Paternalistisches Miteinander hinter sich lassen

17. Februar 2019 | Politik | 0 Kommentare

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe hat aufhorchen lassen. Am 24. Juli 2018 haben die höchsten Richter der Bundesrepublik Deutschland eine Entscheidung veröffentlicht, dass freiheitsentziehenden Maßnahmen klare Grenzen setzt. Es stellt nicht nur klar, dass die Fixierung einen Eingriff in das Grundrecht auf die Freiheit der Person darstellt. Wenn eine freiheitsentziehende Maßnahme länger als 30 Minuten andauert, so hat es einen Richtervorbehalt zu geben.

Für Krankenhäuser, insbesondere psychiatrische Kliniken und psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, ist diese Gerichtsentscheidung mit einschneidenden Konsequenzen verbunden. Denn bislang reichte es im Zusammenhang mit einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung aus, wenn ein Arzt die Fixierung angeordnet hat. Nun muss sich der Arzt seine Entscheidung richterlich bestätigen lassen. Die Amtsgerichte sind aufgefordert, tägliche Bereitschaftsdienste in der Zeit von 6:00 bis 21:00 Uhr zu gewährleisten.

Unter Pflegenden befürchtet man seit dem höchstrichterlichen Urteil, nun keine sich selbst oder andere gefährdenden seelisch erkrankte Menschen fixieren zu dürfen. Übergriffe auf psychiatrische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden nun zunehmen, man habe einfach nur noch Angst. Die subjektive Angst ist sicher nachzuvollziehen. Doch gilt auch weiterhin beispielsweise der rechtfertigende Notstand. Wenn dieser gegeben ist, haben Pflegende auch weiterhin die Möglichkeit, auffällige Menschen ihrer Freiheit zu berauben.

Signalwirkung

Die Signalwirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts ist wichtig. Denn die Verfassungsrichter haben einmal mehr unterstrichen, dass die Selbstbestimmung des Menschen ein genauso hohes Gut wie die Freiheit des Einzelnen ist. Für Pflegende, aber auch Menschen aus anderen helfenden Berufen ist es ein Moment, die Zeiten eines paternalistisches Miteinanders zwischen pflegenden und gepflegten Menschen hinter sich zu lassen.

Es spricht für die Verfassungsrichter, dass sie zwischen kurzfristigen, bis zu 30 Minuten dauernden Fixierungen und längeren, darüber hinausgehenden Freiheitsentziehungen unterscheiden. Damit zeigen sie, dass sie sich mit dem Freiheitsentzug als Intervention beschäftigt haben. In der psychiatrischen Versorgung gibt es immer wieder Menschen, die nur eine kurze Intervention brauchen, um sich zu beruhigen, aus Krisensituationen herausfinden zu können. Es macht Sinn, mit mit dem Thema sehr sorgsam und differenziert umzugehen.

Der Begriff der Selbst-oder der Fremdgefährdung muss eine ausgeprägtere Kontur bekommen. Wenn die Bedingungen für eine Freiheitsentziehung enger gefasst werden, so müssen diese natürlich immer besser begründet werden. Es reicht nicht aus, die Sturzgefahr eines gerontopsychiatrisch veränderten Menschen als Begründung zu liefern. Es reicht nicht aus, eine verbale Aggressivität, die möglicherweise in Tätlichkeiten zu kippen droht, als Grund herbeizuziehen. Je konkreter die Krisensituation beschrieben ist, umso einfacher ist es, dass Pflegende und Mediziner sich für ihre Entscheidung und ihr Vorgehen in einer akuten Notsituation gegenüber den Patienten und Richtern zu rechtfertigen.

Kooperation von Ärzten und Pflegenden

Mediziner und Pflegende sind aufgefordert, mehr miteinander im Gespräch zu sein. Im unmittelbaren Geschehen muss gehandelt werden. Die verschiedenen Berufsgruppen müssen sich darüber verständigen, welche Begründungen einen massiven Einschnitt in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen rechtfertigen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Pflegende fixiert haben, um mehr Ruhe zu haben.

Dies zeigt natürlich an anderen Stellen, was wirklich nötig ist. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 steigen die Ansprüche an die (psychiatrisch) Tätigen. Sie müssen ein breiteres Handlungsrepertoire haben, um angespannte Situationen und Krisen meistern zu können. Es reicht nicht aus, das in Deeskalationstrainings eingeübte Verhalten zu erproben. Auf der Ebene der Interventionen sind beispielsweise die Intensiv-Betreuungen zu schärfen.

Im „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ (PsychKG) des Landes Nordrhein-Westfalen, das im Jahre 2017 novelliert worden ist, werden 1:1-Betreuungen während freiheitsentziehender Maßnahmen als unverzichtbar definiert. Sowohl in den Kommentierungen, als auch aus dem Gesundheitsministerium und den Bezirksregierungen heraus hört man, dass diese intensiv-pflegerische Maßnahmen von qualifiziertem Personal durchgeführt werden müssen. Dies ist unbedingt zu begrüßen.

Diese Grundhaltung findet sich bisher noch nicht flächendeckend an der pflegerischen Basis wieder. Intensiv-Betreuungen werden häufig von Pflegenden aus dem Springer-Pool oder von Auszubildenden durchgeführt. Um einer Häufung von 1:1-Betreuungen gerecht zu werden, verabreden Verantwortung tragende Mediziner und Pflegende, mit unmittelbarem Sichtkontakt in Beobachtungszimmer hineinzublicken. Dies ist aus fachlicher Sicht unzureichend. Denn statt gegenüber politischen Verantwortlichen und Kostenträgern zu signalisieren, dass es eine große Schere zwischen den Maßstäben und unter anderem den personellen Ressourcen gibt. Über eine Sensibilisierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Fort-und Weiterbildungen bezüglich Intensiv-Betreuungen zu sprechen, dies fällt Pflegemanagern sicher selten ein.

Unmoralische Handlung

„Mentale Wachheit, die Bereitschaft, sich einzulassen, das Erkennen von Zustandsveränderungen, die Fähigkeit zu vertrauen und Neugierde gelten … als Fertigkeiten, die notwendig sind, um psychiatrische Intensivbetreuungen durchführen zu können.“(Lienhardt, Rabenschlag & Panfil, 2018) Dies zeigt, dass es sich bei einer Intensivbetreuung um eine komplexe Hilfeleistung handelt. So müsste es selbstverständlich erscheinen, dass nur qualifizierte Pflegende die Aufgabe übernehmen. Pflege steckt in einem Dilemma. Pflegende müssen sich dafür rechtfertigen, dass eine Tätigkeit, die mit der Behandlungspflege gleichzusetzen ist, in der Praxis eher abgetan wird.

Die Verfassungsrichter unterscheiden in dem konkreten Urteil zwischen Fünf-Punkt-und Sieben-Punkt-Fixierungen. Eine Fixierung ist grundsätzlich eine unmoralische Handlung. Pflegende sind dauernd aufgefordert, in die Schuhe der Betroffenen zu schlüpfen, um tragfähige Entscheidungen über die Notwendigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme vertreten zu können. Die Feinfühligkeit dem subjektiven Erleben einer Fixierung gegenüber kann daher als ein Qualitätsmerkmal für einen qualifizierten Pflegenden angesehen werden.

Mit den betroffenen Menschen aushalten

Beeindruckend ist für den psychiatrischen Praktiker, dass das Bundesverfassungsgericht den 1:1-Intensiv-Betreuungen eine Schlüsselrolle zuspricht. Es zeigt, dass bei aller Inhumanität einer freiheitsentziehenden Massnahme der Blick auf den Menschen zentral ist. Wenn Menschen in Krisen sind, dann brauchen sie ein Gegenüber an ihrer Seite. Vor allem geht es darum, die Ausnahmesituationen mit den betroffenen Menschen auszuhalten.

Natürlich hat die 1:1-Intensiv-Betreuung haftungsrechtliche Aspekte für professionell Pflegende. Wer konsequent einen Menschen im Blick hat, der erkennt die unzähligen Risiken, die mit freiheitsentziehenden Massnahmen verbunden sind. Die Unruhe der fixierten Menschen hat immer einmal wieder zur Folge, dass sich die Betroffenen an den Extremitäten verletzen. Dies wird weitgehend ausgeschlossen, wenn jemand an der Seite der Menschen ist. Viel wichtiger ist, dass frühzeitig die internistischen Komplikationen freiheitsentziehender Massnahmen erkannt werden. Kardiologische Notfälle sind keine Seltenheit.

Natürlich ist der Deeskalation Vorrang vor der Durchführung freiheitsentziehender Massnahmen zu geben. Dies gelingt nicht immer, wenn Menschen sich in Krisen empfinden. Den 1:1-Intensiv-Betreuungen ist unbedingt große Aufmerksamkeit zu schenken, wenn über Interventionsmöglichkeiten Pflegender nachgedacht wird. Dass es sich in Deutschland durchsetzt, dass diese komplexe Intervention nur von Fachkräften durchgeführt werden darf, ist zu begrüßen.

Fazit: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 setzt Maßstäbe für den Umgang mit psychisch veränderten Menschen. Es zeigt, dass Pflegende, insbesondere in der psychiatrischen Versorgung, aufgefordert sind, das professionelle Know-How zu konkretisieren und zu schärfen.  

Literatur

Lienhardt, A., Rabenschlag, F. & Panfil, E. M. Die Praxis der psychiatrischen Intensivbetreuung bei Erwachsenen in der Deutschschweiz – eine deskriptive Querschnittstudie. Pflege 2018: 1-11.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at