Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie

18. April 2020 | Rezensionen | 0 Kommentare

Es ist schon eine irritierende Situation. Für viele Menschen, deren Seelen aus der Balance geraten sind, sind Glaube und Religion von großer Bedeutung. Sie sind oft auf der Suche nach dem Transzendenten. In den Institutionen, in denen sie Unterstützung erfahren, sind Glaube und Religion von einer randständigen Bedeutung. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind nur punktuell zu erleben. Den Betroffenen den Gottesdienstbesuch zu ermöglichen, hängt vom Engagement Einzelner ab. Umso mehr lässt es aufhorchen, dass sich ein Buch mit der Religionssensibilität in der Psychotherapie und Psychiatrie beschäftigt.

Der Band hat eine große Chance, einen gewissen wegweisenden Charakter für die Auseinandersetzung von Psychotherapie und Psychiatrie mit Glauben und Religion zu haben. Die Autorinnen und Autoren des Buchs gehen nicht nur von einem multireligiösen Ansatz aus. Sie stellen nicht nur religiöse Fragen in unmittelbaren Kontext zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Phänomenen. Autorinnen und Autoren machen sich auch grundsätzliche Gedanken zu spirituellen Bedürfnissen, zur Haltung und zum Wissen als Basis religionssensibler Praxis. Religiosität und Spiritualität werden auch aus neurowissenschaftlicher Sicht beleuchtet.

So sieht der Psychiater Wielant Machleidt eine wandelnde Identität der Psychiater und Psychotherapeuten im Kontext kultur-und religionssensibler Behandlungen. In diesem Zusammenhang betont Machleidt, eine günstige Voraussetzung für interreligiöse Erkundungen sei ein Psychotherapeut, der Neugier und Interesse daran entwickele, welche Götter und Geister ihn selbst und die einzigartigen Seelenlandschaften eines Patienten bevölkerten. Der postmodernen Selbstidentität eröffne ein Wandel die Chance, „sich in einer größeren kulturellen Fließfähigkeit zu üben, als einem inneren Mobilitätszugewinn, der auch die erhöhte äußere Mobilität unserer Lebenswelt widerspiegelt“ (S. 236).

Diese optimistische und aufmunternde Haltung Machleidts eröffnet gerade Akteurinnen und Akteuren in der psychosozialen Arbeit Perspektiven. Bleibt der Einzelne, die einzelne konsequent an diesem Denken dran, so setzen die Akteurinnen und Akteure auf die Begegnung. Und noch mehr: die Wechselseitigkeit des Miteinanders. Der Psychiater und Philosoph Andreas Heinz sieht die religionssensible Haltung von Psychiatern und Psychotherapeuten als „Revolte gegen die eisige Sonne der Zweckrationalität“ (S. 36). Er setzt auf die Beziehung von Menschen: „Sie blenden den lebendigen Austausch unterschiedlicher Menschen und Kulturen aus und reduzieren ihn auf vermeintlich überzeitliche Wahrheiten, die der Selbstberuhigung dienen mögen, den offenen Zugang von Gesellschaften und ihren Akteuren aber preiszugeben drohen. Deshalb ist der sensible Umgang mit den spirituellen Sehnsüchten und religiösen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten auch immer eine Gratwanderung“ (S. 38).

Ein Wermutstropfen des Buchs ist, dass sich kein Beitrag findet, der eine bodenständige Konkretheit aus Sicht eines psychiatrisch Pflegenden zu Glaube und Religiosität zur Sprache bringt. Dies steigert natürlich den Wert des Aufsatzes von Christian Zechert, der als Angehöriger eines seelisch erkrankten Menschen beschreibt, dass es keine spezifisch religiöse oder spirituelle Einstellung von Angehörigen gebe. Zechert hofft auf eine religionssensible Psychiatrie und Psychotherapie. Für psychiatrisch Pflegende könnte dieses Buch eine Aufforderung sein, sich den religiösen Gefühlen der Menschen zu nähern, deren Seele erkrankt ist.

Norbert Mönter / Andreas Heinz / Michael Utsch (Hrsg.): Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie – Basiswissen und Praxis-Erfahrungen, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-035625-2, 246 Seiten, 35 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at