Pflege beschäftigt sich mit dem ganzen Menschen, auch mit Regionen des Körpers, die im Normalleben „Intimbereich“ genannt werden. Nicht nur deswegen begegnen sich Pflegende und zu Pflegende auf sexuellen konnotierten Ebenen. Früher ein klares Tabuthema im oft kirchlich organisierten Pflegeberuf, sollte Sexualität und intimes Pflegegeschehen heute Inhalt der theoretischen Ausbildung zum Krankenpflegepersonal sein.
Das Thema „Sexualität“ in Verbindung mit Pflege gilt nach wie vor eher als tabuisiert. Es ist zwar gegenwärtig vorhanden, doch beginnt die öffentliche Auseinandersetzung damit nur recht zögerlich und deren Bedeutung ist eher dezent.
In der Pflegesituation/Im Pflegealltag ist enger körperlicher Kontakt zwischen Pflegeperson und zu Pflegenden natürlicher Bestandteil der Arbeitsbeziehung. Deswegen kann man Pflege und Sexualität nicht voneinander trennen. Gatterer (2008) beschreibt es als besonders wichtig, das Thema Sexualität in der Pflegeausbildung zu integrieren und den Intimbereich des zu Pflegenden nicht auf den Bereich der Ausscheidungsfunktionen zu reduzieren.
Wenn das Pflegepersonal im Vorhinein mit möglichen Situationen und Bewältigungsstrategien für deren Umgang ausgerüstet wird, ist es beim Auftreten von solchen Situationen besser vorbereitet und kann passend reagieren.
Den Pflegenden wird im Zusammenhang mit Sexualität geringes Fachwissen, mangelndes Bewusstsein und unzureichende Gesprächsführungskompetenz unterstellt. Auch wird davon gesprochen, dass das Pflegepersonal wenig souverän im Umgang mit der Sexualität der zu Pflegenden umginge und dass es notwendig wäre, Pflegende für entsprechende Fähigkeiten zu qualifizieren (vgl. Stemmer, 2001; Zettl, 2000).
Bei so mancher Pflegetätigkeit muss die Pflegeperson mit dem Patienten an intimen Stellen Hautkontakt aufnehmen und den in der Regel verhüllten Körper des Patienten und auch die sexuelle Integrität des Patienten berühren und beäugen. Damit führen Pflegende Tätigkeiten durch, die außerhalb des pflegerischen Kontextes als sexuelles Handeln eingeordnet wären. Wird hier weiter bedacht, dass sich bei diesen Tätigkeiten meist unbekannte Menschen gegenüber sind, könnte nach Kleinevers (2004) die Pflegetätigkeit in der Intimsphäre auch als sexuelle Gewaltanwendung bezeichnet werden.
Patienten sind individuell und bedürfen individueller Pflege. Sie gehören verschiedenen Altersgruppen an, unterscheiden sich in der Fülle der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt und in ihrer kulturellen Herkunft. Eine weite Rolle spielt hier die Art der Erkrankung, körperlich oder geistig, somatisch oder psychisch.
Dass es diese Vielfalt gibt ist Fakt. Die Menschenrechte, besonders das Antidiskriminierungsgesetz verordnet, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssen, egal in wen sie sich verlieben, oder welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen. Ein Basiswissen über die multiplexen Möglichkeiten der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt ist von Vorteil um eine individuelle Pflege gewährleisten zu können.
Berühren und berührt werden
Die Berührung ist ein wesentliches Element des Pflegealltages. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob die Berührung bewusst oder unbewusst von den Pflegenden ausgeführt wird und welche Qualität sie hat. Unsere christlich-abendländische Gesellschaft setzt enge Grenzen für gesellschaftliche akzeptable Berührungen, jedoch werden gerade in der Pflege diese Intimitätsgrenzen oftmals überschritten, ohne dass dies von den Pflegepersonen erkannt wird (vgl. Schulze-Rostek et al., 2001).
Da sich Pflegeperson und Patient im Normfall persönlich fremd sind, wäre in diesem Modell der gesellschaftliche oder öffentliche Abstand angemessen. Aufgrund der Pflegebedürftigkeit des Patienten kommen sich Pflegender und zu Pflegender näher, als es ihrer Beziehung entspricht. In einer solchen Situation werden meist Gefühle ausgelöst, die sich einerseits auf die Erziehung und andererseits auf die gesellschaftlichen Normen zurückführen lassen (vgl. Schäffler, 1998).
Bei Zusammentreffen einer sexuell belasteten Situation löst das Empfindungen bei der Pflegeperson aus. Vorrangig wird hier von den Emotionen Scham, Peinlichkeit, Ekel, Lust und Schuld gesprochen. Klitzing (1997) spricht davon, dass es immer beide Seiten zu betrachten gilt. Bestimmte Pflegehandlungen können zum einen bei der Pflegeperson Empfindungen auslösen, andererseits reagiert jedoch auch die Person gegenüber, also der zu pflegende Mensch. Meist sind es Situationen, die bei beiden ähnliche Emotionen auslösen.
Erlebt ein Patient*in körperliche Entblößung, spürt er keine Kontrolle über seine visuelle Zugänglichkeit mehr und empfindet Scham und Verlegenheit.
Die Aufgaben und „Nichtaufgaben“ des Pflegepersonals
Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Prostituierte für die Pflege Kranker herangezogen. Es wurden dadurch Behandlungskosten gespart und es zeigt uns auch noch heute, welch geringes Ansehen der Beruf der Krankenschwester damals genoss. Der Grat zwischen Pflege und Prostitution war ein sehr schmaler.
Da die Krankenschwestern bei der Pflege kranker Männer Handlungen verrichteten, die nach dem bürgerlichen Frauenbild mit Prostitution gleichzusetzen waren, wurde eine Debatte ausgelöst. Jene Schwestern, die einem geistlichen Orden angehörten, waren durch ihr Keuschheitsgelübde von solch Vorurteilen befreit und galten als „immun“. Den weltlichen („wilden“) Schwestern wurde unterstellt, ihren Beruf der Krankenschwester aus sexueller Motivation gewählt zu haben (vgl. Seidl, 1993).
Eine klare Abgrenzung und Bezugnahme auf die Aufgaben bzw. „Nichtaufgaben“ könnte in manchen Situationen hilfreich sein.
Schließlich liegt es in der zwischenmenschlichen Begegnung zwischen Patient und Pflegekraft, die Spielräume auszuloten. Durch nichtpflegerische Kommunikation, verbal wie nonverbal, legen die Beteiligten die Grenzen der Begegnung fest und werden in jedem Einzelfall individuell beurteilen, inwiefern die Annäherung zugelassen oder abgewiesen wird.
Sexuelle Belästigung
Sexualität ist Teil unseres Lebens und nicht jeder Flirt oder lockere Spruch kann zwangsläufig als „sexuelle Belästigung“ gewertet werden. Dennoch stellt sich immer wieder die Frage, wo die Grenze liegt, welche respektiert werden soll. Wer sich für einen Beruf im Gesundheitswesen entscheidet, tut dies meist aus Freude am Umgang mit Menschen und Interesse an medizinischen Fragen. Die künftigen Pflegepersonen entscheiden sich für eine anstrengende, verantwortungsvolle Arbeit, deren finanzielle Entschädigung oft nicht überwältigend ist. Sie sind motiviert, Patienten und Patientinnen beim Gesundungsprozess zu helfen oder sie zu unterstützen, mit ihrer Krankheit zu leben. Meist ist die zu pflegende Person dafür dankbar und anerkennt und respektiert die Arbeit. Manche missverstehen aber das Engagement oder nutzen es gar aus.
Wichtig ist hier, dass sich die Pflegeperson über ihre Rolle im Klaren ist. Sie ist weder Mutter noch Tochter noch Schwester (!), weder Dienstmädchen noch Kellnerin. Der Arbeit wird nach klarem fachlichem Auftrag nachgegangen, der Patient wird respektiert und auch die Pflegeperson muss respektiert werden (vgl. Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, 2009).
Eine sofortige, klare Grenzziehung durch Worte oder Taten (z.B.: Verlassen des Raumes) und Besprechung im Team sollte nach einer sexuellen Belästigung von Patient*in oder Mitarbeiter*innen auf eine Pflegeperson folgen.
2012 wurden mittels standardisiertem Onlinefragebogen 3103 Pflegepersonen in Österreich, Deutschland und der Schweiz über das retrospektive Empfinden des Unterrichts zu intimen Pflegegeschehen befragt:
- 43,7 % des diplomierten Personals empfand das Ausmaß des Unterrichtes als zu wenig oder viel zu wenig. „Guter“ Unterricht zu Sexualität und Pflege führt seltener zu unangenehmen Situationen und einer höheren Zufriedenheit im Beruf.
- Das Pflegepersonal wünscht sich praxisnäheren Unterricht mit Handlungsvorschlägen zum besseren Umgang in sexuell konnotierten Situationen. Handlungsbedarf in der Aus- Fort- oder Weiterbildung zu diesem Thema besteht.
- Wenn das Pflegepersonal einen „guten“ Unterricht in intimen Pflegegeschehen genießen durfte, gefällt ihnen ihr Beruf auch insgesamt besser als jenen, welche angegeben haben den Unterricht als „schlecht“ empfunden zu haben.
Unvorbereitete Pflegepersonen finden sich häufig in undeutlichen Situationen und können die Grenze zwischen Pflege und Sexualität weder für sich selbst, noch für den zu Pflegenden deutlich ziehen. Das wiederum kann zu Verlusten in der Pflegequalität führen.
Aus- und Weiterbildungsmöglichkeit
Die Fachstelle Selbstbewusst sieht in der sexuellen Bildung auch die Aufgabe darin, Fachkräfte und Pflegepersonal zum Thema Sexualität im Pflegealltag zu schulen um mit sexuell konnotierten Situationen gut bzw. besser umgehen zu können. Des Weiteren steht die Prävention von (struktureller) sexueller Gewalt im Fokus. Sexuelle Übergriffe von Patient*innen auf das Personal, unter den Mitarbeitenden oder Ausführung sexualisierter Gewalt in Pflegesituationen auf die Patient*innen geschehen leider und müssen thematisiert und somit enttabuisiert werden. Das Erkennen und die Prävention sexueller Übergriffe/Gewalt sind weitere Schwerpunkte der Fortbildung.
Die Fachstelle Selbstbewusst bietet folgende Leistungen an:
- Seminar für Pflegepersonen innerhalb der Ausbildung
- Fortbildung für bereits ausgebildete Pflegepersonen
- Vorträge für Pflegepersonen
- Schulungen für Pflegepersonen
- Begleitung bei der Erstellung eines sexualpädagogischen und gewaltpräventiven Schutzkonzeptes
Literaturangaben:
Gatterer, G. (2008). Sexualität in der Pflege. In: Österreichische Pflegezeitschrift, H. 11, S. 13-17.
Illichmann, K. (2013). Sexualität im Pflegealltag. Ein Tabu in der Ausbildung zur diplomierten Pflegeperson? Unveröffentlichte Masterarbeit. Paris Lodron Universität.
Kleinevers, S. (2004). Sexualität und Pflege. Bewusstmachung einer verdeckten Realität. Hannover: Schlütersche.
Klitzing, W. (1997). Sexualität – Tabu in der Pflege. Die Nähe zum Patienten kann Angst machen. In: Pflegezeitschrift, Jg. 50, H. 8, S.459-464.
Schäffler, A., Menche, N., Bazlen, U., Kommerell, T. (Hrsg.) (1998). Pflege Heute. Lehrbuch und Atlas für Pflegeberufe. Stuttgart: Gustav Fischer.
Schulze – Rostek, K., Timpe, P., Vaas, M. (2001). IUE Berühren – Berührt werden. In: Wagner, F. & Osterbrink, J. (Hrsg.): Integrierte Unterrichtseinheiten. Ein Modell für die Ausbildung in der Pflege. Bern: Hans Huber. S. 95-119.
Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (2009). „Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?“ Ein Leitfaden zum Schutz vor sexueller Belästigung für Pflegefachpersonen und andere Erwerbstätige im Gesundheitswesen.
Seidl, E. (1993). Pflege im Wandel: Das soziale Umfeld der Pflege und seine historischen Wurzeln dargestellt anhand einer empirischen Untersuchung. 2. Aufl. Wien: Verlag Wilhelm Maudrich.
Stemmer, R. (2001). Grenzkonflikte in der Pflege. Patientenorientierung zwischen Umsetzungs- und Legitimationsschwierigkeiten. Frankfurt a M.: Mabuse.
Zettl, S. (2000). Krankheit, Sexualität und Pflege. Hilfestellungen für den Umgang mit einem Tabu. Stuttgart: Kohlhammer.