One Day Baby we will be old….

26. Dezember 2016 | Altern, Demenz | 0 Kommentare

Meine erste Nacht im Altersheim. Es ist früh, ich döse vor mich hin. Irgendwo klingelt ein Wecker. Typisch denke ich, irgend so ein Dementer kapiert nicht, dass es sein eigener Wecker ist. Das „düdüdüdüt“ bleibt hartnäckig. Gut, dass ich mir für den besseren Schlaf Watte in die Ohren getan habe. Ich dreh mich nochmal um, es war spät gestern, als ich den Nachtdienst auf der Runde durch die verschiedenen Wohngruppen begleiten durfte. Hier sind viele, die nicht die ganze Nacht in der selben Position schlafen können, weil sie sich sonst wundliegen. Die werden umgelagert, dann die Kissen neu sortiert, und Vorlagen gewechselt. Ich denke, was für eine Freiheit das ist, sich selber drehen zu können. Und tue es. Immer noch nervt der Klingelton. Und in meiner Morgendämmerung dämmert es mir: hier wohnt außer mir keiner mit einem Handy. Der Weckruf war mein eigener.

Wie fühlt es sich an, unter Menschen zu sein, die sich nicht mehr an Vieles erinnern können? In meiner Arztausbildung vor 25 Jahren habe ich noch gelernt, Alter und den Tod als bösen Feind zu betrachten. Was für ein Quatsch. Denn dass heute mehr Menschen mit Alzheimer in Deutschland leben ist salopp gesagt ein gutes Zeichen.  Es bedeutet: man ist nicht an etwas anderem vorher schon gestorben. Nächstes Jahr werde ich 50. Und nur mit sehr viel Optimismus kann ich das als Halbzeit bezeichnen. Wovor habe ich Angst, wovor haben wir alle Angst, wenn wir an Alzheimer denken? Wer Höhenangst hat, geht am besten Schritt für Schritt auf Türme. Wer Spinnen fürchtet, tastet sich an Gummispinnen heran. Und wer Angst vor dem Alter hat, übernachtet am besten einfach mal dort, wo die Matratzen Gummiüberzüge haben. Und so zog ich für drei Tage in meine Zukunft – ins Ferdinand-Heye Haus vom Diakoniezentrum Gerresheim.

„Besser du schließt ab,“ hatte mich Adam gewarnt. Denn nachts sind hier einige der Bewohner in ihrem eigenen Rhythmus aktiv. „Kennst du Zombie-Filme? Ich wette, der Typ, der sich die ausgedacht hat, hat seine Ideen aus dem Altenheim geklaut. Die Gespenster im Nachthemd, die Geräusche, manchmal Schreie, und der schlurfende Gang, die Blicke, die durch dich hindurchgehen…“ Aber er sagt das mit einer Liebe in der Stimme, die mich über diese gruselige Analogie hinwegtröstet. Adam war mal Automechaniker in Polen. Einer von vielen Quereinsteigern in der Altenpflege. Als er vor 20 Jahren nach Deutschland kam, machte er erstmal ein Praktikum und blieb dabei. „Pflege war erst nicht mein Traumjob, aber wenn ich nach Hause gehe und weiß, wie vielen Menschen ich für diesen Tag oder in dieser Nacht helfen konnte, bin ich glücklich.“

Einer meiner Mitbewohner ist Herr Huth, auch schon weit über die 80.  Er ist gerne spät unterwegs und dreht auf den Gängen seine Runden. Er grüßt freundlich. Und er entschuldigt sich, wenn er in ein Zimmer geht, was nicht das seine ist. Ich frage, was er sucht. „Ich will zu meiner Frau“ und deutet in meine Richtung. Dann lacht er, schlägt die Hand vor den Kopf: „Ach nee, die ist ja gar nicht hier.“ Ich frag ihn, wo sein Zimmer ist. Er weiß es ganz genau. Vielleicht war ihm einfach nur langweilig. Er schlappt zurück dorthin, wo die Tür noch offen steht und der Fernseher laut aus dem Türspalt tönt, mit einem Krimi, dessen Handlung niemand verfolgt.

Herr Huth hat früher viel getanzt. „Walzer, Foxtrott,…“ erzählt er und seine Augen fangen über dem roten Unterrand an zu leuchten. Kann er mir noch ein paar Schritte beibringen? Er nimmt Haltung an, trippelt, dann lacht er: „Das geht nicht barfuß“. Und wir beide bewahren unser Gesicht.

Einen Tag später werde ich von jemand in seinem Alter im Tischtennis geschlagen. Heinz Nink war 1961 mit Borussia Düsseldorf Deutscher Meister. Da war ich noch nicht geboren. Heute kommt er mit der Aktion „Bunt geht´s rund“ in Heime, Behinderteneinrichtungen oder zu Flüchtlingen, um die Begeisterung für das Ping-Pong-Spielen weiter zu geben. Es gibt viele kreative Wege, das Spiel so zu gestalten, dass jeder mitmachen kann, auch ohne Rollator-Rundlauf. Größere Bälle, oder Schaumstoff, oder Luftballons. Das macht echt Spaß. Und Herr Huth, den ich schlurfend auf dem Gang erlebt hatte, überrascht mich mit schnellen Luftballon-Schmetterbällen, volley, direkt in meine Richtung. Wir lachen uns an. Und ich merke, wie schnell ich andere Menschen von außen beurteile, und keine Ahnung habe, haben kann, was in ihnen vorgeht. Wie fit hätte Herr Huth älter werden können, wenn er wie Heinz mehrmals die Woche Tischtennis gespielt hätte? Weiß auch keiner. Ist aber eine gute Frage.

Das Gehirn ist die komplexeste Struktur im Universum. Und es kommt ohne Gebrauchsanweisung. Automatisch gehen die meisten falsch damit um. Sie meinen: Ich möchte mir das möglichst lange frisch erhalten – und deshalb setze ich es nur ganz selten ein. Genau falsch. Use it or lose it! Was im Kopf nicht gebraucht wird, wird eingestampft. Klar gibt es ein genetisches Risiko, klar gibt es medizinische Gründe, die Hirnabbau beschleunigen, aber so richtig verstehen die Forscher die „Neurodegeneration“ ehrlicherweise noch nicht. Alle starren durch die Mikroskope und hoffen darauf, dass man irgendwann diese hässlichen Proteinablagerungen mit einem großen Schluck Rohrreiniger wieder wegbekommt. Oder einer magischen Tablette. Dabei ist bis heute nicht ganz klar, ob die Plaques überhaupt das Problem sind oder nur eine Begleiterscheinung. Mein Vater musste in der Schule noch Glutamat schlucken. Diese Aminosäure war damals noch nicht als Geschmacksverstärker gebräuchlich, sondern sollte das Lernvermögen verbessern. Wie kam man darauf? Forscher hatten das Gehirn in seine Bestandteile zerlegt und dabei unter anderem Glutamat als einen Baustein der Nervenübertragung identifiziert. Heute lachen wir darüber, wie man so naiv sein konnte, nur weil da etwas im Reagenzglas schwimmt zu denken: kippen wir mal mehr davon in die jungen Gehirne. Viel hilft viel. Meinem Vater hat es zumindest nicht geschadet. Warum schauen wir aber immer noch so sehr in die Labore und nicht ins Leben? Die größte Studie darüber, wie wir alt werden, läuft doch schon vor unseren Augen. Schau dir fitte alte Menschen an, und frag erst sie und dann dich, worauf es sich lohnt, im Leben acht zu geben. Die legendäre Einstein Aging Study, begleitete Menschen über 20 Jahre und zeigte: Was die Menschen taten, um sich die Zeit zu vertreiben, beeinflusst deutlich die Zeit, in der das Hirn abbaute. Meine Oma machte immer Kreuzworträtsel, und daher wusste ich schon früh im Leben: tropischer Vogel mit drei Buchstaben: ARA! Wer mehrmals die Woche Kreuzworträtsel löste, reduzierte sein Risiko für dementielle Erkrankungen um 41%. Bewegung und Sport wie Schwimmen alleine brachten nur 29%. Tischtennis war nicht dabei. Sensationelle 76% Risikoreduktion brachte nur eins: Tanzen! Als ich das las, habe mich zwei Mal ins MRT gelegt. Dazwischen habe ich Tanzstunden genommen, nein, nicht für RTL sondern für „Hirschhausens Quiz des Menschen“ in der ARD. Ich wollte wissen, wie plastisch ist mein Hirn, und wir praktisch bin ich veranlagt, mit „West Coast Swing“ eine Schrittfolge zu erlernen, von deren Existenz ich bis dato noch gar nichts wusste. Über 30 Jahre hatte ich keinen Schritt mehr in eine Tanzschule gesetzt. Und entsprechend mühsam war es für mich auch, die neuen Moves zu memorieren. Tanzen fordert auf vielen Ebenen: Wir bewegen unseren eigenen Körper und den eines anderen, lernen neue Schritte, trainieren die Koordination auf dem Parkett, der soziale Kontakt hellt unsere Stimmung auf, und wir hören Musik, die uns glücklich macht. Dagegen kann Kreuzworträtsel immer nur zwei Ebenen: senkrecht oder waagerecht. Kein Medikament, kein Schachspiel, keine Nahrungsergänzung hat bis heute eine bessere Wirkung gezeigt. Also nicht nur den Arsch hoch kriegen, bringt was. Er will auch noch rhythmisch nach rechts und links bewegt werden. Und als ich das zweite Mal den Kopf ins MRT schob, zeigte sich: beim Hören der Musik verlagerte sich die Aktivität aus dem visuellen Kortex in die Bewegungszentren. Auf gut deutsch: sobald der Rhythmus erklang, war ich nicht mehr unbeteiligter Betrachter, sondern durch das Training setzte mein Hirn die Takte automatisch in Bewegungsmuster um. Ich war nicht am Rand, ich war mittendrin, es zuckte und leuchtete von der Birne bis in die Beine.

Ein Grund, warum die Behandlung der Demenz so wenig sichtbare Erfolge bringt: sie beginnt erst, wenn es für viele Nervenzellen schon zu spät ist. Das ist wie Flugblätter verteilen in einem Fußballstadion – zwei Stunden nach dem Spiel. Bei Alzheimer kommen wir zwei Jahrzehnte zu spät, mindestens. Hirnabbau kommt nicht über Nacht. Und auch nicht von ungefähr. Es gibt keine Zauberformel, keine  „App“ die annähernd so viel für den Erhalt unsere grauen Zellen tut wie ein buntes und bewegtes Leben!

Was daraus für die Forschung folgen muss: mehr Studien im echten Leben, und so früh starten wie es geht. Was bewirkt es, Kindern im Vorschulalter schon Singen, Tanzen und Trommeln beizubringen? Es laufen gerade große epidemiologische Beobachtungen für Millionen von Steuergeldern, die aber alle nur beobachten und beschreiben. In keiner nimmt man sich eine Gruppe heraus, bringt denen was bei und schaut, ob die 10 Jahre später besser dran sind. Für Proteine gibt es Nobelpreise. Für Versorgungsforschung und Lebensstilveränderung weder große Forschungsgelder noch Anerkennung. Eigentlich müssten wir im Erwachsenenalter nicht mühselig tanzen lernen, wenn wir es uns nicht vorher abgewöhnt hätten. Jedes Kind bewegt sich automatisch zu Musik. Was man schon weiss: Kinder, die viel tanzen, sind im räumlichen Denken besser und in vielen sozialen Fähigkeiten. Was ich gerne wüsste: wenn ich zwischen 40 und 60 regelmäßig tanze, wie stark schützt das mein Gehirn?

Jede Lebensphase hat ihr Herausforderung. So wie in diesem Witz:

40 Jahre Abitur. Das muss gefeiert werden. Drei Kumpel von damals beratschlagen, wo man sich treffen solle. Einer schlägt vor: „Lasst uns ins Goldene Krokodil gehen, die haben da sehr attraktive Studentinnen im Service“.  Gesagt, getan. 10 Jahre später, inzwischen gehen alle auf die 70 zu, die gleiche Runde: Wo soll man sich treffen? Der zweite schlägt vor: „Goldenes Krokodil, die haben inzwischen einen Sternekoch, da können wir wirklich gut essen!“ Schnell ist man sich einig. Dann steht die 60 Jahr Feier an. Wieder berät man sich. Der dritte schlägt vor: „Lasst uns doch ins goldene Krokodil gehen. Da waren wir noch nie!“

Witze sind die Waffe unseres Geistes gegen die Angst. Und eine der großen und berechtigten Ängste ist, dass diese Waffe irgendwann nachlässt, weil unser Geist nicht mehr so geistesgegenwärtig ist oder genauer gesagt nur noch die Gegenwart kennt. In jeder Lebensphase können wir neue Dinge schätzen lernen können, und damit reifen. Unfreiwillig komisch sind Menschen, die mit 60 immer noch die gleichen Ziele verfolgen wie mit 20 – in den gleichen Klamotten. Im großen Kreis des Lebens werden viele im Alter heiter und gelassen. Humor hilft heilen, auch wenn etwas nicht zu heilen ist. Was weckt alte Erinnerungen? Über alle Sinne, die noch offen stehen, können Reize von außen etwas tief im Inneren hervor kitzeln. Maßgeblich gelingt das über Berührung, Humor und Musik. Sophie Rosentreter war TV Moderatorin. Als ihre Großmutter dementiell erkrankte, merkte sie, wie zwar oft in Heimen der Fernseher lief, aber nichts von den schnellen Bildern und Geräuschen auf der Mattscheibe zur Stimmungsaufhellung beitrug. Mit dem Programm „Ilses weite Welt“ entstanden Filme, die genau auf die Bedürfnisse der älteren Menschen zugeschnitten sind. Wenn es im Film um Hundewelpen geht, gibt es dazu  Fotos, Spielzeug und Stoffhunde mit Fell, so dass auf allen anderen Sinneskanälen die Infos zu dem Gesehenen passen. Nach vielen Jahren der Pionierarbeit steigen jetzt einzelne Krankenkassen wie die AOK mit ein.

Was mir in den drei Tagen im Heim half, einen neuen Blick zu bekommen, war ein Alterssimulator. Wie fühlt sich ein Arztbesuch an, wenn ich schlechter höre und Informationen verarbeite? „Fahren Sie nach Wien?“ Diese Frage macht so überhaupt keinen Sinn. Aber das macht das eingeschränkte Hirn aus „Haben Sie einen Termin“. Kein Wunder sind viele Ältere gestresst, wenn die Arzthelferin für sie unverständlich ist. „Für die Alzheimer-Patienten sind wir die Verrückten“, erklärt mir die Sozialpädagogin Julia Richarz. „Aus deren Sicht reden wir Unsinn, machen seltsame Dinge und verstehen sie nicht.“ Und was sie mir auch beibringt und alle Mitarbeiter hier beherzigen: Widersprechen bringt nur Stress. Wenn jemand meint, er muss sich jetzt um seine Eltern kümmern, hat er nichts davon zu hören: „Ihre Eltern sind schon lange tot, sie sind doch selber schon über 90!“

Viel günstiger: das Gefühl dahinter wahrnehmen, spiegeln und begleiten. „Sie sind aber wirklich ein sehr fürsorglicher Mensch. Ich freue mich, dass sie sich gerne um andere kümmern. Schauen sie mal hier….“ Warum lernt man sowas nicht gleich in der Schule? Und warum gehen Hipster zum Entschleunigen in teure exotische Wellnesshotels. Geduld und Tempo rausnehmen kann man in jedem Heim um die Ecke günstiger lernen.

Ist Alzheimer nur Drama, oder auch Komödie? Helmuth Karasek erzählte gerne den Witz, wo ein älterer Mann zum Arzt sagt: „Nach dem Sex habe ich immer so ein Pfeifen im Ohr! Woraufhin der Arzt sagt: Was erwarten Sie? Standing Ovations?“

In dem Buch „Demensch“ haben der Gerontologe Thomas Klie und der Zeichner Peter Gaymann versammelt, was es Ernstes und Komisches zur Demenz gibt. Auf einer Zeichnung steht eine alte Frau mit ihrem Rollator auf der Straße vor einem Kruzifix und sagt zu Jesus: „Du verzeihst immer alles, ich vergess immer alles – Letztendlich kommt es aufs Gleiche raus“.

Ulrich Fey geht in der Clownsfigur „Albert“ seit über 10 Jahren in Altenpflegeeinrichtungen. Die Clowns sind Joker der Zuwendung, und dürfen aus der Rolle fallen, sich noch ungeschickter anstellen als alle anderen. Sie nehmen sich auf den Arm, und machen Schweres leichter. Von ihrer Kunst der direkten Kontaktaufnahme, des spielerischen Umgangs mit Peinlichem und dem Wert eigener Seelenhypgiene lernen gerade auch über 2000 Mitarbeiter der Altenpflege vom evangelischen Johanniswerk in Workshops, den Humor in der Pflege zu pflegen. In dem bemerkenswerten Buch: “Clowns für Menschen mit Demenz – Das Potential einer komischen Kunst“ beschreibt Fey Begegnungen der anderen Art.

Die kleine Gruppe im Gemeinschaftsraum des Frankfurter Altenheimes ist bunt gemischt: Orientierte Damen und Herren ebenso wie nur eingeschränkt Orientierte, Sehende und Nicht-Sehende, Sprechende und Nicht-Sprechende. Doch alle wollen mit dem Clown singen. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Oh, mein Papa“ aktivieren, „Muss i denn“ noch mehr. „Ach, des hat der Elvis aach so schee g’sunge“, sagt eine Gedanken verloren. „Wer?“ fragt eine sonst in sich versunkene Bewohnerin. „Der Elvis Presley“! Nächste Frage: „Hat der hier auch ein Zimmer?

Elvis lebt! Was Musik auch in der letzten Lebensphase bewirken kann, zeigt sehr anrührend der Film „Alive Inside“. Das Projekt „Music and Memory“ startete in den USA, und kommt jetzt auch nach Deutschland, unterstützt durch Forscher wie Gabriele Wilz von der Universität Jena. Die Idee ist einfach und genial: nutze den persönlichen Soundtrack des Lebens bei dementiell Erkrankten, um lang verschollenen Erinnerungen wieder zum Klingen zu bringen. Spiel die Hits individuell auf einen MP3 Player, und gib Musik als Medikament zwei Mal am Tag für 10 Minuten –über Kopfhörer, sozusagen „ohr-al“. Ich konnte es mit einer Musiktherapeutin zusammen praktisch ausprobieren. So unterschiedlich wie die Menschen und Lieder, so unterschiedlich die Reaktionen. Mal tat sich wenig, mal hatten alle Tränen in den Augen. Ich drehte mich im Walzertakt mit einer 93jährigen zu „Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein…“ . Ich erlebte, wie eine in sich zusammengesunkene Frau die Augen aufschlug, als mit „Veronika der Lenz ist da“ ein bisschen Frühling bei ihr einzog. Und bei einem bettlägerigen schwer dementen 69-jährigen Mann fing unter der Bettdecke der Fuß an zu zucken, als er „I can´t get no satisfaction“ über die Kopfhörer bekam. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass ich dringend meine Eltern fragen muss, was sie eigentlich in der Jugend gehört haben.

In den letzten Jahren wurden 50.000 Pflegekräfte eingespart. Warum hört man in der Gesundheitspolitik so viel von den 29.000 Apothekern in Deutschland. Und so wenig von den 1,5 Millionen Pflegekräften? Wenn die Lokführer oder die Piloten streiken, kommen Leute ein paar Tage schlechter von A nach B. Aber wenn die Pflege nicht da ist, kommt kein Bedürftiger mehr vom Bett aufs Klo. Was ist uns wichtiger?

„Pflegezeit ist Lebenszeit!“ Und das sollte für beide Seiten gelten, für Patienten und Pflegende. Aber wer hat noch Zeit? Wenn Zeit Geld ist, und gespart wird, wird am grausamsten an Zuwendung gespart, denn das fällt erst einmal nicht so auf. Ich habe selber noch an der Universitätsklinik in Berlin, heute Charité, das größte Klinikum Europas. Was die wenigsten noch wissen: das Wort Charité kommt nicht von Shareholder Value. Charité kommt von Caritas, der Nächstenliebe. Sich um kranke Menschen zu kümmern, war ursprünglich im christlichen Abendland ein Akt der Barmherzigkeit, ein Hospital ein Ort der Gastfreundschaft und  ein Patient kein Kunde, sondern ein leidender Mensch. Und die wichtigste Frage sollte bis heute nicht sein, wie mache ich mit dessen Leid 20% Rendite, sondern: Was kann dem helfen? Und wenn wir so viel reden über die Bedrohung der Abendländischen Kultur –  Nächstenliebe, Solidarität und Gerechtigkeit sind Werte, für die es sich lohnt, auf die Straße zu gehen.

Ja, es gibt ein massives gesellschaftliches Problem. Heute und erst Recht in den nächsten Jahren. Aber das wird nicht besser, wenn wir nicht anfangen, gute Beispiele zu zeigen, damit viele junge Menschen in den Gesundheitsberufen ihre Zukunft sehen. Ich habe in meinem Pflege-Crash-Kurs viel gelernt. Wahrscheinlich ist der Übergang schlimm ins Alter, wo ich mich ständig vergleiche und ärgere, was nicht mehr geht. Aber ich habe viele Alte getroffen, die mir die Angst genommen haben. Solange es so herzliche Menschen gibt, die sich kümmern wie in Gerresheim. Sie haben mich offen empfangen, mir alles zeigten, und mit gelacht, als mich eine Anwohnerin erkannt hat: „Sie sind doch der aus dem Fernsehen, Dalli-Dalli!“  Ich habe getanzt, Tiere gestreichelt, gesungen und geschwiegen. Ich habe Frauen gesprochen, deren Männer schon seit 40 Jahren tot sind. Und eine, die jeden Tag zweimal zu ihrem Mann geht, der seit seinem Schlaganfall ein Stockwerk drüber liegt, und auch wenn er sie nicht erkennt, machte er einen zufriedenen Eindruck.

Jeder, der tagtäglich für Menschen da ist, die nicht mehr „nützlich“ sind, hat meine Hochachtung. Jeder, der Menschen nicht für wertlos hält, nur weil diese nicht wieder gesund und stark werden. Helden des Alltags machen Pippi weg und Tränen und mehr, Tag und Nacht, auch am Wochenende und Weihnachten. (Übrigens: der Hautpflegeschaum für untenrum funktioniert auch zum Rasieren – wollte nur was aus meiner Erfahrung zurückgeben.)

Was kommt zurück? Viel, wie mir alle bestätigen. Es gibt „Satisfaction“ in der Pflege! Wozu braucht man Bücher über Gelassenheit, wenn man in der Altenpflege arbeitet? Wie lange müssen viele meditieren um „im hier und jetzt“ zu sein. Demente sind das einfach so. Und im günstigsten Fall, strahlen sie das auch auf andere aus: was ist wichtig, was ist nötig, was zählt?

Herr Danecke rät mir, soviel wie möglich von der Welt zu sehen. Er war sein Leben lang gerne unterwegs und ist noch mit 80 mit seiner Frau auf Kuba gewesen, mit Rucksack. Jetzt ist er 86 und in Kurzzeitpflege, weil es zu Hause nicht mehr alles so klappte. Wo war es am schönsten? Samoa? Philippinen? Norwegen? „Das kann ich so gar nicht sagen. Aber wissen Sie – wenn ich abends in meinem Bett liege, mach ich die Augen zu, nehme mir ein Ziel vor – und verreise.“

10 Dinge, die alle, die das hier lesen und verstehen heute beginnen können:

  1. Fangen Sie wieder an zu tanzen!
  2. Pflegen Sie Freundschaften.
  3. Trinken Sie Alkohol. Abends, gemeinsam und nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Genuss ist keine Sucht. Und es gibt wenige Lebensmittel, die nachweislich einen lebensverlängernden und gefäßschonenden Effekt haben, in niedrigen Dosen selbstverständlich. Grüner Tee geht auch.
  4. Sitzen ist das neue Rauchen. Schmeißen Sie ihren Fernseher raus. Oder stellen sie ein Sportgerät davor.
  5. Sie werden gebraucht. Finden sie raus von wem. Engagieren Sie sich. Wer anderen in seinem Leben geholfen hat, tut sich leichter, selber Hilfe anzunehmen. Füllen Sie ihr Karma-Konto.
  6. Rauchen ist Gift. Für Lunge, Hirn und Gefäße. Aufhören. Noch besser: nicht anfangen. Es gibt Schöneres. Finden Sie für sich heraus, welche Laster sich lohnen.
  7. Was gut fürs Herz ist, ist gut fürs Hirn, also: Blutdruck und Fettwerte runter. Und Übergewicht auch. Turne bis zur Urne. Bewegt bleiben. Pingpong, Yoga, Waldspaziergang, Gassi gehen, auch ohne Hund. Hauptsache Arsch hoch, solange du das noch selber in der Hand hast.
  8. Suchen Sie sich gute Vorbilder: wer sind die coolsten Alten, wie wollen Sie mal werden? Wer ein positives Bild vom Alter hat, lebt nachweislich länger und gesünder.
  9. Machen Sie ihre Playlist: welche Musik hat Sie zwischen 12 und 25 am meisten begeistert? Wissen das ihre Kinder? Reden Sie darüber. Noch besser: Machen Sie selber Musik, im Chor, in der Band, am Lagerfeuer.
  10. Leben Sie jetzt. Klingt banal. Aber später ist das Jetzt von Jetzt vorbei. Für immer. Das Leben ist wie eine Wunderkerze. Es brennt ab. So oder so. Wundern müssen wir uns selber.

Ilses weite Welt

Ulrich Fey: Clowns für Menschen mit Demenz, Mabuse Verlag

HARALD-ALEXANDER KORP: Am Ende ist nicht Schluss mit lustig. Humor angesichts von Sterben und Tod. Random House

www.humor-hilft-heilen.de

Hier finden Interessierte auch Informationen und Fördermöglichkeiten für Workshops für Pflegende

Autor

  • Eckart von Hirschhausen

    studierte Medizin und Wissenschaftsjournalismus. Seit über 20 Jahren ist er als Komiker, Autor und Moderator in den Medien und auf allen großen Bühnen Deutschlands unterwegs. Aktuell tourt er mit seinem Bühnenprogramm „Wunderheiler – Wie sich das Unerklärliche erklärt“. In der ARD moderiert er die Wissensshows „Frag doch mal die Maus“ und „Hirschhausens Quiz des Menschen“. Mit seiner Stiftung HUMOR HILFT HEILEN engagiert sich Eckart von Hirschhausen für mehr gesundes Lachen im Krankenhaus. Sein neues Buch „Wunder wirken Wunder“ wirft einen humorvollen Blick auf die bunte Wunderwelt der Heilkunst.