Sich einen Begriff vom Leiden Anderer machen

20. August 2017 | Rezensionen | 0 Kommentare

Patrick Schuchter setzt sich in der vorliegenden Dissertation mit dem Sorgebegriff auseinander, indem er die Frage erörtert, wie sich die Sorge um sich, mit der Sorge um Andere verbinden lässt.

Am Beginn steht die grobe Unterscheidung von weiblich-religiös geprägter Fürsorge und männlich-philosophisch geprägter Selbst-Sorge. Der Fürsorge nähert sich der Autor exemplarisch über die Figur von Florence Nightingale an, welche für das ambivalente Verhältnis der Krankenpflege von christlich-weiblicher Fürsorglichkeit einerseits und Verwissenschaftlichung und Professionalisierung andererseits stehe. Ausgehend von Nightingale sei die religiöse Ausrichtung der Pflege, zur einer weltlichen übergegangen und liefe dabei Gefahr zu verflachen und ihren eigentlichen Kern der Würde-Arbeit einzubüßen. Wie kann es also gelingen, Berufung und Beruf so zu vereinbaren, dass beides gleichfalls erhalten bleibt?

Schuchter wendet sich hier von der Mutter der modernen Pflege hin zu Sokrates, dem Vater der Philosophie. Im Gegensatz zur Fürsorge stehe in der Philosophie die Selbst-Sorge im Zentrum. Ziel einer praktischen Philosophie sei die Befreiung des Geistes von falschen Meinungen oder Überzeugungen. Das sokratische Gespräch soll anderen helfen gute Gedanken zu gebären und erstarrtes Denken durch Fragen wieder zum Leben zu erwecken. Die Weisheit des Nichtwissens, welche das eigene Verständnis unentwegt in Frage stelle, bewirke eine Haltung der Offenheit, die in der Sorge um sich selbst zu immer neuen Erkenntnissen führe.

Die Synthese der antiken philosophischen Selbst-Sorge und der Fürsorge um hilfsbedürftige Menschen lässt sich für Schuchter in der hermeneutischen Arbeit der Sorge bilden. Leidenszustände bei anderen mit zu erleben, würde das eigene (Vor-)Verständnis an seine Grenzen bringen und zu denken geben. Jedes Verstehen sei ein sich selbst (anders) verstehen. Nicht über, sondern mit den Geschichten der Anderen zu denken, erlaube es in die jeweilige Logik der Erzählung einzutauchen. Sorge heißt demzufolge, eine hermeneutische Arbeit des Mitdenkens und Mitgehens im Erzählen zu leisten.

Schuchters Buch ist ein Beitrag zur Care-Ethik und bietet durch die hermeneutische Arbeit der Sorge eine Möglichkeit, das asymmetrische Verhältnis zwischen Fürsorge und Selbst-Sorge bzw. zwischen hilfsbedürftigen und helfenden Menschen zu verringern und in der Sorge für ein gutes Leben zu verbinden.

Schuchter, Patrick (2016): Sich einen Begriff vom Leiden Anderer machen. Eine Praktische Philosophie der Sorge. Bielefeld: transcript.

Autor

  • Raphael Schönborn

    Sozialwirtschaft und Soz. Arbeit, BA Erziehungs- und Bildungswissenschaften, DPGKP, Sonderausbildung für Lehrtätigkeit § 65b GuKG; Lehrgangsleiter Dementia Care (Kardinal König Haus, Wien), Projektleitung ABDem (BMASK, VAEB), langjährige Praxis in der Begleitung und Beratung von Menschen mit Demenz und deren Nahestehenden (raphael-schoenborn.at), Fort- und Weiterbildungstätigkeiten, Leiter der Gesprächsgruppe „Meine Frau hat Demenz.“ (Caritas, Wien)