Recovery und psychische Gesundheit – Grundlagen und Praxisprojekte

13. Januar 2020 | Psyche, Rezensionen | 0 Kommentare

In der psychiatrischen Versorgung wird der Begriff „Recovery“ mit einer Selbstverständlichkeit ausgesprochen wie das Glaubensbekenntnis am sonntäglichen Hochamt in der Kirche. Dabei würde es einmal Sinn machen, bei psychiatrischen Praktikerinnen und Praktikern zu fragen, wie sie Recovery mit Leben füllen wollten. Diesen Vorschlag macht auch Elke Prestin, die aus der Selbsthilfe heraus Recovery als „einen persönlichen, ganzheitlichen, individuellen Entwicklungsprozess“ beschreibt, „zu dem die Verarbeitung des Krankheitserlebens ebenso gehört wie die Entwicklung von neuen Lebensperspektiven“ (S. 10).
Für die Zu-und Angehörigen seelisch erkrankter Menschen sowie die psychiatrischen Praktikerinnen und Praktiker erscheint es sicher schwierig, den betroffenen Menschen die Möglichkeit zu einem Profil zu geben. Hinlänglich erscheint leichter, wenn sich die Betroffenen in einer Weise entwickeln, wie es sich die Menschen um sie herum vorstellen. Das Buch „Recovery und psychische Gesundheit“ gibt nun eine Menge Hinweise, wie sich betroffene Menschen auf einem Weg wiederfinden können, den sie für sich wünschen.

Erfrischend erscheint es, dass die Autorinnen und Autoren nicht nur als Grenzgängerinnen und Grenzgänger daherkommen. Sie springen geradezu über den einen oder anderen Zaun, um das Ziel der Recovery-Orientierung und des trialogischen Miteinanders zu erreichen. So blicken beispielsweise die Psychiaterin Beate Schrank und die Angehörige Susanne Schmalwieser auf „Wellbeing-Konzepte“. In diesem Zusammenhang wird psychische Gesundheit definiert: „Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem das Individuum seine eigenen Fähigkeiten erkennt, mit den normalen Belastungen des Lebens zurechtkommt, erfolgreich seiner Arbeit nachgeht und einen Beitrag für die Gemeinschaft leistet“ (S. 70). So unterstreichen Schrank und Schmalwieser, dass es sinnvoller und zielführender sein könnte, alltägliche Quellen von Wellbeing wie Arbeit und Freundschaften, Sport und Sex für Menschen mit Psychose genauso wichtig sei wie für jede andere gesellschaftliche Gruppen (S. 73).

Einerseits setzen sich die Beiträge der Autorinnen und Autoren mit grundsätzlichen Fragen der Recovery-Orientierung auseinander. Andererseits blicken sie auf ganz konkrete Praxisprojekte, die in der psychiatrischen Versorgung vor Ort gelebt werden. Eine große Leistung des Buchs „Recovery und psychische Gesundheit“ ist es, dass einmal mehr die von einer seelischen Erkrankung Betroffenen auf Augenhöhe mit den An-und Zugehörigen sowie den psychiatrischen Praktikerinnen und Praktikern aus den unterschiedlichen Professionen zu Wort kommen.

So ist es sicherlich angemessen, die engagierten Autorinnen und Autoren als Pfad-Finderinnen und Pfad-Finder zu identifizieren, die auf ganz unterschiedlichen Wegen dafür sorgen, dass betroffene Menschen durch das Gestrüpp des Alltags und des seelischen Ungleichgewichts ihre ganz eigenen Geschichten wiederfinden.

Maya Locher, Fabio Razzai und Nadja Weber blicken auf das „Lernen als gemeinsamen Prozess“. Sie berichten über die Erfahrungsexpertise in der Aus-und Weiterbildung von Pflegenden. Sie haben es selbst als Gewinn erlebt, dass Betroffene in die Entwicklung von Curricula einbezogen worden sind. Für sie bildet sich die Einbeziehung der Erfahrungsexpertise in der Weiterentwicklung professionellen Handelns ab: „Pflegerische Interventionen werden weitergedacht und es wird gemeinsam nach neuen Lösungswegen gesucht“ (S. 226). Hoffentlich gehen die gemeinsamen Schritte noch weiter.

Gianfranco Zuaboni / Christian Burr / Andrea Winter / Michael Schulz (Hrsg.): Recovery und psychische Gesundheit – Grundlagen und Praxisprojekte, Psychiatrie Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-96605-005-0, 288 Seiten, 30 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at