Mit der dritten Auflage des „Praxisbuch Forensische Psychiatrie“ haben die beiden Herausgeber ein geradezu bewundernswertes, umfassendes, höchst differenziertes, 800seitiges Lehrbuch für die Praxis veröffentlicht. Dieses Buch, das man/frau zweifellos mit Bewunderung durchaus als Werk bezeichnen kann und darf, versucht, (fast) allen Dimensionen, die der Gegenstand der Forensischen Psychiatrie aufweist und hervorbringt, gerecht zu werden. Dieser Anspruch, bzw. besser dieses Faktum, geschieht nicht nur mittels einer umfangreichen Liste an Autor*innen. Vielmehr handelt es sich um ausgewiesene Expert*innen mit „Rang und Namen“ in dieser Thematik. Sie reißen die – sofern dies in einem Werk solchen Ausmaßes möglich ist jeweilige Fragestellung nicht nur oberflächlich an, sondern beleuchten diese tiefergehender und verweisen gleichzeitig auf entsprechende weiterführende Literatur, wenn der erreichte Diskussionsstand noch nicht ausreichend behandelt ist.
Gliederung und Struktur
Allein schon die Gliederung fordert Einiges ab: Das über 20 Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis verlangt Konzentration und Aufmerksamkeit, immer wieder zu vergleichen und es immer wieder erneut durchzugehen, zu bearbeiten, um die innere Logik des Aufbaus nachvollziehen zu können. Diese Arbeit lohnt sich, sich Zeit zu nehmen und die übergreifenden Kapitel und die Unterkapitel in ihrem inneren Zusammenhang zu verstehen, wird doch gerade darüber die Komplexität der Fragestellung deutlich.
14 übergreifende Kapitel („Teile“) umfasst das Lehrbuch, die wiederum, jeweils abhängig von der Komplexität der jeweiligen Thematik, in zahlreiche Unterkapitel ausdifferenziert werden. So reicht der Umfang von Kapiteln von 8 Seiten („Patienten melden sich zu Wort“) bis zu über 100 Seiten („Überleitung und Nachsorge im Maßregelvollzug“ und „Stationäre Behandlung im Maßregelvollzug“).
Inhalt
14 übergreifende Kapitel (Teile) lassen sich aus meiner Sicht unter 5 thematische Schwerpunkte subsumieren, die wiederum eine nachvollziehbare, plausible Chronologie aufweisen. Es beginnt mit den übergreifenden rechtlichen, theoretischen Grundlagen, mit der aktuellen Situation sowie dem Blick auf ethische Dilemmata. Notwendiger- und logischerweise nimmt der Blick auf und die Auseinandersetzung mit der forensischen Praxis in der stationären Arbeit mit über 350 Seiten einen bedeutenden Umfang ein: Stationäre Behandlung, verschiedene Aspekte der Behandlung, Zwangsbehandlung, Lockerungen der stationären Behandlung, Fehlerkultur, psychotherapeutische Ansätze in der Forensik in Bezug auf verschiedene Personengruppen (Diagnosen), die Gestaltung der Beziehung in der forensischen Pflege und Berichte von Patienten aus der Forensik. Hervorheben möchte ich den Beitrag zur Angehörigenarbeit, ein seit langem unverzichtbarer Standard in der sozialpsychiatrischen Arbeit. Umso wichtiger, bedeutender und erfreulicher ist für mich, dass die Angehörigenarbeit in der forensischen Praxis ebenso als unverzichtbarer Bestandteil der täglichen Arbeit bewertet wird. Ebenso besonderer Erwähnung bedarf die Befassung mit dem „heißen Eisen“ des Umgangs mit Sexualität in der stationären forensischen Behandlung wie auch der besondere Blick auf die Behandlung von Frauen in der Forensik.
Das Kapitel zur „Überleitung nach draußen“ und „die Nachsorge“ in Verbindung mit Legalprognosen im Maßregelvollzug ist von überaus wichtiger und zentraler Bedeutung. Es handelt sich dabei um die Leitlinien „Forensik als Transit“, „Rückkehr in die Gesellschaft“ oder „die Nachsorge beginnt eigentlich schon bei der Aufnahme“. Eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die Rückkehr forensischer Patient*innen in das gesellschaftliche Alltagsleben übernimmt zweifellos das Kapitel „Forensische Ambulanz – Von der Prognose zum Risikomanagement“ von Friedhelm Schmidt-Quernheim selbst. In diesem Kapitel verdichtet sich m.E. der sogenannte rote Faden oder anders ausgedrückt die sozialpsychiatrische (gemeindepsychiatrische) Grundphilosophie und -intention der beiden Autoren: Forensische Patienten sollen wieder in den gesellschaftlichen Alltag mit entsprechenden Auflagen und bedarfsorientierter Behandlung, Betreuung und Begleitung zurückkehren. Dieses Kapitel mit über 70 Seiten übernimmt aus der Sicht des seit nunmehr vierzig Jahren in der ambulanten Arbeit tätigen und mit dem Auf- und Ausbau von Gemeindepsychiatrischen Verbünden befassten Professionellen die wesentliche Funktion und Aufgabe hinsichtlich der sozialpsychiatrischen Ausrichtung der Forensischen Psychiatrie und deren Integration in die gemeindenahe Psychiatrie.
Ein Kapitel, das auf den ersten Blick aus der Logik herausfällt, vieles aber bei näherem Hinsehen wie im Brennglas verdichtet, stellt die Aufarbeitung der „Causa Mollath“ dar.
Wie verschiedentlich in anderen Kapiteln auch wird hier eine multiperspektivische, mehrschichtige Herangehensweise praktiziert. Dies bedeutet, dass der jeweilige „Gegenstand“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus beleuchtet wird, was wiederum der gebotenen Komplexität der Materie und damit einer umfassenden Befassung wohltuend Rechnung trägt. Die Einschätzung und Bewertung erfolgt in der „Sache Mollath“ jeweils aus journalistischer, rechtlicher und fachpsychiatrischer Sicht.
Schließlich stellt das Interview mit Friedhelm Schmidt-Quernheim über die praxisorientierte Rückkehr in die Alltagspraxis ein konkretes Dokument mit dem grundlegenden Tenor dar, wie die Forensik Teil der Gemeindepsychiatrie wird und umgekehrt. Wie der Tenor des gesamten Werkes, bzw. seiner Beiträge, „atmet“ auch das Interview die Philosophie und Kultur der sozialpsychiatrischen Haltung, den Menschen in seiner Lebenswelt, in der Interaktion mit seiner Umwelt ins Zentrum des Denkens und Handelns zu rücken, im forensisch untergebrachten Menschen nicht in erster Linie die Krankheit, das Defizit zu sehen, sondern den Menschen, der krankheitsbedingt ein Delikt begangen hat und die gesamte Arbeit sich immer im Spagat zwischen der Resozialisierung, bzw. Rückkehr des Betroffenen und dem Schutz der Allgemeinheit bewegt.
Fehlt etwas?
Meines Erachtens fehlt (wenn dieser Einwand bei der Fülle an Themen und Fragestellungen, welche dieses Buch enthält, überhaupt legitim ist) vielleicht der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Es wäre sicher interessant und Horizont erweiternd, einen knappen Überblick oder zumindest Hinweise darüber zu erhalten, wie in einigen anderen Ländern Europas die Thematik Forensische Psychiatrie sowohl hinsichtlich der gesetzlichen Grundlagen als auch ihrer praktischen Umsetzung behandelt und angegangen wird. Zu nennen wäre hier (wieder einmal) der italienische Weg in seiner ganzen Ambivalenz (Theorie und praktische Umsetzung) und es wäre spannend, den diesbezüglichen Diskurs in aller Sachlichkeit und Leidenschaft aufzunehmen und zu führen.
Sachwortverzeichnis und Literatur
Wie es sich für ein anspruchsvolles Lehrbuch für die Praxis „gehört“, wird ein ausführliches Sachwortverzeichnis über 20 Seiten und ein Literaturverzeichnis über 40 Seiten zur Verfügung gestellt, ein Service, welcher die Nützlichkeit, Notwendigkeit und „Brauchbarkeit“ des Werkes erfolgreich abrundet.
Abschließende Bemerkung
Abschließend gilt es, Folgendes festzuhalten: Diesem umfangreichen und ausdifferenzierten Kompendium gebührt Respekt und Wertschätzung vor allem hinsichtlich der mit Sicherheit überaus kompetenten, umfangreichen und engagierten Auseinandersetzung mit einem Gegenstand. Er wird endlich (natürlich auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichsten Zusammenhängen) aus dem Schattendasein herausgeführt und mitten in der Sozialpsychiatrie verortet, d.h. in den gemeinde- und wohnortnah zu gestaltenden Hilfen für alle psychisch kranken Menschen einer Region im Gemeindepsychiatrischen Verbund. Sicher gibt es noch weitere, nicht zu unterschätzende Defizite auf diesem Weg zu bewältigen und Hindernisse zu beseitigen. Aber: Es hat sich – wenn auch in aller Ambivalenz – viel getan: Einerseits treffen wir innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung auf eine Haltung, die (plakativ formuliert) maximale, eher egoistisch getönte Freiheit fordert. Andererseits ertönt wiederum schnell der Ruf nach Sicherheit durch Wegschließen, wenn die egoistische Echokammer und Lebensführung bedroht zu werden scheinen.
Als ich 1976 meine berufliche Laufbahn in einer forensischen Abteilung begann, war immer noch, zumindest unterschwellig, die Atmosphäre nach einer „Strafversetzung“ für Ärzte oder Pflegepersonal zu spüren in Verbindung damit, dass besonders unbequeme und unliebsame Patient*innen von anderen Stationen dorthin „entsorgt“ wurden. Gleichzeitig gab es damals schon nicht wenige Mitarbeiter*innen, die bewusst und mit Absicht die Arbeit mit diesem Personenkreis aufnahmen, orientiert an der „Dörnerschen“ oder „Basaglianischen“ normativen Vorgabe, „niemanden zu vergessen“ und „beim Letzten anzufangen“. Wenn vielleicht im Einzelfall rudimentäre diesbezügliche Erfahrungen auch heute noch anzutreffen sind, hat sich insgesamt doch viel bewegt. Die Forensische Psychiatrie ist in der Sozialpsychiatrie konzeptionell wie praktisch angekommen. Dieses Lehrbuch legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Es gehört nicht nur als Pflichtlektüre in die Einrichtungen der Forensischen Psychiatrie. Gleichsam hat es als solche Eingang in die Bücherregale sozialpsychiatrischer, gemeindenaher Einrichtungen und Dienste zu finden oder, um abschließend Klaus Dörner aus seinem Grußwort zu zitieren: „Die Publikation ist zugleich ein Dokument der gemeinsamen Annäherung zwischen drinnen und draußen und damit ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer gemeindepsychiatrischen Wende in der Forensischen Psychiatrie. Wir sollten dieses Angebot annehmen!.“
Dr. Klaus Obert
Bereichsleitung Sucht- und Sozialpsychiatrische Hilfen Caritasverband für Stuttgart e.V.
Sprecher des Gemeindepsychiatrischen Verbundes Stuttgart
Stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde