„Pflege bietet mehr als sie glauben mag“

10. April 2021 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Der Mediziner Beat Gerber stellt eine spannende Frage: Warum braucht die Medizin die Philosophie? Es ist eine Frage, die sich für die professionelle Pflege gleichermaßen stellt. Die Philosophie müht sich, die menschliche Existenz zu deuten und zu verstehen. Dies ist ein großes Ziel, das mit der Bodenständigkeit und Ursprünglichkeit des medizinischen und pflegerischen Schaffens wenig gemein zu haben scheint. So weit die Theorie.

Das Stellen philosophischer Fragen sorgt dafür, dass pflegerische Praxis hin und wieder von einer Meta-Ebene aus angeschaut wird. Dabei geht es nicht darum, für ein konkretes Problem unmittelbar eine Lösung parat zu haben. Entgegen jeder pflegerischen Gewohnheit geht es bei der philosophischen Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das in der pflegerischen Praxis auftaucht, um die Anschauung.

Anschauung führt dazu, dass sich ein Mensch die Dinge in der gegebenen Tiefgründigkeit anschaut. Dabei wird offensichtlich, dass Geschehen in seiner ureigenen Dynamik betrachtet wird. Es finden Abwägungen statt. Abwägungen haben letztendlich das Ziel, für nachhaltige Lösungen von Aufgaben zu sorgen.

Häufig sprechen Pflegende darüber, dass die Erhaltung der Ressourcen bei erkrankten oder gebrechlichen Menschen das Ziel der Arbeit sei. Gleichzeitig ärgert es sie, dass erkrankte und gebrechliche Menschen alltägliche Handlungen nicht in einer gewünschten Geschwindigkeit erledigen. Folge ist, dass sie den Betroffenen die alltäglichen Aufgaben abnehmen. Und die Möglichkeiten der Betroffenen reduzieren sich.

Gerber unterstreicht in seiner überzeugenden Studie, dass Sinnfragen zu selten in den Raum gestellt werden. Mediziner und Pflegende sind im Alltag aufgefordert, den Alltag aus einer Perspektiventriade anzuschauen. Da ist die Sicht des hilfebedürftigen Menschen, die als Primat zu gelten hat. Da ist der Blick der Mediziner und Pflegenden. Und die Gesellschaft als solche will ja auch ihren Senf dazu geben. Jede der Sichtweisen hat ihre Berechtigung. So konstatiert Gerber zurecht: „Alle drei Positionen haben hängen in komplexer Weise voneinander ab, sind aber als eigenständige, spezifische Betrachtungs-und Erfahrungsweisen eines und desselben Geschehens zu erkennen und zu respektieren“ (S. 352).

Diese Gedanken verinnerlichend gilt es, sich einem alltäglichen und spannenden Diskurs zu öffnen. Schließlich geht es im Krankenhaus oder im Pflegeheim nicht darum, Recht zu haben oder Recht zu bekommen. Die Philosophie bietet die Gelegenheit, Phänomene oder Geschehnisse ethisch, phänomenologisch oder anthropologisch zu überdenken. Der Alltag bietet öfter die Möglichkeit, als wir es in der Flüchtigkeit der Gegenwart zu glauben meinen. Beispielhaft sind der assistierte Suizid oder das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Kontext von Vorsorgevollmachten zu nennen.

Besonders sympathisch kommt das situative Nichtstun in der Medizin daher. Gerber meint damit „die durchgedachte und überprüfte Unterlassung von medizinischen (und sicherlich auch pflegerischen, Bemerkung CM) Vereinnahmungen des Patienten durch Diagnostik, Therapie und anderen (Inter-)Aktionen, die dem Wohlergehen des Patienten abträglich sind“ (S. 259). Der Arzt werde in einer Weise benötigt, bei der er sich dem Leiden des Menschen stellen muss und die medizinische Expertise in den Hintergrund rückt. Da gilt es auch als Pflege eine Überlegung anzustellen.

Nicht zuletzt macht Wilhelm Schmid mit seiner Lebenskunst-Philosophie ein unglaubliches Angebot. Seine Philosophie der Lebenskunst bildet den Hintergrund, so Schmid, für die Entfaltung der Begriffe der Lebensführung, der Lebensform und des Lebensstils. Irgendwie ermuntert er, über eine Pflegekunst-Philosophie zu sinnieren, die dem scheinbar alltäglichen Pflegen, der scheinbar atemlosen Lösungsfindung ein sicheres und festes Fundament geben könnte. Schließlich muss die Medikalisierung und die Biologisierung der Medizin nicht einfach hingenommen werden. Pflege bietet mehr als sie selbst glauben will. Eigenständigkeit und ein unendliches Repertoire an Interventionen, die den Genesungsweg der Betroffenen erleichtern wollen und nach einer Reflexion rufen. Hören Sie einfach darauf.

 

Das Buch, um das es geht

Beat Gerber: Warum die Medizin die Philosophie braucht – Für ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Hogrefe-Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-456-86023-7, 384 Seiten, 29.95 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at