Turnschuhe statt Lederschuhe
Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil ist ein Meister des autobiographischen Schreibens. Viele Lebensereignisse, viele Lebenserfahrungen hat der unentwegte Chronist in seinen Büchern aufgeschrieben. So wundert es nicht, dass er das Erleiden einer schweren Herzerkrankung und vor allem den Genesungsweg zwischen zwei Buchdeckel gepackt hat.
Es ist vor allem das Mit-sich-Hadern in einer Rehabilitationsklinik, was der Roman „Ombra“ beschreibt. Da sind die ritualisierten physiotherapeutischen Aktivitäten, die Ortheil so fremd erscheinen. Das gepflegte Auftreten, das er fast siebzig Jahre seines Lebens gelebt hat, muss er nun mit Trainingskleidung tauschen. Turnschuhe statt Lederschuhe – dies kann eine verkürzte Metapher sein, die zeigt, wie sich Ortheil mit sich und seiner Erkrankung beschäftigen muss.
Für Ortheil ist die schwere Herzerkrankung gleichzeitig eine Erfahrung gewesen, ihm liebgewordene Dinge nicht in der gewohnten Weise tun zu können. So finden sich Beschreibungen, wie vorsichtig er sich beispielsweise wieder an das Schreiben herantastet, in dem er sein Leben lang Erfüllung gefunden hat. So entfremdet von sich, wie er sich erlebt hat, so fremd erscheint ihm die Welt der Rehabilitationsklinik.
In der Klinik sucht Ortheil offenbar wenig Kontakt zu denjenigen, die als seine Leidensgenossinnen und Leidensgenossen bezeichnet werden können. Stattdessen sind professionell Helfende Anker dieser schwierigen Zeit. Die behandelnde Chefärztin scheint ihm eine angenehme Gesprächspartnerin. Skeptisch blickt er auf die Psychologin, die den einen oder anderen Weg in der Klinik begleitet. Die Physiotherapeuten und vor allem die Yoga-Anleiterin haben es Ortheil angetan.
Für Ortheil ist es eine ganz neue Erfahrung, dass er nicht so kann, wie er es sich wünscht. Die Lebenskräfte fehlen ihm. So fügt er sich dem Schicksal an der einen oder anderen Stelle. Und die Kraft zur Rebellion gibt ihm natürlich die Ermutigung, seine Lebensgewohnheiten anzupassen. Da ist es keine Überraschung, dass Ortheil knorrig und eigenwillig daherkommt. Schließlich stellt sich die Frage, ob es einem selbst anders erginge.
Eine wichtige Rolle haben in Ortheils Leben die Eltern gespielt, die im Roman „Ombra“ immer wieder auftauchen. Mit ihnen, vor allem mit einem imaginären Sigmund Freud führt Ortheil in der Erzählung Dialoge. Was dem Einen als eigenartig erscheint, dies ist für den Anderen ein Zeichen dafür, dass bei allem Leiden und Erleiden eine seelische Ausgeglichenheit gegenübersteht.
Mit dem Buch „Ombra“ liefert Ortheil eine Matrix, die Menschen bei der Genesung von einer (schweren) körperlichen Erkrankung helfen kann. Ortheil erscheint als jemand, der so sehr bei sich, bei seinem Leiden und bei seinem Hadern ist, dass jede und jeder andere Betroffene den Weg zu den eigenen Urgründen und Abgründen finden kann.
Ermutigend ist es, als Ortheil nicht nur zu schreiben beginnt und somit die eigenen Lebenskräfte wieder in Gang kommen. Ermutigend ist es, wie er bei voranschreitender Genesung mal wieder den Weg in seine Heimatstadt Köln findet, die eine oder andere persönliche Wurzel wieder in den Blick nimmt und vor allem mit einem ganz neuen Gefühl wieder einmal ein Bier trinkt.
Schön sind noch seine Gedanken zum Schreiben, die fast am Ende des Buchs auftauchen: „Mein Leben scheint aus nichts anderem als Schreiben bestanden zu haben … Das Schreiben war immer notwendig und existentiell, ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben … Das Schreiben war und ist eine starke Freude und ein großes Vergnügen … Es war der Kommentar zum Leben, seine Verankerung, seine Vertiefung, seine Deutung …“ (S. 287). Damit wird auch klar, was der Roman „Ombra“ leistet.
Hanns-Josef Ortheil: Ombra – Roman einer Wiedergeburt, Luchterhand Verlag, München 2021, ISBN 978-3-630-87661-0, 298 Seiten, 24 Euro.