Dass die Humanität in der psychiatrischen Versorgung als handlungsleitendes Paradigma gelebt wird, wird jede Psychiaterin und jeder Psychiater, jede Pflegende und jeder Pflegender unterschreiben. Wird der Begriff der Humanität dann konkreter in den Blick genommen, werden die Unterschiede deutlicher. Im Mittelpunkt des Buchs „Selbstbestimmung und Solidarität“ steht der Begriff der unterstützten Entscheidungsfindung. Einer jener Begriffe, der vor allem dann nachvollziehbar wird, wenn das Handeln der Menschen in der psychiatrischen Versorgung deutlich wird.
Der Psychiater Martin Zinkler unterstreicht, dass es sich um eine ressourcenorientierte Vorgehensweise handelt, „die eben nicht bei der punktuellen und kontextabhängigen Feststellung einer Einwilligungs(un)fähigkeit haltmacht, sondern die den roten Faden der Behandlung oder sozialen Unterstützung darstellt“ (S. 18). Die Autorinnen und Autoren des Bandes haben eine Ultima Ratio – Falle im Blick, wenn es um Anwendung von Zwang geht. Die Gefahr eines Bandes, der sich mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Entscheidungsfindungen in der psychiatrischen Versorgung beschäftigt, wird an dem vorliegenden Buch deutlich. Schließlich ist die Frage nach Entscheidungsfindung und Selbstbestimmung nicht nur eine theoretische, sondern durchdringt die tägliche Praxis. Und an der einen oder anderen Stelle wird die Leserin, der Leser den Eindruck nicht los, dass die Durchdringung nicht deutlich genug wird.
Wenn beispielsweise im Kontext mit den unterstützten Entscheidungsfindung bei dementiell veränderten Menschen eine barrierefreie Information der Betroffenen und Respekt vor der Autonomie der Menschen eingefordert wird, so ist dies ein ehrenwerter Ansatz. Nachdenklich stimmt jedoch, dass es keine Hinweise gibt, wie Beschäftigte zur informationellen Barrierefreiheit geschult werden. Gleichzeitig mangelt es an Überlegungen, wie die Unterstützungskultur in Versorgungseinrichtungen verändert werden kann.
Im Zusammenhang mit der Anwendung von Elektrokrampftherapie bei Depressionen bringen Brigitte Richter und Martin Zinkler Peer-Genesungsbegleiter ins Gespräch. Sie sehen es als unverzichtbar an, „die Patientin mit einem Menschen in Kontakt zu bringen, der schon einmal in den Schuhen gegangen ist, dessen Leben jedoch danach eine positive Wendung genommen hat“ (S.75). Diese Passung sei wichtig, „weil andere Menschen vermutlich durch den depressiven Panzer der Patientin nicht durchdringen und ihr Vertrauen kaum gewinnen“ (S. 75).
Die Einbeziehung von Peer-Genesungsbegleitern ist heutzutage sicher ein Qualitätsmerkmal in der psychiatrischen Versorgung. Dabei ist der Diskurs überfällig, dass Akteurinnen und Akteure in der psychiatrischen Versorgung nicht für eigene Interessen oder eigene Therapieüberzeugungen „missbraucht“ werden. Ein Blick um die Ecke offenbart immer wieder ethische Dilemmata, die durchdacht und diskutiert werden müssen.
Die Autorinnen und Autoren stellen viele Überlegungen zur unterstützten Entscheidungsfindung bei Demenz, Depressionen und Psychosen an. Sie thematisieren die Selbstbestimmung und Solidarität bei der Aufklärung über Psychopharmaka und das Reduzieren der Medikation. Sie schreiben über die unterstützte Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit rechtlichen Betreuungen und Behandlungsvereinbarungen.
Es ist gut, dass Martin Zinkler, Candelaria Mahlke und Rolf Marschner einen Anstoß zur Diskussion über unterstützte Entscheidungsfindung gegeben haben. Es zeigt, dass die weiteren Diskurse über steinige Wege führen müssen. Die Betroffenen und die Angehörigen, die Pflegenden und die Mediziner, die gesetzlichen Betreuer und die Amtsrichter – sie alle betreffen Fragen um die unterstützte Entscheidungsfindung. Und es bedarf des Mutes, Macht-und Kontrollverlust zuzulassen. Die Betroffenen werden schon wissen, was guttut.
Martin Zinkler, Candelaria Mahlke & Rolf Marschner (Hrsg.): Selbstbestimmung und Solidarität – Unterstützte Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Praxis, Psychiatrie-Verlag, Köln 2020, ISBN 978-3-88414-919-5, 240 Seiten, 35 Euro.