Spiritualität in Psychiatrie & Psychotherapie

28. August 2019 | Rezensionen | 0 Kommentare

Ein Blick in die Versorgungswirklichkeit treibt dem psychiatrischen Praktiker eigentlich die Tränen in die Augen. Denn die Religiosität und Spiritualität der betroffenen Menschen erscheint kaum im Fokus während einer Begleitung derjenigen Menschen, deren Seelen aus der Balance gekommen sind. Umso mehr lässt der Herausgeberband aufhorchen, denn Juckel, Hoffmann und Walach vorgelegt haben. Sie lösen nicht bloß das Schweigen auf, das zu herrschen scheint. Die religiöse und spirituelle Not der betroffenen Menschen kommt endlich einmal in den Blick.

Juckel, Hoffmann und Walach gelingt mit den zahlreichen Autorinnen und Autoren etwas, was viele Bücher zu Fragen der Religiosität und Spiritualität im Kontext der Versorgung psychisch erkrankter Menschen nicht schaffen. Sie beschäftigen sich mit spirituellen Traditionen, die über den Tellerrand des europäischen Westens hinausgehen. Sie gehen auf Begriffe wie Atheismus und Sinnfindung ein. So zeigt sich in den vielen Beiträgen, dass es trotz eines Bemühens um das Transzendente um Bodenhaftung geht.

Eindruck hinterlässt beispielsweise Georg Juckels Beitrag „Ein Weg, sich seelisch zu berühren“, in dem es ihm um das Annehmen, Zuwenden, Verstehen, Sinnfindung und Hilfreich-Sein geht. Juckel betont, dass es in einer therapeutischen Beziehung um Annahme gehe, „um die Möglichkeit, dass Patienten sich angenommen fühlen, um ihre Erlebnisse und Erfahrungen ein Stück zu erzählen, los zu werden“ (S. 311). Es sei wichtig, „dass es ein Klavier von Möglichkeiten gibt, der Patient nicht alleine die Stunde gestaltet, sondern es gibt mehrere Klaviertasten, sprich mehrere Arten und Methoden und es ist eine individuelle Dosierung notwendig, aber auch von Stunde zu Stunde wechselnd …“ (S. 327).

Denn Juckels Gedanken lesen sich konsequent anthropozentriert, orientieren sich an einer individuellen Not. Doch erscheint es irritierend, dass Fragen von Spiritualität und Religiosität kaum einen Ort während einer psychiatrischen Begleitung haben. Wenn es stimmt (was Juckel in den Raum stellt), dass der therapeutische Prozess wechselseitig geprägt sein muss, so stellt sich mit dem Blick auf die helfenden Menschen die Frage, welche Erfahrungen diese Menschen mit Sinnfindung und Spiritualität haben. Mit dem Betroffenen Sebastian Schröer beschäftigt sich Juckel mit den Ideen des heiligen Augustinus zum Seelenheil der Menschen. Gerade dieser multiperspektivische Diskurs erscheint aufschlussreich.

Bei den vielen Beiträgen wird deutlich, dass es weder für die Betroffenen noch die Helfenden einfach ist, Spiritualität zu bedenken. Es erscheint intellektuell wie emotional eine große Aufgabe – vor allem deshalb, weil die Fragen den Menschen existentiell bewegen, aber in seiner Komplexität auch schwer zu erfassen erscheint.

Die Lektüre des Buchs „Spiritualität in Psychiatrie & Psychotherapie“ ist eine Entdeckungsreise. Der psychiatrische Praktiker kann in eine (Denk-)Welt abtauchen, bei der er immer wieder auch Berührungsängste spürt. Es sind Erkundungen auf den Pfaden des Islam und der Ostkirche, des Taoismus und des Buddhismus, der Krankenhausseelsorge und der Achtsamkeit.

Wagen Sie es einmal, fremde Schuhe zu schnüren. Die Gefahr, dass die Schuhe zu groß ausfallen, können Sie mit einer intensiven eigenen inhaltlichen Auseinandersetzung verhindern. Und der eigene Ausflug lohnt sich, ganz sicher.

Georg Juckel, Knut Hoffmann & Harald Walach (Hrsg.): Spiritualität in Psychiatrie & Psychotherapie, Pabst Science Publishers, Lengerich 2018, ISBN 978-3-95853-382-0, 412 Seiten, 35 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at