenig aus wie das Erklären der Sucht als neurobiologisches Phänomen, um eine Suchterkrankung zu erklären. Bei dem wissenschaftlichen Hintergrund Tretters verwundert dies nicht. Über die medizinische und psychologische Vita hinaus hat Tretter Philosophie studiert.

Sucht sei nicht nur ein Problem einer Person. Die Person sei im klassischen Ursachen-Dreieck Droge, Umwelt und Person (S. 75). Es sei wichtig, „das Seelische so zu verstehen, dass es ein eigenständiges, aber strukturiertes System ist, das allerdings von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängt“ (S. 81).

Tretter gelingt es mit dem Buch „Sucht – Gehirn – Gesellschaft“, einem tiefgründigeren Verständnis von Suchterkrankungen und dem Suchtbegriff als solchen einen Weg zu bereiten. Es erleichtert der Leserin und dem Leser, sich sachlicher mit dem Sucht-Begriff auseinanderzusetzen. Wer beispielsweise als Angehöriger eines abhängigkeitserkrankten Menschen mit einem Defizit-Verständnis der Sucht durch den Alltag geht, der findet mit dem Tretter-Buch Zugang zu einem anderen Verstehen. Es ist sicher kein ressourcenorientierter Blick auf das Phänomen der Sucht. Doch bei einer tragischen Suchterkrankung macht es sicher Sinn, sich einer Sachlichkeit in der Auseinandersetzung und Reflexion zu öffnen.

Unter anderem beschreibt Tretter die „Umwelt als Ursachengefüge der Sucht“. Er wendet den Blick nicht nur auf die Familie, sondern nimmt auch die Gemeinde und die Stadt in den Blick. Dabei erkennt er Asymmetrien zwischen Individuum und Gesellschaft.

Mit dem Buch „Sucht – Gehirn – Gesellschaft“ gelingt Tretter ein Plädoyer für einen sehr umfangreichen Begriff der Sucht. Mit seinem Buch existiert eine mehr als hilfreiche Reflexionsmatrix, die die Sucht aus der Tiefe des Unverständnisses herausholt.

Felix Tretter: Sucht – Gehirn – Gesellschaft. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2017, ISBN 978-3-95466-290-6, 242 Seiten, 29.95 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at