Smartphones: Risiken und Nebenwirkungen

16. Mai 2016 | Fachwissen | 0 Kommentare

Das Smartphone ist das Schweizermesser des digitalen Zeitalters und wird vor allem von der überwiegenden Mehrheit der jungen Menschen benutzt. Umfragen zufolge beträgt der Anteil der Smartphone-Nutzer unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland bei mindestens 85%, und die Nutzer werden immer jünger: Waren früher der Übertritt in eine weiterführende Schule oder die Konfirmation Anlässe zum Verschenken eines Smartphones, bekommt man heutzutage sein erstes Smartphone schon zur Einschulung oder spätestens zur Erstkommunion! Ein Smartphone besitzt also nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren der eine oder der andere junge Mensch, sondern mittlerweile nahezu jeder.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen sind junge Menschen besonders aufgeschlossen für neue Kontakte mit anderen Menschen. Und da die sozialen Online Medien hier ganz neue Wege gehen, Gemeinschaft zu erzeugen – und wenn sie auch nur vorgegaukelt ist –sind junge Menschen besonders empfänglich für derartige Angebote. Sie essen ja auch gerne Popkorn, obgleich diese Speise vor allem Luft und leere Kalorien (Stärke und Fett) enthält, also Nahrung im Grunde nur vortäuscht anstatt tatsächlich Nahrung zu sein. Mit sozialen Online-Medien wie Facebook verhält es sich im Hinblick auf Sozialkontakte nicht anders: sie täuschen Freundschaften vor, wo in Wahrheit keine existieren. Aber die jungen Menschen fallen darauf herein, weil ihr Gespür für wirkliche Begegnung noch ebenso in Entwicklung begriffen ist wie das für wirkliche Nahrung.

Zu den schädlichen Auswirkungen digitaler Informationstechnik und insbesondere von Smartphones auf die Bildung und die Gesundheit junger Menschen liegt mittlerweile eine große Zahl von Untersuchungen vor. Nachgewiesen sind im Einzelnen Sucht, Depressionen, Ängste, geringeres Mitgefühl (Empathie) und geringere Lebenszufriedenheit, Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen (und dadurch Tagesmüdigkeit), Persönlichkeitsstörungen und vermehrte Aggressivität. Auf der körperlichen Ebene verursacht digitale Informationstechnik Bewegungsmangel und Haltungsschäden, Bluthochdruck, Übergewicht, und eine prädiabetische Stoffwechsellage (d.h. die Vorstufe von Zuckerkrankheit).

Hinzu kommen vermehrte Unachtsamkeit und Risikobereitschaft, gerade bei der Benutzung von Smartphones, was sich sowohl beim Straßen- als auch beim Geschlechtsverkehr auswirkt: In den USA sterben jährlich nach Untersuchungen der dortigen Behörden mehr als 400 Menschen durch das Lesen oder schreiben von Textnachrichten beim Autofahren (“texting while driving”); und durch ungeschützten Gelegenheits-Sex (via sogenannter “geosocial networking phone apps” wie Tinder oder Grindr) steigt die Zahl der Geschlechtskrankheiten an, wie entsprechende Studien ebenfalls zeigen.

Aus psychiatrischer Sicht ist von Bedeutung, dass die neuen digitalen Medien auf vielfache Weise Angst schüren, die von kurzen Anwandlungen der Furcht und körperlicher Anspannung bis zur völligen Unfähigkeit zu vernünftigem Handeln reichen. Eine Ausprägungsform ist die Angst, etwas zu verpassen, die auch im deutschen Sprachraum mittlerweile als FoMO (engl. für Fear of Missing Out) bezeichnet wird. Diese Angst ist grundsätzlich nicht neu, denn schon immer gab es das Gefühl, nicht dabei zu sein und etwas zu versäumen. Seitdem es jedoch zum einen soziale Netzwerke wie Facebook gibt, in denen immerfort Millionen von Menschen irgendetwas tun und darüber berichten, und zum anderen Smartphones gibt, d.h. immer und überall verfügbare digitale Endgeräte, nimmt diese Angst enorm zu: Sie betrifft mittlerweile etwa zwei von drei Nutzern.

Fomotiker (ein neues Wort für diejenigen, die an FoMO leiden, analog zum „Neurotiker“) fürchten ständig, falsche Lebensentscheidungen zu fällen, und versäumen vor lauter Überlegen, was sie tun sollten, die besten Erfahrungen. Beständige innere Unruhe, Hetzen von Ereignis zu Ereignis, der ständige Blick auf die Uhr und die Sorge, man könnte woanders etwas verpassen sowie oft der Verlust der Fähigkeit, Dinge zu genießen, gehören zu den charakteristischen Symptomen.

Verwandt, aber nicht identisch mit der Angst, etwas zu verpassen, ist eine neue Form der Trennungsangst: Die Angst, von seinem Smartphone getrennt zu sein bzw. es nicht verwenden zu können. Die Bezeichnung „Trennungsangst“ ist dabei durchaus sinnvoll, geht es doch letztlich um das Abgeschnitten-Sein von technisch vermittelten Sozialkontakten – also tatsächlich um die Trennung von anderen Menschen. Auch für diese Angst gibt es schon ein neues Wort: Nomophobie – eine Wortschöpfung aus no mobile phone und Phobie. Auch diese Angst ist häufig und betrifft mehr als 50% aller Nutzer. Etwa jeder Zweite schaltet aufgrund solcher Ängste sein Mobiltelefon nie aus. Zwei Drittel der Nutzer schläft mit oder neben dem Smartphone (um nichts zu versäumen), ein Drittel hat sich schon während intimer Kontakte an seinem Smartphone gemeldet und ein Fünftel würde lieber ohne Schuhe aus dem Haus gehen als ohne Smartphone.

In mehreren experimentellen Studien ließ sich zeigen, dass häufige Smartphone-Nutzer, denen die Nutzung für einige Minuten verboten wird, mit Angst und Stress reagieren: Puls und Blutdruck steigen und die Leistungsfähigkeit sinkt dramatisch.

Wer zudem abends vor dem Schlafengehen noch einmal auf seinen Computer oder sein Handy schaut (was über 80% bzw. über 90% aller Jugendlichen tun) der zerstört sich seinen Schlaf, weil das Blaulicht vom Bildschirm die Freisetzung des „Schlafhormons“ Melatonin hemmt. Hierdurch schlafen die jungen Leute heute bis zu zwei Stunden weniger pro Nacht und wachen zudem mit verstellter innerer Uhr – sie zeigt morgens noch Nacht an – auf. Beides bewirkt eine vermehrte Tagesmüdigkeit und mit der sitzen die jungen Leute dann in der Schule – langfristig ist das eine Bildungskatastrophe!

Hinzu kommt das hohe Sucht-Potential von Smartphones, obwohl die Smartphone-Sucht noch nicht so deutlich auf dem wissenschaftlichen Radarschirm zu sehen ist. Dies liegt daran, dass Wissenschaft Zeit braucht und das Smartphone noch nicht sehr lange existiert. Während daher die Computer- und Internet-Spielsucht mittlerweile wissenschaftlich gut untersucht und klar definiert ist – daran leiden ja nach untersuchter Population 3 bis 10% der Spieler – sind Daten zur Smartphone-Sucht noch Mangelware. Aber es gibt sie. Bei weltweit mittlerweile über sechs Milliarden verkaufen Smartphones dürfte diese Form der Sucht mittelfristig enorm an Bedeutung gewinnen, wie das Beispiel von Süd-Korea zeigt, dem Land mit der weltweit stärksten Nutzung digitaler Informationstechnik durch Kinder und Jugendliche: Mit knapp 30% Smartphone-süchtigen Jugendlichen ist Süd-Korea weltweit trauriger Spitzenreiter. Aber der Rest der Welt holt rasch auf, nicht zuletzt Deutschland: Lag hierzulande der Anteil von Sucht nach (jeglichen) digitalen Medien noch vor wenigen Jahren bei 2-3%, so wird nach einer neuen Studie vom Herbst 2015 der Anteil der allein durch das Smartphone im Hinblick auf Sucht als gefährdet einzustufenden Acht- bis Vierzehnjährigen mit 8% angegeben.

Seit Mai 2015 gibt es daher in Süd-Korea – weltweit erstmals im weltweit am stärksten betroffenen Land – ein Gesetz, das die Smartphone-Nutzung von Menschen unter 19 Jahren drastisch reglementiert und einschränkt. Dazu wird Software verwendet, die z.B. Smart Sheriff heißt und den Zugang zu Pornographie und Gewalt blockiert, die Nutzungszeit registriert und die Eltern informiert, wenn diese eine Grenze überschritten hat oder wenn bestimmte Wörter („Selbstmord“, „Schwangerschaft“, „Mobbing“) ins Smartphone eingegeben wurden. Zudem werden die Eltern angeschrieben, wenn der tägliche Smartphone-Gebrauch (der in Süd-Korea insgesamt bei 5,4 Stunden täglich liegt; vgl. Chen 2015) ein bestimmtes, voreingestelltes Maß überschritten hat.

So umstritten diese Maßnahme auch ist (Anderson 2015), so zeigt sie doch eines sehr deutlich: Dass ein Staat begriffen hat, dass seine Grundfesten erodieren, wenn man junge Menschen und deren Bildung dem unkontrollierten Profitstreben von Firmen überlässt, die zu den reichsten der Welt gehören. Google, Apple, Microsoft, Amazon und Facebook gehören zu den 10 reichsten Firmen der Welt und haben zusammen eine Marktkapitalisierung von über 2500 Milliarden US$. Wir Erwachsene haben die Verantwortung für die körperliche und geistige Gesundheit unserer Kinder!

Zu den angeführten negativen Effekten von Smartphones auf die Gesundheit junger Menschen kommen deren Auswirkungen auf die Bildung: Smartphones beeinträchtigen die Gehirnentwicklung, die Aufmerksamkeit, das Lernen und damit die Bildungskarriere. All dies wirkt sich wiederum negativ auf die Gesundheit aber auch auf deren Einkommen sowie die Lebenszufriedenheit und das Glück der nächsten Generation aus.

Diese Auswirkungen der übermäßigen Smartphone-Nutzung auf die Bildung junger Menschen sind in ihrem vollen Umfang sowie ihrer Tragweite heute noch keineswegs erschöpfend wissenschaftlich untersucht. Aber das, was man jetzt schon weiß, sollte Anlass zu großer Besorgnis, Zurückhaltung bei der Nutzung und vor allem zu weiteren Forschungsbemühungen sein. Denn Bildung und Gesundheit betreffen nicht nur den Einzelnen, sondern sind langfristig entscheidend für das Bestehen unserer Gesellschaft. Unter dieser Perspektive kommt den negativen Auswirkungen des Smartphones auf die Entwicklung sozialer Fähigkeiten – von Empathie über Autonomie bis zur Demokratie – eine ganz besondere Bedeutung zu, auf die gerade in jüngster Zeit mit zunehmender Dringlichkeit hingewiesen wird, wie beispielsweise das vom Spektrum Verlag publizierte Digitale Manifest zeigt.

Leider weigern sich viele „Experten“ bislang mehr oder weniger, die Gefahren digitaler Medien mit Hilfe dessen, was wir aus der Gehirnforschung wissen, zu untermauern. Betrachten wir als aus meiner Sicht besonders wichtiges Beispiel die Auswirkungen des Smartphones auf das Wollen. Ebenso wie das Laufen oder das Sprechen ist die Gehirnfunktion des Wollens das Ergebnis eines Lernprozesses: Die entsprechenden Zentren für „exekutive Kontrolle“ (der Philosoph Immanuel Kant hätte gesagt: „autonome Willensakte“) im Frontalhirn sind zwar zum Zeitpunkt der Geburt schon vorhanden, müssen jedoch (wie die Zentren für Motorik oder Sprache) ein Training durchlaufen, wodurch ihre Funktion überhaupt erst entsteht. Beim Laufen richtet sich ein kleines Kind irgendwie – z.B. an einem Sofa oder Stuhl oder am Bein der Großmutter auf und balanciert auf zwei Beinen, bis es wieder mehr oder weniger sanft auf seinem Popo landet. Tausende solcher Erfahrungen bewirken schließlich, dass motorische Areale die richtige Anzahl von Aktionspotentialen an die richtigen Muskeln sendet, um die Balance zu halten und nicht um zu fallen. Das Laufen – d.h. die allgemeine Fähigkeit, sich auf zwei Beinen und gewissermaßen dauernd im Umfallen befindlich aufrecht zu halten und sehr effizient fort zu bewegen – lernt man also von Fall zu Fall!

Wichtig dabei ist, dass man hier eine allgemeine Fähigkeit anhand einzelner Erfahrungen lernt. Nicht anders ist es beim Erlernen der Sprache: Schon das Neugeborene reagiert anders auf die Laute der Muttersprache als auf andere Sprachlaute, und auf Sprachlaute anders als auf andere, nicht-sprachliche Töne oder Geräusche. Im Lauf der ersten Jahre lernt es dann Wörter und deren Benutzung (Semantik, Grammatik), jeweils völlig ohne „Pauken“, weil sein Gehirn bei entsprechendem Input den Rest von selbst erledigt.

Und ebenso ist das beim Wollen. Ein junger Mensch will ständig etwas, weil er Spaß daran hat: Toben, Singen, Klettern, Malen, Spielen… Er wird sich dabei anstrengen und Mühe geben, aber nur dann, wenn es Spaß macht! Es geht jeweils darum, ein Ziel zu haben und durchzuhalten, bis es erreicht ist. Wer auf einen Baum klettern will, der hat seinen Spaß am Klettern und freut sich vor allem, wenn er oben ist! Hat er nämlich sein Ziel erreicht, ist er stolz! Das Ziel vor Augen, die Vorfreude darauf und der Spaß an der Tätigkeit helfen ihm dabei, seine Willenskraft auszubilden. So lernt er in tausenden solcher Erfahrungen: Ich nehme mir etwas vor und kann es auch erreichen. Das Wollen und nicht abgelenkte Durchhalten wird also genau so trainiert wie das Laufen und das Sprechen: in tausenden kleinen Schritten und Sätzen.

Aufmerksames Durchhalten, „sein Ding zu machen“ (wie der Rockmusiker Udo Lindenberg sagen würde), lernt man nicht, wenn man dauernd nur re-agiert (auf die nächste Mail, SMS, Facebook- oder Whatsapp-Meldung oder den nächsten Tweet), weil man permanent einen Ablenker erster Güte – sein Smartphone – mit sich herumträgt!

Das Jungendwort des Jahres 2015 – Smombie, die Zusammensetzung aus Smartphone (dem vielfach vor allem zum Spielen verwendeten Schweizermesser des digitalen Zeitalters) und Zombie (seiner Seele beraubter willenloser Mensch) – trifft diesen Tatbestand punktgenau: Smartphones zerstören die eigene Aktion, den Willen und damit die eigene Autonomie – das Selbst Sein. Früher hätte man gesagt: die Seele des Menschen. Das ist wohlgemerkt nicht die Behauptung eines bekanntermaßen medienkritischen Ulmer Psychiaters, nein, es ist die zum Wort geronnene Einsicht der jungen Leute in unserem Land, die von Vielen erlebten (und zudem wissenschaftlich erwiesene) Tatsache, dass Smartphones auf junge Menschen besonders gravierende psychologische Auswirkungen haben. So gesehen ist die globale Verbreitung von Smartphones vor allem eines: eine gesellschaftliche Katastrophe! Denn ohne eigenen Willen gibt es keine Autonomie und ohne Autonomie der Einzelnen ist Demokratie nicht möglich.

Wissen Sie, Herr Spitzer, dass unsere angehenden Lehrlinge keine Prozent- oder Bruchrechnung mehr können, ist ja nicht das Problem – das können wir ihnen beibringen. Das wirkliche Problem ist: Die jungen Leute WOLLEN nichts mehr!“ – Dies sagte mir der Personalchef eines großen deutschen Technologie-Konzerns schon vor einiger Zeit. Der Satz zeigt an, dass auch die Wirtschaft zumindest beobachtet (wie unsere Lehrer und Professoren auch), dass es mit dem Wollen junger Menschen derzeit schlecht bestellt ist. Diese wiederum klagen über „Druck“ und „Stress“, vergessen dabei jedoch, dass sie sich dies selbst erzeugen: denn Autonomie – das Gegenteil von Druck und Stress – kann man sich nur selbst nehmen, wenn man die Voraussetzungen dafür zuvor tausendfach „im Kleinen“ durch vielerlei eigene Aktivitäten (Sport, Musik, Theater, Arbeiten mit den Händen) eingeübt hat.

Für eine gut verlaufende körperliche, geistige und soziale Entwicklung der nächsten Generation zu sorgen, ist unsere wichtigste Aufgabe zur Sicherung unseres Gemeinwohls, unserer Zukunft und unserer Kultur. Der ungezügelte und allein dem Markt überlassene Gebrauch von Smartphones richtet großen Schaden an im Hinblick auf Gesundheit, Bildung, die Fähigkeit zu Empathie, Autonomie, Demokratie und damit glückender Zukunft. Die genannten Auswirkungen sind vor allem deswegen so bedeutsam, weil vor allem jüngere Menschen und von diesen nahezu alle betroffen sind. Handeln wir entsprechend!

 

 

Autor

  • Manfred Spitzer

    Herr Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte in Freiburg Medizin, Psychologie und Philosophie. Nach seiner Promotion in Medizin und Philosophie und seiner Habilitation für das Fach Psychiatrie war er als Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg tätig. Drei Forschungsaufenthalte in den USA an der Harvard University und der University of Oregon prägten das weitere wissenschaftliche Werk von Manfred Spitzer an der Schnittstelle von Neurobiologie, Psychologie und Psychiatrie. Seit 1997 ist Manfred Spitzer Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. 2004 gründete er das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL), das im Bildungsbereich sowohl Grundlagenforschung betreibt als auch Bildungseinrichtungen evaluiert und sie bei der Weiterentwicklung ihrer pädagogischen Arbeit begleitet. Manfred Spitzer ist Autor zahlreicher Bestseller.