Menschen, die in psychosozialen und therapeutischen Berufen arbeiten, können den Fragen um ihre Stärken, Schwächen und Eigenarten im Kontakt mit den Patienten / Klienten / Kunden kaum ausweichen. In der Ausbildung haben sie vielleicht Selbsterfahrungsseminare besucht und nehmen Supervision in Anspruch, um möglichst gut in ihrer Arbeit zu sein. Schwierigkeiten mit dem Gegenüber werden nach den Anteilen befragt, die durch die eigene Persönlichkeit mitbedingt sind. Oder es werden Strategien überlegt, wie man mit seinen Stärken und Schwächen bestimmte Konstellationen und Psychodynamiken am besten bewältigt und sich vor Überlastung schützt. Projektionen und Gegenprojektionen werden analysiert. Manchmal wird durch Videoaufnahmen und Feedback ein Verhalten kritisch überprüft. Ein gewolltes Verhalten oder eine Technik werden eingeübt und die berufliche Kompetenz verbessert. So selbstverständlich wie Selbsterfahrung den meisten erscheint, so wenig ist tatsächlich klar, was Selbsterfahrung genau sein soll. Was ist das Ziel der Selbsterfahrung und wem dient sie?
Zunächst kann man die Frage stellen, was Selbsterfahrung von Erfahrung unterscheidet. Erfahrung beruht auf Wahrnehmung, erklärt diese jedoch nicht. „Bloße Wahrnehmung mit den Sinnen kann uns täuschen. Bloße Herleitung aus Begriffen kann uns in realitätsferne Konstrukte verstricken. Es ist die Erfahrung, durch die uns das Wirkliche unter seinen Anspruch stellt.“ (Richard Schaeffler 2019, S. 24) Erfahrung ist eine Verarbeitung dessen, was wir wahrgenommen haben. Es kann eine Anreicherung von Wissen über unsere Umwelt sein, es kann ein Kennenlernen von durch die Wahrnehmung bedingte Eindrücke sein. Und es kann die Einsicht darin sein, dass etwas von außen uns nicht unberührt lässt. Bei einem Sonnenuntergang kann ich einfach nur beschreiben, was ich sehe. Wenn ich die richtigen Worte finde, kann sich ein anderer, der diesen Sonnenuntergang nicht sieht, sehr genau die Farben und alles Weitere vorstellen. Ich werde jedoch die Güte meiner Beschreibung daran messen, wie sehr der andere die Stimmung des Sonnenuntergangs nachempfinden kann. Dieses Zusätzliche der reinen Wahrnehmung dürften wir wohl mit Erfahrung meinen. Es ist etwas, was uns über die reinen Fakten und Daten angeht oder wie Richard Schaeffler schreibt „unter seinen Anspruch stellt“.
Dabei lassen sich äußere Eindrücke zwischen mehreren Menschen noch recht gut überprüfen. Man kann eine gemeinsame Deutung dessen finden, was man wahrgenommen hat. Wie allerdings der Einzelne empfindet, was er in sich wahrnimmt, lässt sich nicht objektivieren, es ist eben subjektiv. Ich kann von meinem Empfinden nur erzählen, wobei die Berichte von meinem Innenleben einem Transferproblem unterliegen. Ich kann gar nicht „objektiv“ wiedergeben, was ich erlebe, ich muss in Worte fassen, was mir wichtig erscheint und weiß, dass dadurch eine bestimmte Deutung vorgegeben wird, ich nehme Rücksicht darauf, dass der andere es versteht, ich habe vielleicht die Befürchtung, dass etwas missverstanden wird. Ich erzähle von etwas, worauf der andere keinen Zugang hat und doch weiß ich, dass es einen Einfluss von außen auf meine Deutungen geben kann, die meine Gefühle dazu verstören können. Eine klare Unterscheidung von Erfahrung und Selbsterfahrung gibt es daher nicht. Meine Selbsterfahrung ist nicht unabhängig von den Erfahrungen, die ich gerade in einer Gruppe oder einer Umgebung mache. Und meine Erfahrung kann durch meine Selbsterfahrung gesteuert sein. Die Frage danach, wie ich eine Wahrnehmung verarbeite und wie sie auf mich wirkt, ist immer notwendig, wenn ich ernsthaft über Erfahrung nachdenke. Wenn überhaupt kann man den Begriff Selbsterfahrung nutzen, um den Schwerpunkt meiner Auseinandersetzung mit Erfahrung zu benennen, nämlich die in mir bedingten Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen und die Art und Weise, wie ich sie verarbeite.
Was ist Erfahrung, wenn es das Ereignis dazu nicht gibt?
Beginne ich, über eine Erfahrung zu berichten, so habe ich diese Erfahrung bereits gemacht und in mein Konstrukt verwoben. Es kann sein, dass ich diese Erfahrung als sinnvoll verstehe oder dass sich diese Erfahrung gar nicht in mein Sinngefüge einpassen lässt. Beim Erzählen, dem Worte finden, dem Versuch, etwas Gewesenes verständlich zu schildern, mache ich bereits wieder Erfahrungen. Ich habe die richtigen Worte gefunden, beim Erzählen hat sich etwas als erklärbar erwiesen und die Nachfrage eines Gegenübers hat meine Perspektive etwas verändert und die Erfahrung erscheint vielleicht in einem ganz anderen Licht. Was ist jetzt konkret meine Erfahrung? Und was ist das Ereignis, auf das sich meine Erfahrung bezieht?
Obwohl es offensichtlich zu sein scheint, was ein Ereignis ist, ergeben sich bei näherer Analyse erhebliche Schwierigkeiten, ein solches genauer zu bestimmen. Der Philosoph Slavoj Zizek nimmt für seine Erörterung über das Ereignis einen Krimi von Agatha Christie zur Hilfe. Elspeth McGillicuddy fährt mit dem Zug zu ihrer Freundin. Es kommt ein Zug entgegen, Elspeth McGillicuddy sieht im Abteil des anderen Zugs, wie eine Frau erwürgt wird. Hat sie richtig gesehen? Es war nur ein kurzer Augenblick und die Sicht behindert. Ein Ereignis ist „etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis.“ (Zizek 2014, S. 8)
Wenn etwas geschieht, dann ist es irgendwann vorbei. Wenn es vorbei ist, geschieht es dann nicht mehr? Kann überhaupt etwas ein Ereignis sein, was nur ein Geschehen im Augenblick ist? Die Tatsache, dass wir von einem Ereignis reden, beruht darauf, dass das Ereignis Auswirkungen hat. Entweder sind wir direkt betroffen oder wir haben etwas wahrgenommen und erzählen davon. Somit ist ein Ereignis nicht beendet, wenn es vorbei ist. Es gehört sogar wesentlich zum Ereignis, dass es weiter geschieht. Was jedoch weiter geschieht, ist schon mehr als das Ereignis selbst. Derjenige, der mitbekommt, dass gerade etwas geschieht, nimmt es subjektiv wahr und erzählt vom Ereignis das, was ihm wichtig und wesentlich erscheint. Wird diese Erzählung eines einzelnen wiederum weitererzählt, dann kann die Erzählung so entfremdet sein, dass gar nicht mehr das ursprüngliche Ereignis erzählt wird. Wird dieses dann weiter erzählt, wird etwas für ein Ereignis gehalten, was so gar nicht passiert ist. Gab es dieses Ereignis dann vielleicht gar nicht?
Im Rückblick ist nicht mehr zu entscheiden, ob es das Ereignis überhaupt gegeben hat. Etwas, was vergangen ist, wird nicht mehr erfahren, es kann nicht realiter abgeglichen werden. Auch wenn zum Beispiel bestimmte Symptome auf ein Trauma verweisen, Psychoanalytiker Träume und frei Assoziiertes auf real erlebte Erfahrungen hindeuten, Berufserfahrungen uns sicher sein lassen, dass ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, können wir nur eine Wahrscheinlichkeit über bestimmte Aspekte des Geschehenen annehmen. Ein Zweifel am Ereignis bleibt immer, weil es nicht mehr in der Gegenwart erlebt werden kann. Die Vorstellungen davon, dass man mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit fährt, zeigen, wie eng das Gedachte über das Ereignis mit dem Ereignis selbst zusammenhängt. Wäre es möglich, in die Vergangenheit zurückzugehen, dann wäre dies ein Eingriff in das Ereignis. Das würde jedoch bewirken, dass die Ausgangsbasis, von der aus man in die Vergangenheit zurückging, nicht mehr so existiert wie zum Zeitpunkt, als man von dort in die Vergangenheit zurückging. Umgekehrt bedeutet dies, damit ich eine sichere Position im Jetzt habe, werde ich an den Erzählungen vom Ereignis festhalten wollen.
Würde die Erzählung von einem Ereignis jedoch nicht mehr verändert werden dürfen, dann hieße dies auch, dass nichts weiter geschehen könnte. Denn wenn etwas Neues geschieht, dann hat dies Auswirkungen auf die Erzählungen von früher Geschehenem. Dies bedeutet, dass eine Erzählung immer die Verbindung von mehreren Ereignissen ist. Somit gibt es ein einzelnes Ereignis gar nicht. Das, was geschehen ist, kann in seiner wahren Form nicht mehr festgestellt werden. Und da das Ereignis als solches gar nicht existieren kann, besteht im Erzählen das Ereignis. Dies ist jedoch keine Erinnerungsarbeit im Sinne eines Einsammelns von Fakten, sondern kreatives Verbinden mehrerer Geschehnisse, die alle gleichberechtigt sind. Die Suche nach einem Ursprung wäre die Auflösung des Ereignisses.
Erfahrung kann somit als ein bewusstes jedoch noch nicht ausdrücklich reflektiertes Empfinden und Fühlen beschrieben werden. Sobald das Empfinden und Fühlen reflektiert wird, bin ich gezwungen zu überlegen, wie ich erzähle und welche Muster meiner Erzählung auszumachen sind. Ich definiere den Bericht über ein Ereignis als eine Ich-Erzählung, die grundsätzlich kritisch zu bewerten und auf seine Strukturelemente hin zu überprüfen ist.
Selbsterfahrung oder Icherzählung
Wenn das Berichten einer Erfahrung eine Ich-Erzählung ist, so wäre diese von der Selbsterfahrung zu unterscheiden. Das Ich kann als eine bewusste Instanz benannt werden, die die Identität ausmacht. Von diesem Pol aus findet die Zustimmung zum Wirklichen statt, unabhängig davon, ob es sich auch um Dunkles, Bedrohliches oder „Böses“ handelt. Das Ich hat die Freiheit, die Wirklichkeit nicht moralisch deutend, sondern kritisch differenzierend zu betrachten. Das Selbst ist so eine Art Spannungsbogen vom Pol Wahrnehmender zum Pol Wahrgenommenes. Selbsterfahrung ist nicht etwas, was als Erfahrung eines Ichs zu denken ist. Identitätserfahrungen wären etwas anderes. Selbsterfahrung ist unspezifisch und zunächst auch nicht zuortbar. Mit einer schwachen Identität lassen sich kaum Selbsterfahrungen machen, weil Freiheit im oben genannten Sinne das Ich bedrohen würde und mögliche Erfahrungen moralisch ausgeschlossen würden.
Selbsterfahrung bedeutet demnach, dass etwas wahrgenommen wird, was zum eigenen Leib gehört. Erfahre ich, dass mein Atmen mit Stärke verbunden sein kann, erlebe ich die Berührung mit einem Außen, das aber auch ein Teil von mir ist, wenn es auch nur das Bild davon in meinem Inneren ist. Selbsterfahrung ist nicht die Arbeit an der eigenen Identität oder dem Ich, sondern das Wissen um Ich-Erzählung und dem Geschehen, was sich aus der Dynamik von Ich-Erzählung und Ereignis ergibt. Die Befürchtung, dass Selbsterfahrung, wie auch Supervision und eigene Therapie das Ich oder die Identität verändern könnten, ist dann berechtigt, wenn Machtgefüge oder Personen suggerieren, dass die eigene Wahrnehmung keinen Einfluss auf die Deutung der Erfahrung haben könnte. Dann wäre die Ich-Instanz in Frage gestellt, die durch die Freiheit bestimmt ist, das Wahrgenommene in einen bestimmten Zusammenhang einzuordnen und so eine Kohärenz zu schaffen, die das Ich bestätigt und die Identität stabilisiert. Reflektierte Erfahrung oder Selbsterfahrung ist die Analyse der Ich-Erzählung, die als leibliche Erfahrung erklärt und selbstkritisch befragt werden kann. Anders verhält es sich allerdings bei psychischen Auffälligkeiten wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Patienten mit diesem Krankheitsbild ist eine Ich-Erzählung meist gar nicht möglich, weil ihre Mentalisierungsfähigkeit limitiert ist und sie in einen „Als-ob-Modus“ schalten (s. Heedt 2019, S.12).
Selbsterfahrung als bewusste reflektive Ebene
Wer mit sich sorgend umgeht, wechselt auch im Alltag häufig auf eine reflektive Ebene. Während des Tuns fragt man sich, ob es nützlich und hilfreich ist, ob es mir guttut, was ich gerade tue. Menschen, die dies nicht tun, befinden sich scheinbar plötzlich in einer unmisslichen Situation oder wissen nicht, wie sie eine Situation mitsteuern können. Sie gehen nicht, wenn es am Schönsten ist, sondern weil sie nichts verpassen wollen erst dann, wenn sich die Stimmung umgekehrt hat. Die reflektive Ebene bedeutet nicht, dass man sich ständig befragt und analysiert. Am Beispiel des Flaneurs lässt sich recht gut erklären, wie die immer mitlaufende reflektive Ebene zu verstehen ist. Dem Flaneur gelingt eine gelungene Balance zwischen Selbstbeobachtung und unbeschwertem Durchstreifen der Stadt. Selbsterfahrung geschieht nebenbei, en passant. Wer die Frage internalisiert hat, wie er seine Erfahrung strukturell einschränkt, wird sich ansprechen lassen wie es der Flaneur tut. Es gibt kein gesetztes Ziel des Flanierens, außer vielleicht, dass man zum Essen zurück sein will. Der Flaneur lässt sich treiben, ist dabei jedoch nicht Teil einer Stadt.
Der Flaneur will erkunden, nutzt das Gehen zum Denken, nicht wie der Italiener, der bella figura macht und sich wie auf einer Theaterbühne präsentiert. Der Flaneur genießt das planlose Spazierengehen, er streift umher. Die Figur des Flaneurs steht für eine Form der Lebenskunst, für das genussvolle Beobachten der kleinen Dinge, die das Denken entzünden können. Der Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat dieser Art des Beobachtens und Durchstreifens als Auseinandersetzung mit anderen Künstlern und deren Werken in dem Buch „Das Ende des Flanierens“ folgenden Satz vorausgestellt: „Die Texte in diesem Buch sind Gelegenheitsarbeiten. Aber ich kann für die Worte einstehen und vertraue darauf, daß eine Sache die andere gibt.“ (Handke 1980, S. 5)
Der Flaneur, der Herumstreunende braucht dabei die Achtungslosigkeit der anderen, um sich erhaben fühlen zu können, da er etwas sieht, was die anderen nicht beachten. Es ist die Besonderheit an einer Fassade, die Farbe einer Tür, die Kombination bestimmter Formen und Farben. Gerne würde der Flaneur sein Denken anderen mitteilen. Doch er ist auch der einsame Wolf, der durch die Straßen streift und in seine Einsamkeit verliebt ist. Der Flaneur ist ein Stadtführer, der lediglich darauf hinweist, wie man eine Stadt entdecken kann und dem Geister zu folgen scheinen statt reale Touristen.
Ein angestrengtes Suchen nach Attraktionen, nach einem Kleinod oder einem Juwel dagegen verführt dazu, ein Eroberer zu sein, der seine Fundsachen abhakt. Das Herumstreunen und Entdecken folgt dem Gesetz des Zufallens. Ein Giebel, der schmucklos ist, kann durch das durch ihn ausgelöste Denken zu einer neuen Entdeckung führen, zu einer ungewohnten Denkkombination. Das Herumstreunen und Beobachten ist absichtslos. Es ist eine Übung, den gewohnten Sehmustern durch den Zufall etwas entgegen zu setzen. Die Gegenstände, Häuser, Menschen, Tiere, Pflanzen und Bäume werden als bedeutungslos auf Reset gestellt und der Flaneur lässt sich auf das ein, als was diese wahrgenommenen Objekte erscheinen. So ergeben sich ungewohnte Bedeutungen und immer wieder neue Denkbewegungen. Übungen im Rahmen der Selbsterfahrung sind ebenso ein Herumstreunen, ein absichtsloses Entdecken, ein Neu- und Umdenken durch kleine Beobachtungen, die als bedeutend für das Ganze erkannt werden. Es ist ein Flanieren in den eigenen Räumen oder Erfahrungen mit seinem Leib. Das ist ein einsamer Vorgang, der als erster Schritt gewagt werden muss. Das Feedback eines Gegenübers kann sich nicht auf die Beobachtungen und Empfindungen beziehen, sondern nur auf das davon Erzählte, die Einsamkeit wird nicht aufgelöst. Damit eine solche Rückmeldung dienlich ist, muss der Feedbackgeber den Empfindungen des Anderen gegenüber gleichgültig sein. Ebenso muss der Feedbackempfänger den Äußerungen des Anderen gegenüber gleichgültig sein. Selbsterfahrung gelingt nur, wenn ich selber mein Ich nicht in Frage stelle und andere durch ihre Gleichgültigkeit meinem Selbst gegenüber, also meinen Ich-Erzählungen, gleichgültig sind. Durch diese Gleichgültigkeit wird mein Ich nicht zur Disposition gestellt, weil keine wertenden oder moralischen Äußerungen getätigt werden. Dem Ich werden so weder Inkompetenz noch moralische „Fehler“ zugewiesen. Die Instanz des Ichs bleibt unberührt, ihr wird die Freiheit zugestanden, sich für eine Handlung und deren Bewertung zu entscheiden. Die Gleichgültigkeit in den kritischen Äußerungen macht so wiederum neue Erfahrungen möglich, da keine Handlungs- oder Deutungsvariante als „falsch“ deklariert wird. Konkret kann dies zum Beispiel bedeuten, dass mir jemand in einer Selbsterfahrungsgruppe ein Wort anbietet, das ihm zu meinen Berichten einfällt. Er folgt seinen eigenen Assoziationen, teilt sie mir absichtslos mit und ich kann dieses Wort ausprobieren, ich kann es schmecken, ohne dass mir der andere schon vorgibt, wie es schmecken könnte. Mein Repertoire wird so erweitert und ich bin besser in der Lage, Selbsterfahrung als ein Spüren der Wirkungskräfte meines Ichs zu empfinden.
Selbsterfahrung oder Bildung
Selbsterfahrung kann nur indirekt der beruflichen Kompetenz dienen. Die beschriebene Gleichgültigkeit wäre aufgehoben, wenn Selbsterfahrung ergebnisorientiert verstanden würde. Nicht der „bessere“ Umgang mit Patienten kann Ziel von Selbsterfahrung sein, sondern die Erweiterung des Repertoires, davon erzählen zu können. Das Feld zwischen Ich und Außen ist aufgeklärter, es gibt Hinordnungen auf Sinn. Letztendlich wäre Selbsterfahrung ein chaotisches und selbstzerstörendes Unterfangen, wenn nicht vorher schon bestimmt wird, auf was hin gedacht und gedeutet wird. Selbsterfahrung ist kein Selbstzweck und auch keine Schulung zur Förderung beruflicher Fertigkeiten. Selbsterfahrung kann dazu dienen, seine Arbeit besser zu machen und sich gut zu fühlen. Das Eigentliche der Selbsterfahrung ist die Arbeit daran, das eigene Wesen zu erkennen und zu verwirklichen. Wieso ergreife ich nicht die Freiheit, meine Erfahrungen einfach nur zu betrachten, Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu entdecken und nicht durch moralische Verbote zu behindern? Kann ich bestimmte Erfahrungen aufgrund meiner Persönlichkeitsstrukturen machen oder nicht machen? Also „von den Bedingungen, die wir selber erfüllen müssen, wenn es möglich sein soll, daß die Sache uns diese ihre Aspekte zeigen soll.“ (Schaeffler 2019, S. 24) Selbsterfahrung ist das Bemühen darum, dass sich mein Ich mit seinen unterschiedlichen Aspekten zeigt. Letztendlich kann dies Bildung genannt werden und zwar im Sinne einer Persönlichkeitsbildung. Diese wiederum führt zur Freiheit, wie Romano Guardini es formuliert: „Sie macht den Menschen frei für sein eigenes Wesen; …“ (Guardini 2001, S. 114) Bildung betrifft das Selbst, also die Frage, wie das Ich in sich Bilder schafft, Einstellungen für das soziale Verhalten entwickelt, Tugenden ausbildet, damit das Ich Affekte kontrollieren und sein Handeln selbstkritisch reflektieren kann. Bildung vermittelt die grundlegenden Einsichten und das notwendige Handwerkszeug, um in seinen Tätigkeiten den Bezug zum gelungenen Leben oder zur Lebenskunst in jeder Situation herstellen zu können. Selbsterfahrung ist ein Teil dieser Bildung, es ist das konkrete Einüben der Fähigkeit, sich objektiv in den Blick zu nehmen. Eine gute Bildung würde das Ich jedoch so stark motivieren, sein Selbst zu formen, also Tugenden und Fähigkeiten zur Umsetzung des Ichs zu etablieren, dass Selbsterfahrung als gesonderter Bereich überflüssig erschiene und etwas provokativ formuliert könnte man feststellen, wer eine hohe Selbstbildung hat, der muss keine Selbsterfahrungsseminare besuchen.
Literatur:
Guardini, R. (2001). Briefe über Selbstbildung. Mainz: Matthias-Grünewald.
Handke, P. (1980). Das Ende des Flanierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Heedt, T. (2019). Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das Kurzlehrbuch. Stuttgart: Schattauer.
Schaeffler, R. (2019). Das Gute, das Schöne und das Heilige. Eigenart und Bedingungen der ethischen, der ästhetischen und der religiösen Erfahrung. Freiburg / München: Karl Alber.
Zizek, S. (2014). Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: S. Fischer.