„Selbstreflexion ist ein Schlüssel“

6. April 2023 | Christophs Pflege-Café

Christoph Müller im Gespräch mit Nathalie Schnoor

Mit dem Alleinsein und der Einsamkeit beschäftigen sich in den letzten Jahren viele Bücher. Christoph Müller hat das Gespräch mit Nathalie Schnoor gesucht, die ein Buch geschrieben hat, das stark auf die subjektiven Aspekte der Phänomene schaut,

Christoph Müller Ihr Buch ist von einer Nüchternheit geprägt, die Empathie nicht vermissen lässt. Wie ist es Ihnen gelungen, das Phänomen der Einsamkeit auf diese doppelte Weise zu sehen?

Nathalie Schnoor Die Frage freut mich sehr. Ich fand es von Anfang an wichtig, dass das Buch im ersten Schritt eine sachliche Perspektive aufgreift und einen nüchternen Ton anschlägt. Bei aller Aufmerksamkeit und Dramatik, die dem Thema aktuell auch zugeschrieben wird, handelt es sich immer noch um ein Gefühl, das fast alle Menschen schon einmal erlebt haben. Das Kontinuum und die Vielfalt dieses Gefühls sind unfassbar weit und längst nicht jede Form von Einsamkeit ist gefährlich. In gewisser Weise möchte ich damit der Pathologisierung von Einsamkeit entgegenwirken. Um herauszufinden, was hinter dem Gefühl der eigenen Einsamkeit steckt, braucht es eine mutige und empathische Selbstreflexion, zu der ich ermuntern und Gelegenheiten aufzeigen möchte. Diese doppelte Sichtweise, von der Sie sprechen, halte ich also für unabdingbar.

Christoph Müller Sachlich nähern Sie sich den körperlichen wie den seelischen Folgen von Einsamkeit. Welche Frühwarnzeichen können Betroffene eigentlich wahrnehmen, um eigene Schutzmechanismen wachzurufen?

Nathalie Schnoor Die körperlichen und andere pathologische Folgen sind erst nach langanhaltender starker Einsamkeit zu beobachten. Hier kann man nicht mehr von Frühwarnzeichen sprechen. Ein deutliches Zeichen ist, wenn man sich immer wieder in Widersprüchen oder dysfunktionalen Spiralen wiederfindet. Wenn ich zum Beispiel auf der einen Seite den Kontakt mit anderen vermisse, das Alleinsein nicht genießen kann und dennoch Kontaktangebote von anderen Menschen ablehne und mich einigele. In so einem Widerspruch leben, kann Zeichen dafür sein, dass etwas nicht im Reinen ist.

Christoph Müller Im Buch schlagen Sie Beispiele vor, wie sich betroffene Menschen selbst erforschen können. Welche eigenen positiven Erfahrungen verbinden Sie damit?

Nathalie Schnoor Mit Selbstreflexion habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht. Das kennen Sie vielleicht auch: Man spürt eine diffuse Unzufriedenheit und muss erst einmal „ordnen“, wo eigentlich der Schuh drückt. Mir hilft da das Tagebuchschreiben sehr. Und auch das Lesen, das Aufsuchen der Natur, Spaziergänge. Das alles hilft mir persönlich, Kontakt mit mir herzustellen und mir meiner Gefühle und Situation klarzuwerden.

Christoph Müller Ist Einsamkeit eigentlich ein Phänomen der Gegenwart? Oder hat es einsame Menschen auch zu anderen Zeiten gegeben?

Nathalie Schnoor Ganz sicher hat es sie schon immer gegeben – in der Philosophie und Anthropologie wird Einsamkeit schon sehr lange behandelt. Als psychologisches Phänomen, das empirisch erforscht und erfasst wird, existiert sie dagegen vergleichsweise kurz. Deshalb lassen sich Statistiken auch nicht über einen langen Zeitraum in die Vergangenheit betrachten und vergleichen. Klar ist allerdings, dass Einsamkeit gravierende gesundheitliche Konsequenzen haben kann und dass sie deshalb explizit von den Gesundheitswissenschaften in den Blick genommen werden sollte.

Christoph Müller Im Buch wird deutlich, dass Einsamkeit auch etwas damit zu tun hat, wie ich die Verbindung zu mir und zum Anderen pflegen kann. Dabei kommt mir der Begriff der Resonanz in den Sinn, wie der Soziologe Hartmut Rosa ihn prägt. Wie gelingt es denn, den Blick auf die Beziehung zur Welt zu richten?

Nathalie Schnoor Auch hier halte ich die Selbstreflexion für einen Schlüssel. Indem ich mich ehrlich frage, was ich in meinem Leben und in der Welt suche, mit wem ich mich umgeben möchte und welche Werte für mich wichtig sind, schaffe ich die erste Bedingung der Resonanz. Ein wichtiger Aspekt der Resonanz ist dabei sicherlich die ehrliche Authentizität. Ich muss ehrlich hinterfragen, in welchen Beziehungen und Kontexten, ich „einfach ich“ sein kann. Und den Mut haben, mich von Beziehungen zu lösen, in denen das nicht der Fall ist. Hier ist keine Resonanz möglich.

Christoph Müller Wenn Sie die Beziehung zur Natur beschreiben, dann muss aus meiner Sicht die Offenheit für das Wechselspiel zwischen Menschen und Umwelt gegeben sein. Aber ist das nicht das eigentliche Problem von einsamen Menschen?

Nathalie Schnoor Ja, fehlende Offenheit und der damit einhergehende Teufelskreis sind in der Tat Charakteristika für intensive Einsamkeit. Oft kann gerade die Natur Einsamkeitsgefühle abfedern und guttun. In einer Studie hat sich gezeigt, dass dies gerade dann der Fall, wenn keine anderen Menschen hör- oder sichtbar waren. Hier gilt es noch viel zu erforschen und die genaue Dynamik zwischen Einsamkeit und Natur zu ergründen. Eine Begründung, die sich andeutet, ist die, dass Menschen sich durch den Kontakt zur Natur oft zu etwas größerem zugehörig und deshalb weniger einsam fühlen. Für einige Menschen entsteht die Einsamkeit auch aus dem Gefühl heraus, von anderen Menschen (beispielsweise wegen ihres Aussehens) abgelehnt zu werden. Hier könnte die Natur einen Raum ohne Verurteilungen darstellen. Das gilt es, wie gesagt, zu untersuchen.

Christoph Müller Was wünschen Sie den Menschen in einer Zeit der Pandemie, kriegerischer Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Unsicherheit mit dem Blick auf das soziale Leben?

Nathalie Schnoor Eine große Frage. Ich wünsche allen Menschen die Fähigkeit, Hilfe anzubieten, wenn es nötig erscheint und ebenso sehr, diese anzunehmen. Ich wünsche uns allen einen Blick auf die größeren Ziele, zu deren Erreichung unsere heutigen Einschränkungen und Belastungen einen Teil beitragen. Die finanziellen Belastungen durch Inflation und Energiepolitik, mögliche erneute Kontaktbeschränkungen durch Corona und politische Konflikte können ein Weg zu Gesundheit, Unabhängigkeit und langfristiger Sicherheit sein. Ich hoffe auf die Besonnenheit, dass wir diesen Herausforderungen mit Solidarität und Verantwortungsgefühl auch für andere begegnen, nicht mit Ressentiments und Konkurrenzdenken.

Christoph Müller Für die ehrlichen Einsichten sage ich ein herzliches Dankeschön.

 

Das Buch, um das es geht

Nathalie Schnoor: Einsamkeit verstehen – In guter Verbindung mit mir und anderen, Balance Medien Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-86739-259-4, 160 Seiten, 18 Euro.

 

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at