30 Jahre Entwicklung in der Kinder- und Jugendlichenpflege mit Fokus auf die Pflege im St. Anna Kinderspital werden in diesem Artikel beleuchtet. Die Autorin, Margret Weissenbacher berichtet als Impulsgeberin, Mitgestalterin und Beteiligte von dieser für die heutige Pflege so prägenden Zeit.
2013 ging ich nach 29 Jahren im St. Anna Kinderspital in Pension. Begonnen hatte ich hier als Säuglingsschwester, bald war ich Praxisanleiterin und Stationsschwesternvertreterin geworden, hatte 1994 die Stabstelle Pflegequalitätssicherung gegründet und diese bis zum Schluss geleitet. Ich hatte miterlebt, was in diesem kleinen Haus mit engagierten Pflegepersonen möglich gewesen war, und hatte die Gestaltungskraft von herausragenden Pflegedirektorinnen kennengelernt, die für Entwicklungsprozesse günstige Strukturen etabliert hatten. Ich war Teil der Aufbruchsstimmung gewesen, in der sich die Berufsgruppe „Pflege“ in diesen Jahren befunden hatte.
Bei der Übergabe an meine Nachfolgerin stand ich vor Bergen von Unterlagen und Materialien. 30 Jahre Pflegefachgeschichte lagen vor mir ausgebreitet: hausinterne und externe Arbeitsgruppen und Projekte, Entwicklungsstufen der Dokumentation, handgeschriebene Formulare und erste Drucksorten, Publikationen und vergilbtes, zerfleddertes Papier, die Anfänge strukturierter Standards und Unterlagen mit lieblichen Zierleisten, Themen, die von der Zeit überholt worden waren und Ausarbeitungen, die unverändert aktuell und gültig waren.
Was sollte mit dieser Geschichte geschehen? Was bedeutete Sie? Pflege hatte sich in diesen Jahren grundlegend geändert. War es sinnvoll, sich durch alte Dokumente zu wühlen und Entwicklungen nachzuvollziehen oder war das einfach nur sentimental?
„Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen.“
Ich wurde beauftragt, diese bemerkenswerte Etappe der Pflegefachgeschichte niederzuschreiben – nicht im Sinne von Memoiren und Anekdoten, sondern um Zeugnis davon abzulegen. Noch liegt die Publikation nicht gedruckt vor, aber das Material ist aufbereitet und die Texte sind geschrieben – bald werden Sie sie lesen können! Wichtige Zeugnisse der pflegetheoretischen Entwicklungen dieser 30 Jahre im St. Anna Kinderspital und in der österreichischen Kinder- und Jugendlichenpflege habe ich gesichert und die Hauptstränge der Fachgeschichte zusammenhängend erzählt und nachvollziehbar gemacht. Auswahl und Zusammenstellung der Themen und Quellen sind ebenso wie jeder Text von meiner Erinnerung und meiner Sichtweise geprägt. Pflegepersonen, die diese Zeit miterlebten, können mit Stolz nachlesen, woran sie mitwirkten. Für Jüngere wird vielleicht manche Entwicklung einer Haltung, einer Philosophie verstehbar. Für „ForscherInnen“ ist damit Material aufbereitet, das ansonsten nicht zugänglich wäre.
Ich habe noch im Ohr wie Maria Jesse bei ihrem Antritt als Pflegedirektorin (1994) sagte: „Ich möchte, dass der Pflegebereich des St. Anna Kinderspitals genauso „berühmt“ wird wie der medizinische, onkologische Teil.“ Sie meinte nicht nur die direkte Pflege an der PatientIn, sie meinte „Alles“ – Prinzipien, Haltungen, Systeme und Methoden. Und tatsächlich schafften sowohl die Pflege im St. Anna Kinderspital als auch die Kinder- und Jugendlichenpflege insgesamt diesen großen Sprung und nahmen in diesen Jahren eine gigantische Entwicklung. War unser Haus in den 80er Jahren noch nicht besonders glorios – bald wurde es zum Vorzeigekrankenhaus. Waren die theoretischen und strukturellen Fundamente der Kinder- und Jugendlichenpflege zunächst noch nicht besonders ausgeprägt – in diesen Jahren konnten Themen besetzt, Expertise gebildet und Entwicklungen angestoßen werden, die die Pflege generell veränderten.
Die Publikation:
Vier zentrale Themenbereiche habe ich für die Pflegefachgeschichte ausgewählt: Die Einführung des Pflegeprozesses, die Erarbeitung der ersten Norm für den Bereich der Kinder- und Jugendlichenpflege, die Leitbildprozesse im Bereich der Pflege und die Entwicklung der Praxisanleitung und MitarbeiterInneneinschulung im St. Anna Kinderspital.
Pflegeprozess
Die Umsetzung des Pflegeprozesses ist ein „Leitprojekt“ dieser Zeit. In Rückblick auf diese Jahre ist für mich essentiell, wie stark die Entwicklungen im St. Anna Kinderspital, in der österreichischen Kinder- und Jugendlichenpflege und in der Pflegelandschaft generell miteinander verzahnt waren. Es war eine Phase geprägt von Aufbruchstimmung, Neugierde und Gestaltungswillen.
Wir hatten visionäre Vorstellungen, was Pflege sein könnte und steckten uns hohe Ziele.
Die Pflege im St. Anna Kinderspital entwickelte sich großartig entlang der Ausrollung des Pflegeprozesses. Praxis, Erfahrung und Engagement aus dem St. Anna Kinderspital wiederum trieben die Etablierung des Pflegeprozesses in der Kinder- und Jugendlichenpflege voran.
Die Umsetzung des Pflegeprozesses hat nicht nur im St. Anna Kinderspital sondern insgesamt zu gravierenden Veränderungen in der Pflege geführt. Die Auswirkungen – ein neues Pflegeselbstverständnis, gesteigertes Selbstbewusstsein der Pflegepersonen und eine enorme Professionalisierung der Pflege – sind mittlerweile selbstverständlich, der Weg dahin war aber weit und anspruchsvoll!
Norm [1] K1210 „Familienorientierte Information, Beratung und Anleitung in der Kinder- und Jugendlichenpflege“
Das Vorliegen der ersten österreichweiten Norm für den Bereich der Kinder- und Jugendlichenpflege ist zu verstehen als beeindruckendes Ergebnis der Verzahnung von St. Anna Kinderspital, Normungsinstitut [2] und BKKÖ [3].
Für die zentrale Aufgabe von Kinderkrankenpflegepersonen (alters- und familiengerechte Information, Beratung und Anleitung von Kindern, Jugendlichen und Bezugspersonen) gab es keine definierten Qualitätskriterien. Mit einem offiziellen Dokument wollten wir eine österreichweite Möglichkeit schaffen, professionell „einheitlich“ zu agieren und das Handeln zu legitimieren.
Der BKKÖ beauftragte dazu ein Projekt. Mir wurde als abgesandte Expertin des BKKÖ in der AG 250.03 „Qualitätsmanagement in der Pflege“ des Normungsinstitutes, die Projektleitung zur Erstellung einer entsprechenden ONR [4] übertragen.
Nach zwei Jahren Arbeit wurde die ONR im Normungsinstitut eingereicht. Sie wurde von der ARGE Qualitätsmanagement sehr positiv bewertet und dem weitaus strengeren Reglement einer ÖNORM zugeführt. Alle Überprüfungen verliefen positiv und die erste Norm für den Bereich der Kinder- und Jugendlichenpflege entstand. Um die praktische Einführung dieser dringenden Empfehlung bestmöglich zu unterstützen, wurde ein praxisorientierter Ratgeber [5] zu den Inhalten der Norm und ihren theoretischen Grundlagen verfasst und publiziert.
Dieses Projekt ist Beispiel dafür, wie es in diesen Jahren gelang, dass wichtige Anliegen und Themen der Pflege auf allen Ebenen betrieben wurden und überall Bewegung und Entwicklungen ermöglichten.
Leitbilder
Die Geschichte der Pflegeleitbilder und eines multiprofessionellen Leitbildes im St. Anna Kinderspital steht für das Sichtbar- und Aktivwerden einer starken und motivierten Berufsgruppe.
Praxisanleitung in der Kinder- und Jugendlichenpflege
Die Entwicklung von Praxisanleitung und MitarbeiterInneneinschulung zeigt, wie hoch sich das Pflegeteam des St. Anna Kinderspitals immer wieder die Latte legte und wie hartnäckig und erfolgreich die Hürden genommen und große Aufgaben bewältigt wurden. Wir hatten die Nase vorne!
Die Stabstelle verband auf ideale Weise Theorieentwicklung und praktische Erfahrung. Schritt für Schritt wurde zwischen Leitung, Stabstelle und Teams die Kultur der Praxisanleitung verändert: Anforderungen und Beurteilungskriterien wurden gut strukturiert und transparent, die kommunikativen und pädagogischen Kompetenzen wuchsen und für die PraxisanleiterInnen wurden Qualifizierung, Prestige und Anerkennung selbstverständlich.
Die Texte zu diesen vier Themenbereichen werden ergänzt durch Abbildungen von Original-Dokumenten, die mit ausführlichen Erklärungen versehen sind. Sowohl in den Texten als auch in den Erläuterungen zu den Dokumenten finden sich persönliche Stellungnahmen, in denen ich aus meiner heutigen Sicht markiere, welche Strukturen hilfreich waren oder was damals Probleme gemacht hat, was wir damals gedacht haben und was wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können.
Um die Entwicklungen zeitlich überblicken zu können, wurden alle Themen auch in Timelines dargestellt.
Beispiel: Timeline Pflegeprozess
Interviews
Mit zwei Pflegedirektorinnen und zwei Kolleginnen habe ich Interviews geführt – vier sehr unterschiedliche Personen, die gemeinsam diese fast 30 Jahre überblicken und berichten, wie sie die Etappen dieses Weges erlebt haben, was ihnen wichtig war, was sie motiviert hat und was aus ihrer Sicht „bleibt“.
„Die Marke „St. Anna Kinderspital“ hat für uns bedeutet, immer mehr als die Anderen erreichen zu wollen. Wir verstanden das als persönlichen Auftrag und nahmen ihn sehr ernst.“ (M. Perl)
„Wir waren stolz, im St. Anna Kinderspital zu arbeiten.“ (E. Redelsteiner)
Die Aussagen meiner Kolleginnen lassen den viel zitierten „St. Anna Geist“ erahnen, wenn er auch nicht in Worte zu fassen ist. Er hat auch mein Denken und Tun beeinflusst.
Ich war immer stolz als Pflegeperson im St. Anna Kinderspital tätig zu sein.
Zur Pflegefachgeschichte St. Anna Kinderspital, 1984 bis 2013 wird eine umfangreiche Publikation erstellt. Dieser Artikel ist ein Auszug daraus.
[1] Qualifizierte Empfehlung, die im Konsens nach international anerkannten Verfahren erstellt wird
[2] Austrian Standards Institute
[3] Berufsverband Kinderkrankenpflege Österreich
[4] Regeln des österreichischen Normungsinstitutes
[5] Brigita Schwarz: Patientenedukation kompakt – Theorie und Praxis der familienorientierten Information, Beratung und Anleitung in der Kinder- und Jugendlichenpflege, Austrian Standards plus Publishing, Wien 2011