Können Sie sich vorstellen, dass die fünf Sinne auch bei einer Demenz von Bedeutung sind? Spätestens nach der Lektüre des Buchs „Sensorische Modulation für Menschen mit Demenz“ werden Sie davon überzeugt sein, dass dementiell veränderte Menschen gerade mit den fünf Sinnen eine große Lebendigkeit zeigen können. Jeder Kontakt und jede Sinnerfahrung könne Unbewusstes ins Bewusstsein zurückholen, stellt der deutschsprachige Herausgeber des Buchs, Thomas Buchholz, schon in seinem Geleitwort fest. Sinnlich Erlebtes bewirke erlebten Sinn.
An diesem Punkt setzt das „Sensory Modulation Programm“ an, das die Ergotherapeutin Tina Champagne entwickelt hat. Das „Sensory Modulation Programm“ hat mit den Assessments und den Interventionen das Ziel, die Selbstwahrnehmung dementiell veränderter Menschen zu fördern, sensorische Strategien zu entwickeln und sachkundig umzusetzen. Nach Champagne hat alles, „was wir in unserem Leben tun und wahrnehmen“, mit den Sinnen zu tun (S. 107).
Spürt sich die Leserin und der Leser durch die sensorischen Systeme, so wird schnell deutlich, wie flüchtig mit den fünf Sinnen bei den Betroffenen im Versorgungsalltag umgegangen wird. Nach Champagne ist der Geruchssinn optimal geeignet, „um Erinnerungen und Emotionen zu triggern“ (S. 127). Weil das olfaktorische System eng mit Emotionen verknüpft sei, müsse darauf geachtet werden, „welche Gerüche in die therapeutische Umgebung geholt werden“ (S. 127).
Mit dem Blick auf das auditive sensorische System stellt Champagne fest: „Zu viele verschiedene Geräusche, sich überlagernde Geräusche und laute oder chaotische Umgebungen können bei Menschen mit Demenz Desorientiertheit, Angst, Irritationen oder Agitiertheit auslösen. Werden sie langfristig auditorischer Stimulation ausgesetzt, sind sie schnell überfordert“ (S. 127).
Das Buch ermutigt den professionell Tätigen nicht nur, sich intensiver mit den fünf Sinnen im eigenen Versorgungssetting zu beschäftigen. Tina Champagne fordert die Praktikerinnen und Praktiker auf, bei allem beruflichen Handeln deutlich auch die Perspektive der zu versorgenden Menschen in den Blick zu nehmen. Champagnes Buch kann gut und gerne als Hinweis verstanden werden, um herausforderndes Verhalten und eskalierende Situationen im Umgang mit dementiell veränderten Menschen präventiv zu verhindern.
Bei der Raumgestaltung unterstreicht Champagne, dass die Räume, in denen sich Menschen mit Demenz aufhalten, so ausgestattet sein müssten, „dass die Förderung ihrer Eigenständigkeit, Sicherheit, Funktionalität und Stärkung im Vordergrund steht“ (S. 149). Es gehe um eine einladende Atmosphäre, individualisierte Ansätze und gepflegte Umgebungen. Sinn-und Fühlräume böten Menschen mit Demenz die Möglichkeit, „ohne Risiko eine Fülle von sensorischen Erfahrungen zu machen“ (S. 153).
Champagne setzt mit dem Buch „Sensorische Modulation für Menschen mit Demenz“ Maßstäbe. Sie nimmt die professionell Helfenden auf eine neue Weise in die Pflicht. Sie erreicht jedoch noch mehr. Beispielsweise müssen sich psychiatrisch Pflegende sehr konkrete Gedanken machen, inwieweit dieses Buch Relevanz für die eigene Arbeit hat. Vom Tisch zu wischen ist es auf jeden Fall nicht.
Tina Champagne: Sensorische Modulation für Menschen mit Demenz – Assessments und Aktivitäten für eine sensorisch anregende Umgebung zur Bedürfnisbefriedigung und Wahrnehmungsförderung, Hogrefe-Verlag, Bern 2019, ISBN 978-3-456-85988-0, 207 Seiten, 29.95 Euro.