„Selbstbeziehung ist Grundlage für die Beziehungen zu Anderen“

25. Oktober 2019 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Vor einigen Jahren hat der Philosoph Wilhelm Schmid als philosophischer Seelsorger in einem Schweizer Krankenhaus gearbeitet. Seine Erfahrungen in dieser einzigartigen Rolle hat er in dem Buch „Das Leben verstehen“ dokumentiert und reflektiert. Diese seelsorgliche Arbeit ist im Zusammenhang mit seiner Lebenskunstphilosophie zu verstehen, mit der er seit Ende der 1990er Jahre Impulse setzt. Sein aktuelles Buch „Von der Kraft der Berührung“ zeigt, wie fruchtbar seine Diskurse zur Lebenskunstphilosophie sein können. Für Pflegende in unterschiedlichen Settings gilt es, seine Ideen in das eigene Arbeitsumfeld zu übertragen. Der Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid hat mit Christoph Müller bei einem Glas Wein (das seine alkoholfrei) zusammengesessen.

Christoph Müller Sie stellen fest, dass mit einer großen Selbstverständlichkeit gesehen und gehört, geschmeckt und gerochen wird. Womit begründet sich Ihrer Ansicht nach die Berührungsfeindlichkeit?

Wilhelm Schmid Das ist ein Erbgut aus alten Zeiten, die noch gar nicht so lange zurückliegen. Es ist heute fast schon vergessen und das ist gut so, aber die christliche Kultur war Jahrhunderte lang eine körperfeindliche und daher auch berührungsfeindliche Kultur. Der Körper war sarx (die Sprache des Neuen Testaments ist Griechisch), vermutlich ist das Wort „Sarg“ davon abgeleitet. Soll heißen, er war der Rede nicht wert, ja, er sollte verachtet werden, da er sterblich ist. Nur die unsterbliche Seele zählte. Das ist in der christlichen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts korrigiert worden. Auch der sterbliche Körper ist schließlich eine Schöpfung Gottes und daher zu pflegen.

Christoph Müller In pflegerischen Handlungsfeldern sind Berührungen eine Selbstverständlichkeit. Würde man Pflegende fragen, so würden sie sicher zugestehen, dass Berührungen beim pflegenden Tun etwas Funktionales haben. Haben Sie eine Idee, wie Berührungen Leben eingehaucht werden kann?

Wilhelm Schmid Es ist in Ordnung, dass es da eine professionelle Distanz gibt. Berührung kann allzu leicht auch als übergriffig empfunden werden. Damit kein Verdacht aufkommt, kann einfach mal eine Hand einen Moment länger gehalten werden. Ein Anfassen am Oberarm ist nicht missverständlich und wird von allen Menschen als freundliche Geste verstanden.

Christoph Müller Der Begriff der „berührenden Momente“ nimmt einen großen Raum bei Ihnen ein. Erzählen Sie doch einmal von den beeindruckendsten Erlebnissen in der Zeit als philosophischer Seelsorger.

Wilhelm Schmid Einmal abends gehe ich noch ans Bett einer älteren Frau, die sich schrecklich allein und fremd fühlte im Krankenhaus. Es ist gut, sich diese Perspektive auch mal klarzumachen: Für die Pflegenden und die Ärzte ist das ein vertrautes Umfeld, aber für Patienten, noch dazu ältere, ist das alles vollkommen fremd und teilweise beängstigend. Ich gebe also dieser älteren Dame die Hand, um „Gute Nacht“ zu sagen. Aber sie wollte meine Hand nicht mehr loslassen. Also habe ich mich zu ihr ans Bett gesetzt und noch eine Viertelstunde geplaudert. Dann war sie müde.

Christoph Müller Pflegerischer Alltag geschieht in einem Buberschen Sinne zwischen einem Ich und einem Du. Im besten Fall passiert es auf einer körperlichen, einer seelischen und einer geistigen Ebene, wie Sie im Buch „Von der Kraft der Berührung“ schreiben. Was machen diese unterschiedlichen Erfahrungsebenen aus?

Wilhelm Schmid Menschen begegnen sich nicht nur mit ihren Körpern, auch wenn sie dabei auf Distanz bleiben, sondern auch mit ihren Seelen. Ich verstehe die Seele als die Energie, die uns leben lässt und ohne die der Körper zusammenbricht. Diese Energie kommt in Gefühlen zum Ausdruck, die wir empfinden, auch wenn wir sie ganz für uns behalten. Und außerdem machen wir uns Gedanken, das verstehe ich unter „Geist“. Gedanken sind nicht genau dasselbe wie Gefühle. Die drei Ebenen können zusammengehen, etwa in der Liebe, aber sie können auch gut auseinandergehalten werden. Wenn ich beispielsweise an meine Liebste denke und etwas für sie fühle, muss sie nicht körperlich da sein. Wenn ich über meine Arbeit nachdenke, muss ich nicht zwingend auch etwas dabei fühlen.

Christoph Müller Wenn Sie über die Selbstberührung schreiben, kommen Aspekte der körperlichen Hygiene und der Körperpflege in den Fokus. Sie gehen inhaltlich noch weiter, beschreiben Mode als einen Modus des Seins. Wieso kommen in Einrichtungen der Gesundheits-und Wohlfahrtspflege diese Fragen für den einzelnen Menschen nicht zum Tragen?

Wilhelm Schmid Da geht es ganz schnell um Intimität. Wir wollen nicht alle Menschen an den Dingen teilhaben lassen, die nur uns selbst und vielleicht ein paar sehr vertraute Andere etwas angehen. Aber angesprochen werden könnte es in der Ausbildung vielleicht schon, dass die Selbstbeziehung die Grundlage für die Beziehungen zu Anderen ist und dass diese Selbstbeziehung auch körperliche Aspekte hat. Eine gute Selbstpflege ist eine gute Grundlage dafür, andere Menschen zu pflegen.

Christoph Müller Das gelingende Verhältnis von Nähe und Distanz kommt unter Pflegenden immer wieder zur Sprache. Es gibt jedoch keine systematische Erarbeitung dieser pflegerischen Kernfrage. Wenn ich beispielsweise das Buch „Von der Kraft der Berührung“ zum Anlass nehme, über die Balance von Nähe und Distanz nachzudenken, worauf sollte ich besonders achten?

Wilhelm Schmid Am besten ist es, wenn Sie Fehler machen. Aus Fehlern lernen wir am besten. Also einmal zu viel Nähe zuzulassen und zu bemerken, das kann auf Kosten der Professionalität gehen. Dann wieder zu viel Distanz zu wahren und zu bemerken, das kann auf Kosten der Menschlichkeit gehen. So kommt allmählich das Gespür für die richtige Balance zustande.

Christoph Müller Als es um den Humor und das Lachen geht, meinen sie, dass Lächeln in seiner Zartheit oft kraftvoller Menschen berühre als das deftige Lachen. Was macht den Charme eines Lächelns zwischen zwei Menschen aus – vor allem in existentiellen Situationen des menschlichen Lebens?

Wilhelm Schmid Ein Lächeln sagt viel mehr als viele Worte. Aber es kann sehr verschiedene Formen annehmen. Es kann ein kaltes Lächeln sein, das eine klare Distanz markiert. Und es kann ein warmes Lächeln sein, das dem Anderen signalisiert: Ich kann jetzt nicht viel sagen, aber ich fühle mit Dir. Es kommt darauf an, sich diese Unterschiede vor Augen zu führen und vielleicht auch mal vor dem Spiegel zu schauen, wie dieses und jenes Lächeln wirkt, denn das ist uns nicht immer völlig klar.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank für die Nachdenklichkeit, die mit vielen Erkenntnissen verbunden ist.

 

Das Buch, um das es geht

Wilhelm Schmid: Von der Kraft der Berührung, Insel Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-458-20522-7, 102 Seiten, 8 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at