Schmerz messen

25. April 2016 | Fachwissen | 0 Kommentare

„and pain is all around …“ Simon&Garfunkel, „Brigde over troubled water“(1970)

Schmerz messen – was steckt hinter dem Wert?

Schmerzen sind die häufigsten Symptome, warum Menschen in einem Krankenhaus aufgenommen werden. Um zu erfahren, wie stark die Betroffenen ihren Schmerz fühlen, werden Schmerzskalen verwendet. Die am häufigsten verwendete Skala ist dabei die numerische Rankskala, kurz NRS. Mit Schmerzskalen wird versucht, den gefühlten Schmerz sichtbar zu machen, um ihn auch entsprechend behandeln zu können.

Doch was steckt hinter diesem Wert? Häufig ist zu beobachten, dass der von den Betroffenen angegebene Wert von den behandelnden/betreuenden Personen interpretiert, also bewertet wird. Kann das stimmen? Der Wert wird oft anders eingestuft, als ihn die Betroffenen angeben (vgl. Carr/Mann, 2014, S. 67). Es scheint schwierig, den Angaben über die Schmerzstärke Glauben zu schenken, da immer gleichzeitig die eigenen Erfahrungen der betreuenden Personen gegenüber gestellt werden.

Was macht es jedoch so schwierig, den Angaben der PatientInnen zu glauben? Im folgenden wird versucht, zu erklären, welche Faktoren bei der Schmerzmessung mitberücksichtigt werden müssen, um den Schmerzwert besser zu verstehen.

Was ist Schmerz?

Seit dem Schmerzmodell von Descartes wird, vereinfacht dargestellt, davon ausgegangen, dass Schmerz abhängig von einer körperlichen Schädigung ist und die Intensität vom Ausmaß der Schädigung bestimmt wird. Wenn wir uns jedoch den Schmerz vorstellen, den wir verspüren, wenn wir uns mit einem Blatt Papier in den Finger schneiden, dann wissen wir, dass so eine minimale Verletzung oft mehr schmerzt, als andere Schädigungen. Spätestens jetzt ist klar, dass die Schmerzintensität nicht immer mit dem Ausmaß einer körperlichen Verletzung einhergeht.

Verschiedene Faktoren können die Schmerzwahrnehmung zusätzlich beeinflussen, wie zum Beispiel kulturelle („ein Indianer kennt keinen Schmerz!“) oder soziale Aspekte. Die jeweilige Grundstimmung zum Zeitpunkt des Schmerzes wirkt sich auf die Schmerzwahrnehmung ebenso aus wie seelische Faktoren (vgl. Specht-Toman/Sander-Kiesling, 2005, S. 60f).

Greifen wir auf die heiße Herdplatte, entsteht nicht sofort Schmerz, erst die Summe des sensorischen Reizes in Kombination mit den Gefühlen (Erschrecken, Angst) und den negativen Gedanken (wie schlimm ist es, entsteht eine Beeinträchtigung?) ergibt dann die Schmerzintensität.

„In Wirklichkeit ist Schmerz eine Melange aus körperlicher Sensation, Gefühlen und Informationsverarbeitung im Gehirn, das ein Verhalten auslöst. Genau genommen ist erst die negativ gefärbte Wahrnehmung eines Reizes Schmerz.“ (Albrecht, 2015, S. 60).

Schmerz wird daher erst verstanden, wenn er in Analogie zu den bisherigen eigenen Erfahrungen gesetzt wird (vgl. Müller-Busch, 2011, S. 167).

Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes hat die psychosozialen Aspekte bei der Schmerzwahrnehmung in ihrer Definition von 1994 berücksichtigt und beschreibt Schmerz als ein „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis“ (Kröner-Herwig, 2011, S. 4). Der sensorische Reiz und das Gefühl, das bei einer Schädigung entsteht, wird als Schmerz verstanden, nicht bloß der Reiz allein. Daher kann mittels Schmerzerfassung nicht allein der Reiz, also die sensorische Komponente erfasst werden, die Gefühlskomponente wird immer gleichzeitig erhoben.

Wie werden SchmerzpatientInnen wahrgenommen?

Lösen Menschen mit Schmerzen im Rahmen einer Tumorerkrankung oder einem Trauma Mitgefühl aus, sorgen Menschen mit unspezifischen, nicht näher definierbaren Schmerzen oft für Unverständnis und Ratlosigkeit, die mit einer hohen Stigmatisierung gegenüber den Betroffenen und mit Begriffen wie „hysterisch“, „wehleidig“ und „arbeitsfaul“ verknüpft sind. Aussagen wie „das kann ja gar nicht so weh tun“ oder „da ist aber nichts, was weh tun kann“  geben den Betroffenen das Gefühl, in ihrem Leiden nicht wahrgenommen zu werden.

Wie entstand die Schmerzmessung?

Der Einsatz von numerischen Skalen ist nicht neu. So finden sich die ersten Erwähnungen von graphischen Ratingskalen schon 1921 bei Hayes& Patterson, und wurden von Freyd 1923 erstmals genauer beschrieben (vgl. Freyd, 1923, S. 91f.). Diese Skalen waren Beurteilungs- bzw. Befindlichkeitsskalen, sie haben vor allem im Bereich der Psychologie die Befindlichkeit der KlientInnen erfasst („Wie fühlen Sie sich heute auf einer Skala von 0-10?“).  Scott/Huskisson beschrieben die ersten Schmerzskalen 1976, wobei die Skalen damals auch vertikal verwendet wurden (vgl. Scott/Huskisson, 1975, S. 176f).

Der Dolormeter wurde als neue Messmethode in einer Studie von 1989 beschrieben, wobei hier der Schmerz und die Gemütsverfassung getrennt erhoben wurden. Schon damals wurde erkannt, dass das Schmerzgeschehen sehr komplex ist und die Kommunikation durch viele Faktoren beeinflusst wird. Die Studie zeigte, dass zwar der Schmerz mittels Dolormeter erfasst werden kann, nicht jedoch die psychosozialen Aspekte, die zweifelsohne beim Schmerz eine große Rolle spielen (vgl. Gablenz et. al., 1989, S. 80f.).

Die numerischen Schmerzskalen messen daher meiner Meinung nach nicht nur die Intensität des Schmerzreizes, die Gedanken und Gefühle, die beim Schmerz entstehen, fließen in die Schmerzmessung unbewusst mit hinein. Wie oben beschrieben, kann Schmerz nicht isoliert wahrgenommen werden und daher auch nicht isoliert erfasst werden. Die früheren graphischen Rankskalen waren Befindlichkeitsskalen. Es wird bei der numerischen Schmerzskala immer auch die jeweilige Befindlichkeit mit erhoben. Wenn daher Angst den Schmerz verstärkt, wird ein höherer Schmerzwert angegeben. Es bedarf einer intensiven Nachfrage, um diese Angst als verstärkenden Faktor zu erfassen und entsprechend zu behandeln. Da genügt ein Schmerzmedikament allein oft nicht.

Zudem scheint es in unserem Sprachgebrauch durchaus sinnvoll, die Schmerzskala vertikal einzusetzen, die zeigt, dass unten wenig Schmerz und oben viel Schmerz empfunden wird. Horizontal befindet sich kein Schmerz und stärkster vorstellbarer Schmerz auf einer Ebene und ist unter Umständen schwerer vorstellbar.

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Was steckt hinter dem Schmerzwert?

„Wo bleibt das objektive Maß?“, zitiert Albrecht einen Arzt in seinem Buch über Schmerz. (Albrecht, 2015, S. 54). Eine objektive Messung wie beim Messen des Blutdruckes ist beim Schmerz nicht möglich. Der Schmerz bleibt eine individuelle und letztendlich einsame Erfahrung, da niemand außer den Betroffenen selbst sagen kann, wie der Schmerz gefühlt  wird.

Der Schmerz bleibt auch beim Einsatz von Schmerzskalen immer subjektiv und ist ein Selbsteinschätzungsinstrument. Selbsteinschätzung bedeutet, dass die/der Betroffene sagt, wie der Schmerz empfunden wird und im Umgang mit den Schmerzskalen vertraut ist.

Das Messen der Schmerzintensität mithilfe der NRS setzt somit eine umfassende Schmerzanamnese sowie Schulung und Information der Betroffenen über die NRS voraus (vgl. DNQP, 2011, S. 26 und 30). Eine Schmerzanamnese, die sich auf das Abfragen von vorgegebenen geschlossenen Fragen (wie zum Beispiel: „Haben sie Schmerzen?“, „Nehmen Sie Schmerzmedikamente?“) beschränkt, und die schlicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden, ist wenig aussagekräftig, um die Patientin/den Patienten in ihrer/seiner Gesamtheit wahrzunehmen und zu verstehen.

Die Gedanken und Emotionen mitberücksichtigt, wird der von den Betroffenen angegebene Wert der subjektiv empfundenen Schmerzen realer sein, als wenn man nur die körperliche Einschränkung interpretiert.

Die/der schmerzgeplagte Betroffene sieht nicht nur die Körperregion, die schmerzt, sie/er nimmt sich selbst als eine Einheit, als Ganzes wahr. Sie/Er sagt meist nicht „mein Meniskus schmerzt“, sondern „ich habe Schmerzen“.

Und dieses Ich setzt sich eben aus dem Körper sowie den Gefühlen und Gedanken zusammen. Die Schmerzintensität beinhaltet somit immer drei Komponenten: die körperlich empfundene, also der sensorische Reiz, die Gefühle und die Gedanken: diese drei Komponenten ergeben in Summe den Schmerz nach der numerischen Rankskala.

Körperlicher Reiz durch Schädigung + Gedanken + Gefühle
=
Schmerzwert nach der numerischen Rankskala

Was meint also die Patientin/der Patient, wenn sie/er sagt, sein Schmerz ist „8“? Hier ein oft beschriebenes Beispiel aus der Praxis (Grafik):

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Was sagt und was denkt die/der PatientIn?

Die Patientin/Der Patient gibt einen Schmerzwert von 8 nach der NRS an. Um auf die Ebene der Gedanken zu kommen, bedarf es von Seiten der Pflegeperson ein genaueres Nachfragen, hier können Fragen wie „beschreiben Sie mir Ihren Schmerz näher, was fühlen Sie, was denken Sie?“ hilfreich sein.

Betrachten wir zunächst den Gedanken „Ich habe furchtbare Angst und alles ist so mühsam“. Würde hier ein schmerzlinderndes Medikament verabreicht werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, das die schmerzlindernde Wirkung nicht eintritt, da das Problem dahinter immer noch besteht: nämlich die Angst und das Mühsame. Mittels einfacher Fragetechniken der motivierenden Gesprächsführung kann auf Ängste eingegangen werden und die Situation, die als mühsam empfunden wird (zum Beispiel die eingeschränkte Beweglichkeit nach einer Operation?) angesprochen werden.

Auf den Gedanken „niemand kann mir helfen, nichts wirkt, niemand glaubt mir“ kann entsprechend mit einem Beratungs- und Informationsgespräch eingegangen werden. Dadurch wird der Patientin/dem Patienten zusätzlich vermittelt, dass ihr/ihm geglaubt wird und auch individuelle Lösungen möglich sind.

Auf den negativen Gedanken „wenn ich nicht mehr arbeiten gehen kann, dann werde ich arbeitslos und kann meine Miete nicht mehr bezahlen“ gibt es den Ansatz der motivierenden Gesprächsführung, um solche Situationen anzusprechen und mögliche Ängste als begründet oder unbegründet zu interpretieren und entsprechend weitere Maßnahmen (zum Beispiel Gespräch mit PsychologInnen) einzuleiten.

Was sagt und was denkt die Pflegeperson?

Die Pflegeperson fragt mittels NRS nach dem Schmerz und bekommt zur Antwort den Wert 8. Der Gedanke der Pflegeperson „das kann ja gar nicht so weh tun“ kann mit Wissen aufgelöst werden. Schmerz ist immer subjektiv und individuell und niemand kann den Schmerz eines anderen nachempfinden. Es gibt keine Tabelle, kein Ranking, welcher Schmerz stärker oder schwächer ist.

Der Gedanke „der sieht aber nicht wie 8 aus“ erfordert ein bestimmtes Bild über die Mimik und Gestik bei einem Schmerzwert von 8. Wie muss denn eine Patientin/ein Patient mit Schmerz von 8 aussehen? Es gibt nach derzeitigem wissenschaftlichem Stand keine eindeutigen Mimik- und Gestikzeichen, die auf die bestimmte Schmerzstärke hinweisen.

Dieser Gedanke zeigt gut, wie die eigenen subjektiven Erfahrungen der Pflegeperson die Schmerzmessung beeinflussen. Pflegepersonen können zwar durch ihre berufliche Erfahrung der Meinung sein, die körperliche Schädigung sei nicht so schmerzhaft, zur letztgültigen Beurteilung fehlen ihnen jedoch die Emotionen und Gefühle sowie die sozialen Aspekte der Betroffenen, die in dieser schmerzvollen Situation entstehen. Daher kann nur die/der PatientIn selbst seinen Schmerz tatsächlich einschätzen.

Der Gedanke „und außerdem ist jetzt kein/e Ärztin/Arzt da, der ein Schmerzmittel verordnen kann, sie/er muss also warten!“ entsteht dann, wenn ÄrztInnen nicht immer erreichbar sind. Hier kann mit stationären Standards den Pflegepersonen größtmögliche Eigenständigkeit gegeben werden, sodass nach einem bestimmten Algorithmus vorgegangen werden kann. Es empfiehlt sich unter Berücksichtigung der Expertenstandards für akute wie für chronische Schmerzen entsprechende Standards auf den jeweiligen Stationen zu implementieren, um die Wartezeit bis zu einer medikamentösen Verordnung zu verkürzen und um entsprechende nicht medikamentöse schmerzlindernde Maßnahmen komplementär anwenden zu können.

Zusammenfassung:

Jeder Schmerz hat seine eigene Geschichte und diese Geschichten führen zu einer Schmerzverstärkung oder Schmerzlinderung. Jeder Schmerz hat daher auch eine eigene Wahrheit. Kein Schmerz gleicht dem anderen, selbst wenn das Krankheitsbild und die Diagnose auf den ersten Blick gleich scheinen mögen. Die eigenen Erfahrungen, das soziale Umfeld, die Emotionen und Gedanken, die in einer Schmerzsituation entstehen, sind so vielfältig wie der Mensch selbst. Wie Simon & Garfunkel sehr treffend gesungen haben, „and pain is all around“, müssen beim Schmerz alle Faktoren rund um den Schmerz berücksichtigt werden.

Das Schmerzgeschehen kann nicht mit einfachen Modellen über Schmerzaufnahme und Schmerzweiterleitung erklärt werden, zu viele Variablen wie die Gefühle und Gedanken, die sozialen Verhältnisse, die berufliche Situation, die bisherigen Erfahrungen, das Umfeld, die Tageszeit spielen eine zusätzliche Rolle beim Verarbeiten von Schmerzen.

„Schmerz kann man nicht lehren“, zitiert Albrecht einen Arzt in seinem Buch „Schmerz. Eine Befreiungsgeschichte“ (Albrecht, 2015, S. 54).  Schmerz muss in seiner Gesamtheit verstanden werden, um Patientinnen und Patienten umfassend betreuen zu können.

Literatur:
Albrecht, H. (2015): Schmerz. Eine Befreiungsgeschichte. Pattloch-Verlag.

Carr, E./Mann, E. (2014): Schmerz und Schmerzmanagement. Praxishandbuch für Pflegeberufe. 3. überarbeitete und ergänzte Auflage. Verlag Hans Huber. Bern.

Freyd, M. (1923): The graphic rating scale. Journal of Educational Psychology, 14, 83-102.

Gablenz, v. E./Heinen, B./Hesselbarth, S./Lanz, E. (1989): Differenzierung zwischen Schmerzintensität und Gemütsverfassung bei chronischen Schmerzpatienten. In: Der Schmerz. 3: 80-84. Springer-Verlag.

Hayes, M./Patterson, G. (1921): Experimental development of the graphic rating method. Psychological Bulletin, 18, 98-99.

Kröner-Herwig, B. (2011): Schmerz als biopsychosoziales Phänomen – eine Einführung. In: Kröner-Herwig, B./Frettlöh, J./Klinger, R./Nilges, P. (2011): Schmerzpsychotherapie. 7. Auflage. Springer-Verlag. Heidelberg Berlin. S. 3-13.

Müller-Busch, H.C. (2011): Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes. In: Kröner-Herwig, B./Frettlöh, J./Klinger, R./Nilges, P. (2011): Schmerzpsychotherapie. 7. Auflage. Springer-Verlag. Heidelberg Berlin. S. 165-182.

Scott, J./Huskisson, E.C. (1975): Graphic representation of pain. In: Pain, 2: 175-184. Elsevier. Amsterdam.

Specht-Toman, M./Sander-Kiesling, A. (2005): Schmerz. Wie können wir damit umgehen? Patmos Verlag GmbH&Co. KG/Walter Verlag. Düsseldorf und Zürich.

Autor

  • Svetlana Geyrhofer

    Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (Schmerzmanagement). akademisch geprüfte Expertin in der Anästhesiepflege, Lehrgangsleitung der Fort- und Weiterbildungen im Bereich Schmerzmanagement, Pädagogin, Bildungswissenschaften (Bachelor of Arts)