Es kann eine Gratwanderung sein, sich mit dem Begriff der Selbstbestimmung auseinanderzusetzen. Denn die Gefahr, einem älteren und pflegebedürftigen Menschen das Einstehen für die eigene Person abzusprechen, erscheint immer wieder groß. Die Pflege-Expertin Susette Schumann ist in keine Falle getappt. Schließlich hat sie von Anfang an deutlich gemacht, dass es bei dem Gewähren der Selbstbestimmung stets um einen Einzelfall geht. Das Verstehen des Einzelfalls beziehe sich „auf die Wahrnehmung und Deutung von verbal kommunizierten Worten, als beobachtbare Handlungen oder Situationen als Ausdruck nonverbaler Kommunikation“ (S. 11).
Was sich so lapidar liest, zeigt die innere Haltung und Werte-Orientierung Schumanns. Damit bietet sie pflegerischen Praktikerinnen und Praktikern ein argumentatives Fundament, das überzeugt. Noch mehr: Schumann unterstreicht, dass die Begleitung und Pflege hilfebedürftiger Menschen mit einem „kontinuierlichen Verstehensprozess“ (S. 13) verbunden sind. Der Verstehensprozess sei auch der Beginn einer Beziehungsgestaltung zwischen den Beteiligten.
Es stellt sich bei diesen klaren Grundlegungen Schumanns natürlich die Frage, warum der Versorgungsalltag vielerorts ganz anders gestaltet wird. Nicht nur dies: Auch die Aufsichtsbehörden scheinen mehrheitlich den Fokus auf andere Phänomene zu legen. Ein stark mechanistisches Verständnis der pflegerischen Arbeit scheint einer Mehrheit zu gefallen. Schumanns Bänden in der Reihe der Lehrbücher zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist eine große Verbreitung zu wünschen. Der übersichtliche Umfang und der jeweilige niedrige Preis begünstigen dies hoffentlich.
Juristische Begriffe sind oft schwerlich zu definieren. So begegnen die pflegerische Praktikerin und der pflegerische Praktiker dem „Nachvollziehen des mutmaßlichen Willens“ (S. 15). Schumann betont: „Dabei bezieht sich der Begriff des mutmaßlichen Willens nicht auf juristische Definition, sondern auf die Lebenssituation, auf die Biographie oder auf das Lebensumfeld der älteren Menschen in seiner ganzen Komplexität. Sie zu berücksichtigen scheint wichtig, um die nötige inhaltliche Offenheit und Subjektivität miteinander zu verbinden“ (S. 15).
Wenn Begriffe so weit gefasst werden, dann kann sich beispielsweise die Biographie-Arbeit in der Altenhilfe lohnen. Denn im Erkunden und Ausfindigmachen eines mutmaßlichen Willens stoßen Pflegefachpersonen auf Geschichten und sicher auch persönliche Haltungen der pflegebedürftigen Menschen. Welchen Nutzen birgt dies? Pflegeprozesse, Verstehensprozesse und Begleitungswege können gestaltet werden, sie müssen nicht im Sinne einer Checkliste abgearbeitet werden.
Mit Schumann die Spurensuche zu starten, hat sicherlich zur Folge, dass auch die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen oder der Qualitätsprüfrichtlinien für stationäre Pflegeeinrichtungen zu einer spannenden Erkundung werden. Wie kann es anders sein? Schumann nimmt die Pflegenden in die Pflicht, wenn sie dazu auffordert, eigene erlebte Selbst-und Fremdbestimmung zu reflektieren.
Schumann plädiert für eine gemeinsame informierte Entscheidungsfindung, wenn es um die Autonomie pflegebedürftiger Menschen geht. Dies bedeutet für sie ein Miteinander von Pflegebedürftigen, Pflegenden, aber auch An-und Zugehörigen. Wörtlich: „Ziel dieses Konzepts ist die Vermittlung von Sicherheit bei der Gestaltung des Entscheidungsprozesses zur Berücksichtigung aller Präferenzen und auch der Ambivalenzen der älteren Menschen“ (S. 49). Gut so.
Susette Schumann: Selbstbestimmung älterer Menschen – Lehrbuch zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs – Band 2, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-036348-9, 68 Seiten, 19 Euro.