Neue Formen der Wissensvermittlung

9. Februar 2020 | Bildung | 0 Kommentare

2010 startete ein innovatives Ausbildungskonzept für Student_innen im Otto-Wagner-Spital in Wien zur Förderung reflexiver Fähigkeiten und zur Schulung von Empathie. Die Student_innen absolvierten die psychiatrische Krankenpflegeausbildung mit einer Ausbildungsdauer von sechs Semestern. In den ersten beiden Semestern liegt der Schwerpunkt unseres Trainings auf der Selbsterfahrung, in den Semestern 3 und 4 auf der Schulung der Empathie in der Begegnung mit Patient_innen und in den Semestern 5 und 6 auf der intersubjektiven, relationalen Supervision und der Prozessgestaltung (Hajek, 2019; Zemann et al. 2017; Steinberger et al. 2013; Sieberth, Steinberger, 2013).

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Ausbildungszeitraum der Semester 3 und 4, mit der Fragestellung: Wie transformieren sich Erkenntnisse und Wissen im Sinne der Selbsterfahrung in die Kompetenz für empathisches, mentalisierendes, intersubjektives und relationales Begegnungswissen?

Affektreflektives Training von Ausbildungsgruppen A.R.T. (Semester 3 und 4)

Mit der Bedeutung der Schnittstelle für die Lehre von psychischen Phänomenen wie Empathie und dem Verstehen von nicht sichtbaren Phänomenen gleichzeitig mit den Mitteln, die gelehrt bzw. vermittelt werden sollen, kämpfen viele Ausbildungen. Die seelischen Mechanismen wirken in einer Permanenz der Begegnung und sollen doch vermittelt werden, indem sie nur durch sich selbst vermittelt werden können. Die Betrachtung von psychischer Dynamik kann nur aus der Psychodynamik, die im Moment der Betrachtung vorherrscht, erfolgen. Indem ich sie sichtbar mache, verändere ich die Dynamik, die sich in einem permanenten dynamischen Prozess befindet.

Die Sprachbedeutung entscheidet die Formulierung und die Sichtweise der Situation. Wir sind in jeder Situation psychische Wesen, die Sprache in Form von Technik brauchen, um etwas sichtbar zu machen und etwas über sich und andere in Erfahrung zu bringen, das sich in Form von Selbst(erfahrung) und anderen (Supervision) entfaltet.

Wenn sich die Vorstellung der Trennung als Leitgedanke durchsetzt, so überwiegt der Gedanke der Technik in der Begegnung und legt den Fokus auf eine naturwissenschaftliche Sicht der Vermittlung. Wenn sich die Wertigkeit auf das psychische Dasein verlagert, fehlt die Referenz der Beschreibung der psychischen Phänomene und damit eine Trennung bzw. die Einnahme einer Metaposition zum emotionalen Erleben. Benennung und Vorstellung von Technik frieren die zu erdenkenden Phänomene für einen Moment ein. Diese werden betrachtbar bzw. er-denkbar. Alle diese Erlebnisse von Denkmöglichkeiten erfolgen immer eingebettet im Fluss des dynamischen, von Gefühlen und Affekten begleiteten unsichtbaren psychischen Erlebens.

Ausbildungen unterliegen immer der Gefahr, Student_innen in ihrer Konformität im Sinne der Institution zu unterstützen und sie in eine infantile Position zu manövrieren (Kernberg, 1996, 2014, 2016, 2017; Scharff, 2000, 2014, 2017). Wenn sich der Fokus auf den Punkt der Selbsterfahrung verlagert, erfolgt verstärkt eine Atmosphäre der Regression, die sich wiederum in einer Pendelbewegung zur kognitiven metapsychologischen Ebene ausgleichen lässt. Die Flexibilität dieser Pendelbewegung zeichnet eine dynamisch arbeitende Lerngruppe aus, der es gelingt, beide Komponenten des affektiven Lernens zu verwenden.

Die Trennung von Selbsterfahrung und Supervision im Sinne von formalisierter Technikbegegnung mit den Patient_innen eröffnet eine Lücke, in der sich in jeder Begegnung zwischen Menschen ein Lern- bzw. Selbsterfahrungsfeld eröffnet und sich die eigene Involviertheit dadurch entfaltet. Wer nun lehrend und lernend ist, verwischt in dieser Bedeutung und wird als gemeinsames Erleben erfahren.

Das von uns konzipierte Ausbildungsprogramm umfasst ein mehrkanaliges Entwicklungssystem für die Student_innen, das auf einer Form von „Beobachtung“ beruht, bei dem es um die Schulung von Empathie im Sinne einer Entwicklung einer inneren mentalisierenden, intersubjektiven, relationalen Haltung geht. Diese kognitive, emotionale, interpersonelle, relationale und mentalisierende Wissensvermittlung nutzt damit ein vielschichtiges System, in dem Beobachtungen diskutiert und emotional weiterentwickelt werden. Es braucht kognitives Wissen und Theorien, um einen Referenzrahmen für Vorstellungen um und über etwas zu haben.

Die pädagogische Vermittlung erfolgt mittels affektiver Gruppen-Lernerfahrungen, die auf der Reflexion von Prozessen in der Gruppe ein Kontinuum von Erfahrungslernen bieten. Durch die Verbindung von Kognition und Affekt kommt es zu neuen Lernerfahrungen, die sich emotional tiefer verankern und damit zu neuen Erfahrungen führen.

Erfahrungen konstituieren sich durch Affekte. Sie bilden eine motivationale Struktur und damit den Motor zur Ausbildung einer Organisation des Selbst bzw. des Ichs auf der Ebene des mentalen Apparates neurologischer Abläufe in Beziehungen und in Gruppen. Beziehungserfahrungen bilden die Grundlage unserer inneren Struktur und beeinflussen die Funktionsweise unserer Psyche als Organisatorin unserer Beziehungen (Scharff, Scharff, 2014, 2000).

Dieses Erfahrung-Sammeln durch das Eingebettet-Sein in Beziehungen, geleitet durch Affekte, wird zu einem gemeinsamen Strang von Verstehen verwoben. Lernprozesse des Verstehens bilden wiederum ein Erfahrung-Sammeln und unterliegen damit ebenfalls wieder einer reflektierenden Ebene. Wie lernen wir, und was erleben wir beim Lernen?

Lernen entwickelt sich in einem intellektuellen Klima, in dem die affektiven Resonanzen mit den kognitiven Theorien in Verbindung stehen. Konzepte werden dadurch gelebt und über das eigene Erleben verstanden. Die Student_innen müssen die Möglichkeit haben, beschriebene Phänomene selbst an sich wahrzunehmen und sie durch eine abstrahierende Theorie in eine Verallgemeinerung führen zu können. Die Kompetenz der Student_innen zeigt sich an der Fähigkeit, sich in der Kleingruppe auf den affektiven Prozess einzulassen und Verstehensprozesse fördern zu können.

Abbildung 1: Affektresonanztraining – Gruppengröße: Großgruppe 30 bis 50 Personen, vier bis sechs Kleingruppen mit fünf bis acht Teilnehmer_innen

Gruppe

Im Konzept von A.R.T. wird die Gruppe als affektiver Nährboden für das Lernen von Empathie bzw. deren Schärfung verwendet. Die Gefühle, die in der Gruppe von den Teilnehmer_innen erlebt werden, bilden die Basis für das kognitive Verstehen des dargebrachten Materials bzw. der geschilderten Szenen. Die kognitiven Inhalte, die von der Gruppenleitung und den Gruppenmitgliedern gebracht werden, bilden sich als sekundäres Verstehen heraus und richten sich immer nach den affektiven Inhalten. Wobei sich die meisten Gruppenmitglieder mit einem affektiv aufgeladenen Inhalt am kognitiven Material wieder beteiligen.

Die Gruppe bietet einen sicheren Raum für alle Teilnehmer_innen, um sich mit den oft belastenden Gefühlen zu konfrontieren und sie im Sinne des Verstehens zu äußern und als bedeutungsvoll zu erleben. Die Gruppe erzeugt einen Resonanzboden für die impliziten Gefühlswelten, die sich durch das dargebrachte Material entfalten, und generiert als Gruppe wieder eine eigene Sicht bzw. explizite Einflussnahme auf die vorgelesene Beobachtung. Die Student_innen erleben sich nicht einsam mit ihren Gefühlen und Wahrnehmungen, sondern fühlen sich durch die Peer-Gruppe aufgehoben. Die verwendeten Begriffe mit den Affekten und erlebten Gefühlen werden in der Gruppe zum Leben erweckt. Jede und jeder Teilnehmende wandelt die Erkenntnis in eine tiefe, persönliche Lernerfahrung um. Das kognitiv präsentierte Material und die diskutierten Theorien werden nicht nur intellektuell verstanden, sondern auch auf einer emotionaleren, tieferen Ebene des Selbst verankert.

Die Bereitschaft, es als Lernerfahrung zu verankern, hängt von der Fähigkeit der Gruppe ab, Affekte zu containen und damit eine Spannung zum Lernen zu halten, aber sich nicht von den Affekten wie Angst, Wut, Scham überfluten zu lassen. Kognitives Lernen bewegt sich in einem Raum der Aufrechterhaltung von Spannung, die in Neugier mündet und dem Schutz vor überbordenden Affekten, nicht in einen „Fluchtmodus“ getrieben zu werden (Bion, 2001).

Die Peer-Gruppe ermöglicht es, sich gegenseitig Worte zu schenken, um die eigenen Gefühle zu formulieren und damit wahrnehmen zu können. Es entsteht ein Gefühl von Freiheit, seinen Affekten nicht mehr so stark ausgeliefert zu sein, seine Emotionen formulieren zu können, sie in Worte zu abstrahieren. Dies ermöglicht Entscheidungsgewalt über sich zu gewinnen. Es reduziert die Scham, nicht allein mit seinen Gefühlen zu sein und diese am Ende eines Lernprozesses als Geschenk zu erleben. Mit meinen erlebten Gefühlen kann ich mich und den anderen verstehen und auch bewusster erleben.

Diese Form der Lernerfahrung, von der Gruppe gehalten zu werden, ermöglicht es den Student_innen, eine Fähigkeit zu entwickeln, sich authentischer den Patient_innen gegenüber zu erleben, damit auch empathischer und verstehender reagieren zu können. Die Studierenden können nun mehr Sicherheit für sich generieren, indem sie die von Patient_innen auf sie zugetragenen Affekte als nicht mehr angstauslösend im Sinne von Unaushaltbarkeit erleben. Am Ende der Lernerfahrung durch die Gruppe steht eine Sicherheit an klinischen Fertigkeiten, wie man sich authentisch auf die Begegnungen mit Patient_innen einstimmt und damit eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit für die Student_innen erlebbar wird. Sie erleben durch die Möglichkeit ihrer Haltung, ihrer Fähigkeit von Containment auf die Situation mit den Patient_innen durch die Veränderung der erlebten Affektivität Einfluss zu nehmen.

In der Gruppe verliert die Trennung zwischen den Modalitäten von Lernen und Lehren an Bedeutung. Es wird als gemeinsamer Prozess der Entwicklung betrachtet. Wissen entwickelt sich als Wachstumsprozess aller Beteiligten. Die Gruppenleitung entwickelt sich in einem permanenten Austauschprozess mit der Gruppe in ihrem eigenen Erleben. Lernen und Wachstum sind in dieser Form eine Haltung von einem gemeinsam kreierten Prozess der Erfahrungen, tief in einem Kontinuum verankert. Ob es sich um einen Prozess von Selbsterfahrung handelt, sich Neugier von einzelnen Gruppenteilnehmer_innen gegenüber eigenem neurotischem Verhalten oder Leiden entfaltet, obliegt der Gruppe. Diese entscheidet, welcher Fokus und damit Deutung und Rückschlüsse auf das Hier und Jetzt gelegt werden. Die Gruppenleitung bestimmt mit Hilfe der Gruppe die Konstruktion der Bedeutung gegenüber dem Erlebten und kreiert somit die gemeinsame Realität – ob es eine Reaktion der Gruppe, des Einzelnen, dessen Sorge oder eine Reaktion der Patient_innen darstellt. Das Psychische entfaltet sich in jeder Begegnung. Wir bestimmen gemeinsam die Bedeutung.

Die Kleingruppe bildet den Eckpfeiler des Erfahrungslernens. Die Gruppenteilnehmer_innen haben die Aufgabe, den Gruppenprozess zu beobachten und ihn reflektierend in den Prozess der Gruppe wieder zurückzuführen. Sie sollen einen flexiblen Denkprozess zwischen Involviertsein in die Gruppe durchlaufen und diese Erfahrungen wiederum auf einer Metaebene reflektieren, somit wiederum Rückschlüsse auf den Gruppenprozess generieren können.

Jede einzelne Person in der Gruppe hat die Aufgabe, in der Kleingruppe ihre Gefühle zum dargebrachten Material zur Diskussion zu stellen, anderen dadurch zu ermöglichen, davon berührt zu werden und wiederum durch ihre Äußerungen den Verstehensprozess mitzugestalten, sich dadurch selbst gewahr zu werden und eine Vorstellung von Bedeutung und Selbstwirksamkeit in der Gruppe zu entwickeln.

Die Lern- und Erfahrungsgruppe ist in einen größeren Kontext eines Ausbildungsinstituts eingebettet. Durch diese enge Beziehung fließen die Erfahrungen von Lehrinhalten und „affektivem Beteiligtsein“ in das Gruppengeschehen ein. Sie wird sehr stark durch die Atmosphäre der Ausbildungsinstitution und auf einer kleineren Ebene von der Haltung der Jahrgangsleiterin der Ausbildungsgruppen, die nicht in A.R.T. II und III (Semester 1/2 und 5/6) involviert ist, beeinflusst. Die Haltung der Leitung und die Haltung der Lehrgangsleiterin haben großen Einfluss auf die Gruppe und bestimmen damit die Bereitschaft der Student_innen, inwieweit sie bereit sind, sich auf diese Form des Lernens einzulassen. In unserem Ausbildungsinstitut stellt diese Unterrichtsform einen kybernetischen Prozess dar, der dem Lernen innewohnt und entscheidend zur zukünftigen Gestaltung der Ausbildungsrichtung beiträgt.

Zu Beginn von A.R.T. II wird mit dem gesamten Ausbildungslehrgang gearbeitet. In der großen Gruppe von 30 bis 40 Student_innen werden in einem vierstündigen Zeitrahmen die Konzepte von Konstruktion, Dekonstruktion, Beobachtungssituationen, relationaler Perspektive, Intersubjektivität und Mentalisieren gestreift. Später werden diese Konzepte in der Kleingruppe von fünf bis acht Teilnehmer_innen weiter ausgeführt. Diese Konzepte begleiten die Gruppenteilnehmer_innen bis zum Ende ihrer Ausbildung und versuchen, den Studierenden eine Sprache für die Formulierung von psychischen Phänomenen anzubieten.

Beim Vortrag in der Großgruppe reagieren die Student_innen sehr oft mit einer regen Diskussion über die für sie neuen Denkzugänge, die sich mehr der Geisteswissenschaft annähern und dadurch einen Modus Operandi von Auslegung aufweisen, sich aber dadurch sehr stark von den naturwissenschaftlich geprägten medizinischen Fächern entfernen. Bereits die erste Dekonstruktion in der Großgruppe kann mögliche Verunsicherungen auslösen, aber auch Gefühle von Freiheit, im Sinne einer Zuwendung zu neuen Denkräumen. Die Student_innen werden bereits in der Großgruppe dazu motiviert, sich mit Gedanken, Fragen und ihren Gefühlen an dem Vortrag zu beteiligen. Sie lernen in dieser Sequenz, den Mut zu haben, die Vortragende zu unterbrechen und einen gemeinsamen Prozess zu gestalten. Dieser Prozess kann verstärkt von Angst begleitet werden, die sich durch Kommentare äußern kann, die von konkretistischen Überlegungen geleitet werden. Student_innen erleben sehr oft auch Gefühle von Scham, speziell in der Vorstellung „durchschaut“ und „analysiert“ zu werden. In dieser offenen Begegnungsdynamik wird Frustration gegenüber dem Lernen, der Institution und anderem offenbar. Lernerfahrungen aus einer schulischen Vergangenheit, die als traumatisierend erlebt wurden, greifen nun Raum in einer offenen Dynamik.

In der Großgruppe bekommen die Student_innen durch die gemeinsame Verwobenheit mit der Vortragenden eine Idee von der gemeinsamen Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit. Die Moderation fordert die Gruppe durch das Vermitteln von unterschiedlichen Zugängen zum Verstehen von seelischen Phänomenen auf. Es geht auch darum, sich vor der Identifikation mit einer „richtigen“ Meinung zu schützen. Theorien unterschiedlicher Verstehenskonzepte ermöglichen erst, einen Referenzpunkt füreinander zu entwickeln und damit ihre Vorzüge und Schwächen zu offenbaren. Durch diese Denkformen verlieren die Student_innen die Scham, sich in ihren Äußerungen mit falsch und richtig beschäftigen zu müssen. Sie werden mutiger darin, ihre Gedanken reflektiv zur Diskussion zu stellen.

Am Ende dieser Großgruppensequenz bekommen die Student_innen einige verschriftlichte Handlungsanweisungen für die Rahmenbedingungen der Protokolle und eine Zeitstruktur für die Beobachtungssequenzen in den jeweiligen Praktika, die sie absolvieren werden. Die genauere Aufarbeitung und Fragen zu den Handlungsanweisungen werden in die Kleingruppen verlegt.

Beobachtung

Die primäre Aufgabe der Beobachtung besteht darin, den Student_innen eine Möglichkeit zu bieten und sie darin zu fördern, ihre innere Welt zu erweitern, um diese dadurch reicher und vielfältiger erleben zu können. Diese neu gewonnenen inneren Welten eröffnen den Studierenden ein größeres Repertoire des Verständnisses von Intersubjektivität und Relationalität, mit dem sie diesbezügliche Erkenntnisprozesse weiterentwickeln können. Außerdem lernen die Student_innen, mit der Kränkung umzugehen, so dass es keine objektive Beobachtung der Realität gibt und somit auch keine objektive Wahrheit. Vor diesem Hintergrund gibt es keine „richtige“ Beobachtung. Die Student_innen sollen gefördert werden, an ihren Beobachtungen Interesse zu entwickeln und somit zu einem Verständnis der Intentionen anderer zu kommen.

Die Gruppenleitung führt die Student_innen in einem prozesshaften Geschehen in ihre gemeinsame innere Wahrnehmungswelt und lässt sie wiederum ein subjektives Verständnis der Realität konstruieren – als gemeinsame Ko-Konstruktion. Diese Ko-Konstruktion bezieht sich sowohl auf die innere Welt als auch auf die äußere Welt der Student_innen. Die Dichotomisierung der Welt ist nur ein Konstrukt, das in der Begegnung konstruiert wird. Empathie und das Verstehen des Gegenübers entwickeln sich nicht in der Suche nach einer „wahren“ (naturwissenschaftlich begründeten) Objektivitätskriterien genügenden Realität, sondern das Erkennen erfolgt über die Aufnahme von affektiven Reizen, von denen wir uns berühren lassen und über deren mentale Konstruktion wir Verständnis entwickeln (Hoffman, 1998). Dadurch, dass ich zunächst im Ungewissen über die Bedeutung der in mir ausgelösten Szene bin, beginnt sich eine Möglichkeit und Fähigkeit zum Aushalten einer Beobachtung in mir zu manifestieren. Ungewissheit ist an den Affekt Angst gekoppelt und lässt uns in inneres Enactment gleiten, was nun zu einer äußeren Handlung führen könnte (Mitchell, 2005).

Wie weit kann ich mich einer Mikroszene stellen und diese halten, d. h., meine inneren Gefühle be-halten. Wie viel Enactment brauche ich, um die Beobachtung er-tragen zu können? Erst durch die Fähigkeit meiner Beobachtung, eine Subjektivität beschreiben zu können, gewähre ich den Patient_innen einen Raum von Autonomie und somit eine Freiheit bzw. einen Frei-Raum, in dem sich Entwicklung ausbreiten kann. Die Gruppenleitung vermittelt über die eigene Subjektivitätsvorstellung, dass ihre Interpretation des Materials und ihre dazu geäußerten Gefühle keiner im wissenschaftlichen Sinne verstandenen Wiederholbarkeit entsprechen, sondern im Sinne der gadamerschen Vorstellung von „Vor-Urteilen“ getragen sind, die wir aus unserer „Tradition“ heraus erdenken. Dieses stellt den Referenzpunkt unserer Interpretationen dar und befindet sich immer im Fluss der Veränderung (Gadamer, 2010; Orange, Atwood, Stolorow, 2001).

Die Kompetenz der Student_innen entwickelt sich als innere Vorstellung von der Gleichberechtigung ihrer Beobachtung mit derjenigen der Gruppenleitung und deren Autorität. Diese innere Veränderung ist wiederum der rückführende Nährboden für die Entwicklung der Patient_innen. Die Gruppenleitung hat verschiedene Modelle bzw. einen theoretischen Bezugsrahmen zur Interpretation ihrer Affekte und damit wiederum eine Rückschlussmöglichkeit zum Verstehen der Implizität der Patient_innen. Die Student_innen sollen lernen, dass es verschiedene Bezugsrahmen zum Verstehen des psychischen Erlebens gibt. Es handelt sich dabei um Metaphern wie die medizinische, psychoanalytische (intersubjektiv, relational) und systemische Nosologie. Die Entwicklung beginnt für den Menschen im Verstehen von subjektiven Zuschreibungen unserer inneren Wahrnehmungswelt. Je mehr Metaphern ich für das Verstehen zur Verfügung habe, desto mehr Raum an Verstehen kann ich mir eröffnen. Nicht alles ist beliebig bzw. kann zum Verstehen unseres Selbst herangezogen werden. Dieser Überprüfung unterziehen wir unsere kognitiven, von der Logik beherrschten Denkmuster und erkennen in einem mehrschichtigen Zusammenspiel, ob eine Theorie für uns passt oder wir sie ablehnen. Hieraus kann ein Common Sense entstehen, der wiederum kultur- bzw. paradigmatisch gebunden ist.

Die Student_innen sollen lernen, über Theorien, die ihnen angeboten werden, einen inneren Referenzpunkt des Verstehens zu bilden. Erst über Strukturen des inneren Verstehens können wir unseren impliziten Reichtum aus der Tiefe des Erlebens schöpfen. Erfahrene Kliniker_innen können ihre Theorien verändern, auflösen und wiederum neu zusammensetzen und somit etwas Eigenes kreieren und damit die Subjektivität des Verstehens der Implizität des Menschen nutzen.

Die Gruppenleitung lehrt die Student_innen, dass ihre Beobachtungen Einfluss auf ihr Material haben. Es gibt kein Nicht-Beeinflussen einer Situation. Beobachtung verändert diese. Speziell die Intention der Student_innen verändert die Beobachtung. Diese hat immer die Gruppe dabei, die mit ihr beobachtet und das Material der Beobachtung beeinflusst. Jedes Gespräch über das Protokoll verändert das Verstehen über die beobachtete Szene. Jedes Hinsehen beeinflusst das Ergebnis im Sinne von Heisenberg (Mitchell, 2005; Kunzke, 2011; Pohlmann, 2013).

Ich gestatte der Szene, in mich einzudringen, eine intime Begegnung in mir zuzulassen. Durchlässigkeit stellt in der Bedeutung von Empathie die Fähigkeit dar, sich eigene Bilder zu generieren, die die Emotionalität des Gegenübers wiederum spiegeln. Der Blick in mich stellt sich der intersubjektiven Totalität einer zu gestaltenden Begegnung bzw. der Konstruktion einer gemeinsamen Realität, in der wir uns verstanden fühlen (Mitchell, 2005).

Bei unserer Form des Unterrichtes geht es nicht darum, die Studierenden zu lehren, was eine „richtige“ Beobachtung und Interpretation ist, sondern zu vermitteln, wie über die Erweiterung des eigenen inneren Erlebens eine Vorstellung über das Geschehen in der Beobachtung entwickelt werden kann. Die Leitungskompetenz liegt nicht in einer hochkomplizierten Vermittlung von Theorien, um die Patient_innen zu verstehen, sondern manifestiert sich darin, den Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, über das eigene Verstehen einen Raum von Subjektivität für das Interpretieren und die Akzeptanz der eigenen Begrenztheit zu ermöglichen. Die Gruppenleitung „biete(t) eine Sicht von Wissen und Autorität … eines Experten für gemeinschaftliche und selbstautorisierende Selbstreflexion an, für die Entwicklung von Konstruktionen, die von Nutzen sind, um das Erleben des Patienten zu verstehen“ (Mitchell, 2005, S. 289 f.).

Das Leiten und Moderieren der Ausbildungsgruppe erfolgt durch einen mehrdimensionalen Vermittlungsaustausch. Die Gruppenleitung ermuntert immer wieder, über das Geschehen in der Gruppe eine reflektierende und mentalisierende Position einzunehmen. Warum reagiere ich mit diesen Gefühlen auf das vorgebrachte Material? Welche Rückschlüsse auf die Geschichte lassen die Inhalte dieser Reflexion zu, um damit die beschriebene Situation besser verstehen zu können? Die Student_innen lernen gezielt, mit ihren Affekten zu arbeiten, um die Situation zu interpretieren und auch über den Prozessablauf nachzudenken. Warum zum Beispiel reagiert die Gruppe mit diesen Affekten auf das dargebrachte Material, und wie lässt sich das wiederum auf die Situation rückschließen? Der Prozess stellt sich im Moment als permanenter Fluss dar, in dem jedes Nachdenken über eine Reaktion des oder der Einzelnen und der Gruppe wiederum eine kognitive bzw. affektive Veränderung darstellt. Zu jeder Reaktion kommt ein anderer Gedanke, der wiederum einen Affekt berühren kann.

Die Theorie, die sich aus Modellen der Relationalen Psychoanalyse, der Intersubjektivität, der Work Discussion, des Mentalisierungskonzepts, der Säuglingsforschung und der Feldtheorie zusammensetzen kann, wird primär von der Gruppenleitung eingebracht. Diese dekonstruiert gleichzeitig die Theorie und weist darauf hin, dass sie auf ihrem Wissen beruht und dies wiederum relativ ist. Wir brauchen Theorien, um dem Nichtsprachlichen eine Sprache und damit erst einen kognitiven Zugang geben zu können. Sonst könnten wir keinen Austausch darüber finden und würden von den Gefühlen, die die Patient_innen in uns auslösen, weggeschwemmt werden (Boynton, 2002).

Die Student_innen sollen verstehen, dass Theorien als eine Form von Metapher zu betrachten sind. Sie sind Verstehensmodelle, um Nicht-Sichtbares in Sichtbares zu verwandeln und stellen keine Wahrheiten dar, sondern können nur als Unschärfe betrachtet werden, wie es Heisenberg (2011) darlegte. Seelische Dynamik ist nur durch Metaphern darstellbar, da es sich um Bewegung handelt. Jede Theorie, die wir als Wahrheit betrachten, führt uns von der reflektiven Ebene des Verstehens weg und bringt den Gegenstand zur Erstarrung und somit auch unser Denken. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Denkmodelle über das psychische Geschehen keine Wahrheit abbilden können, da sie das, das sie erfassen möchten, damit aussperren und zerstören.

Wer sich nicht in Frage stellen kann, kann nichts in Frage stellen und damit auch keine Frage formulieren, die das konkretistische Denken in eine implizite relationale Welt überführt. Die Gruppenleitung hat als Identifikationsfigur die Aufgabe, sich selbst immer wieder bzw. ihre Theorien in Frage zu stellen und somit dazu beizutragen, einen Raum zu eröffnen, in dem sich Kreativität entfalten kann und in dem sie die Möglichkeit des freien Gedankenspiels und Äußerns von Gedanken bietet. Ihre Gedanken zu äußern, ohne sie einer Zensur zu unterlegen, ist für die Student_innen nicht möglich. Unsere Schulkultur vermittelt eine Haltung, die normativ „Falsches“ von „Richtigem“ unterscheidet. Damit identifiziert, bedeutet es eine innere Zensur, der mein Gedanke unterliegt – ob er „gescheit“ ist, dazu passt und ich dafür Anerkennung bekomme. Hier ist das Erfahrungslernen von immenser Bedeutung, das damit beginnt, eine Möglichkeit für die Student_innen zu bieten, sich mit der Leitung zu identifizieren.

Die Gruppenleitung unterzieht sich selbst dem Prozess der Veränderung und Entwicklung. Sie lernt ebenso wie die Student_innen durch Erfahrung. In regelmäßigen Abständen treffen sich die Gruppenleiter_innen, um aus ihrer Sicht die Gruppenarbeit zu reflektieren. Diese Transparenz ermöglicht es auch ihnen, sich über eine Situation der Konkurrenz und des Leistungsdruckes reflexiv bewusst zu werden.

Der Beobachtungsraum eröffnet sich durch das Beobachten einer Patientin oder eines Patienten sowie einer Szene. Jede Form des Hinsehens beruht auf Intersubjektivität. Damit wird der Beobachtungsraum geschaffen und gleichzeitig beeinflusst. Meine Beobachtung gestaltet und verändert die Szene und bleibt somit unscharf in Bezug auf Objektivität. Mentalisieren bedeutet nun: „Ich kann das sehen, das meine Mutter in mir gesehen hat bzw. wie sie mich gesehen hat.“ Sich einen Raum des Sehens zu öffnen, hängt mit der Fähigkeit des In-sich-Blickens zusammen. Das intersubjektive Beobachtungsfeld wird aus vielen Erfahrungswelten kreiert. Diese Welten beruhen auf der Erfahrung in der Begegnung mit anderen Bezugspersonen. Meine Mutter sieht mich, also bin ich. Indem ich gesehen werde, kann ich meine Mutter sehen.

Die Genauigkeit der Beobachtung führt uns zur Individualität unserer Wahrnehmung und zur Einsamkeit durch Unverbundenheit mit den Realitäten von anderen Menschen. Der Wunsch des Menschen liegt darin, dass die eigene Wahrnehmung von anderen Menschen verifiziert wird. Kann es uns destabilisieren, reagieren wir mit Erregung und mit Angst. Wenn wir diese Instabilität des Organismus erdenken, dann fühlen wir uns verrückt, zweifeln an unseren Sinnen. Wirklichkeit und Realität bestehen aus Konstruktion und Beeinflussung.

Vorbereitung zu einer beobachtenden Haltung

In der Kleingruppe wird nun die Aufgabenstellung für die Student_innen besprochen. Welche Haltung brauche ich bzw. zu welcher Haltung möchte ich mich entwickeln, um „sehend“ zu werden?   In der ersten Kleingruppensitzung kommen Themen zum Tragen wie: „Wie werde ich eine gute Beobachterin oder ein guter Beobachter? Mit welchen Ängsten und Phantasien könnte ich konfrontiert werden?“ Viele Phantasien der StudentInnen drehen sich um die Vorstellung, dass ein Notfall passiert – dürfen sie nun eingreifen oder „müssen“ sie weiter beobachten? Wie komme ich zu einer „haltenden“, containenden, gleichschwebenden Aufmerksamkeit? Wie richte ich meinen Fokus weg vom Enactment und dorthin, „alles“ zu beobachten und „gleichwertig“ zu betrachten?

Die Fragestellung nach der Hilfeleistung und der Verweigerung einer solchen weist sehr stark auf die Bedürfnisse der Student_innen hin, sich in der konkretistischen Welt zu bewegen und dort Antworten zu erhalten. Die Gruppenleitung kann auf die meisten Fragen keine Handlungsanweisung geben, da sich damit die Dynamik weg vom Innenleben in eine mögliche, nicht verstehbare Handlungswelt verlagert. Es wäre eher ein Hinweis, über den Affekt nachzudenken, der zu dieser Frage geführt hat, um die psychische Bedeutung darin zu ergründen.

Eine Haltung einzunehmen, in der meine Passivität, mein Enactment, meine Affektanflutung unter das Umgebungsniveau kommen, ist für die Student_innen eine der schwierigsten Aufgaben, die sie zu bewältigen haben. Viele betrachten es nicht als schwierig, zu beobachten, etwas, das sie ja permanent in ihrem Leben begleitet. Eine „teilnehmende“ Beobachtung erleben sie als Erleichterung der Aufgabe. Das Einnehmen einer ruhigen Beobachterposition im Raum fällt den meisten sehr schwer. Dies wird erst im Erproben dieser Rolle sicht- und verstehbar für die Student_innen. Viele betrachten Handeln als Tätigkeit, die sozial anerkannt ist und Beobachten als ein Nichtarbeiten. Am Beginn unseres Ausbildungsprojektes reagierten einige Stationen mit Angstphantasien auf die Student_innen. Sie äußerten Ängste, dass die Patient_innen auf diese paranoid reagieren könnten. Diese Befürchtung hat sich seit dem Start des Projektes im Jahre 2010 kein einziges Mal bewahrheitet. Die Ängste liegen auf Seiten der Abteilung und nicht bei den Patient_innen. Eine weitere Sorge von Seiten der Student_innen liegt in der Bemerkung, dass sie auf einer Praktikumsstelle seien, in der es nichts zu beobachten gäbe.

Die Schnittstelle liegt oft in der Fragestellung von „Abwehr“ gegenüber der Ausbildungssituation, in der sich nach drei Semestern viele affektiv aufgeladene Themen angesammelt haben, und in den Ängsten, die sich durch die mögliche Beobachtungssituation ergeben könnten. Eine weitere Angst liegt in der Vorstellung, die Beobachtung zu Papier zu bringen, wobei es nicht um eine „objektive“ Symptome beschreibende Beobachtung geht, sondern um eine phänomenologische Beobachtung mit all den dazu erlebten Gefühlen. In manchen Gruppen wird auch viel über „Wie schreibe ich“ gesprochen, um die Student_innen dazu zu motivieren, Material durch sich zu gewinnen.

Eine Haltung für die Beobachtung besteht in der Universalität einer jeden Beobachtung und der damit verbundenen Sicht und dem Verstehen einer Szene bzw. der Interaktionen, die ich wahrnehme. Es gibt damit keine falsche bzw. richtige Beobachtung. Entwicklungsfortschritte zeigen sich an der Veränderung, wie die Student_innen nun auf die Protokolle regieren, indem sie von konkretistischen Interpretationen zum Äußern von Gefühlen und Gedanken kommen.

Je stärker ich meine Affekte in die Beschreibung verwebe, desto mehr lösen sich meine Grenzen zwischen krank und gesund auf. Menschen werden individueller durch die Beobachtung, aber sie kommen mir näher durch meine Gefühle, die durch die Beobachtung ausgelöst werden. Da das Verstehen über mich geht, erschließt sich das Verstehen nur über mich und führt auch zu den Ängsten von Ähnlichkeit des Erlebens mit den Patient_innen, die ich beobachte.

Exploration der Gefühle der Student_innen, die sie gegenüber dem Material haben ((Ü 2))

Je offener und kollegialer die Stimmung in der Gruppe ist, desto mehr können die Student_innen von ihren Gefühlen einbringen und somit mehr Tiefe zum Material entwickeln. Die Gruppenleitung fragt vorsichtig nach den Phantasien, Gefühlen, Stimmungen, Wahrnehmungen der Studierenden, die sich im Laufe des Gruppengeschehens immer wieder mit ihren Gedanken einbringen und somit auch in der Reflexion dieses Geschehens eine Vorstellung von Prozess und Entwicklung bekommen, die sich einerseits im Material abzeichnet, sich andererseits aber auch über die Gruppe und über sie als Einzelpersonen erschließen lässt. Die Gruppe konstruiert gemeinsam eine Realität, wobei das Material als Basis dieses Prozesses dient, und die Student_innen lernen, dass sich das Material jedes Mal verändert, wenn es in den Fokus der Gruppe bzw. der Einzelnen kommt. Es kann nur dynamisch hingesehen werden bzw. die Dynamik des Hinsehens verändert permanent den Prozess des psychischen Verstehens des Materials. Hier kommt es zur Schnittstelle zwischen der Dynamik und dem Ort des Materials.

Natürlich berührt diese Form des Arbeitens auch tieferliegende Konflikte der Student_innen, was wiederum ein sehr taktvolles Vorgehen von Seiten der Gruppenleitung erfordert. Je länger die Gruppe zusammenarbeitet und sich ein Raum für Exploration eröffnet, desto mehr werden persönliche Narrative von Seiten der Teilnehmer_innen vorgebracht. Hier beginnt die Schnittstelle zwischen Selbsterfahrung und der Möglichkeit des Verstehens dem Material gegenüber. Es ist wichtig, dass die Gruppenleitung eine Verbindung zwischen den Gefühlen der Student_innen und dem bearbeiteten Material herstellt. Die Gruppe sollte nicht zu einem Pool der Selbsterfahrung werden. Sie unterliegt manchmal dem regressiven Wunsch nach Selbsterfahrung, was den Fokus vom Beobachtungsmaterial ablenkt und die Gruppenleitung in eine überhöhte bzw. mütterlich-väterliche Position hievt, womit der kollegiale Aspekt der Zusammenarbeit aufgegeben wird. Hier herrscht eine narzisstische Verführung gegenüber der leitenden Person vor. Die Student_innen sollen am Ende des Prozesses verstehen, dass sie in sich blicken müssen, um beobachten zu können bzw. die Beobachtung einer Interpretation zuführen zu können. Das implizite Wissen wird zu einem expliziten Wissen. Diese Umwandlung kann nur durch die Student_innen und die Gruppe erfolgen. Die Studierenden und die Gruppe dienen als Katalysator des Verstehens auf der bewussten Ebene.

Die Gruppenleitung sollte sich als Person vermitteln können, um nicht mystifiziert zu werden und um in ihrem Wissen nicht delphische Ausmaße zu bekommen. Je orakelhafter sie mit ihrem Wissen auftritt, desto mehr fördert sie die Regression der Gruppe. Die Student_innen werden dadurch auch in ihrem kreativen Prozess behindert und in eine masochistische Haltung gegenüber ihren Beobachtungen bzw. Interpretationen gedrängt. Die Gruppenleitung muss die immer wieder auftretende Idealisierung ihrer Person in eine kreative, wohlwollende und kollegiale Beziehung umleiten. Hier ist es im Sinne der Mentalisierung wichtig, die Interpretationen und Wahrnehmungen aller Gruppenteilnehmer_innen als wichtig und bedeutungsvoll für das Material zusammenführen zu können. Die Gruppenleitung soll die Kommunikation unter den Gruppenmitgliedern fördern und herausfordern, um damit ihren Leitungsstatus in Frage zu stellen und von der „Guru-Funktion“ entbunden zu werden, die sich in hierarchischen Institutionen schnell entwickeln kann.

Protokolle

Die Student_innen entscheiden selbständig über die Situation, die sie beobachten und dann später protokollieren. Sie lesen sie vor und färben durch ihre Prononcierung das Protokoll in ihrem Sinne ein. Die Gruppe legt den Fokus auf das Gesamtprotokoll, und später werden dann einzelne Sequenzen besprochen und immer wieder Rückschlüsse zwischen diesen beiden Ebenen gezogen.

Beobachtungskompetenz

Im Laufe des gemeinsamen Arbeitens in der Gruppe sollten die Student_innen in der Lage sein, über die Beobachtung Hypothesen zu entwickeln, die ein plastisches und integriertes Bild wiedergeben können. Sie sollten auch eine Vorstellung von der Entwicklung von Szenen bekommen und woher sie eventuell entstanden sind, also integriertes Denken auf einer Gesamtebene entwickeln können.

Zusammenfassung

Die Aufgabe der einzelnen Studierenden besteht im Erbringen eines Protokolls pro Gruppentreffen. Ein bis vier Mal pro Semester lesen sie ihr Protokoll vor und stellen es den anderen Gruppenteilnehmer_innen für eine Diskussion zur Verfügung. Jedes Gruppenmitglied beteiligt sich an der Diskussion über die gelesene Präsentation. Die Student_innen bringen ihre Gefühle und Assoziationen zum Material ein. Sie sind beherrscht von emotionalen, intellektuellen und persönlichen Reaktionen. Alle Beteiligten bemühen sich, ob ihrer dargebrachten Statements in ein gemeinsames Gespräch zu kommen. Die Gruppen reflektieren auch den Metaprozess des Gruppengeschehens und dessen Entwicklung zum dargebrachten Material. Diese Kleingruppe nimmt in der Ausbildung eine Sonderstellung ein, da sie die Intimität einer Peergruppe bzw. Kernfamilie birgt. Durch diese Gruppengröße können alle erlebten Gefühle, Vorstellungen, Kulturaspekte gemeinsam erlebt und verarbeitet werden. Die Kleingruppe ermöglicht erst ein emotionales, geteiltes Lernen, in dem klinisches Beobachtungsmaterial affektiv betrachtet und erfahrbar gemacht werden kann. Sie bietet auch den Raum, um eine Vorstellung von der eigenen Selbstwirksamkeit zu bekommen – welchen Einfluss kann die einzelne Person auf die Gruppe nehmen? Es kann nachgedacht werden über den Einfluss von Theorien auf die Gruppe und vice versa. Konzepte werden von und durch die Gruppe gelebt und so auf einer emotionalen Ebene als Lernerfahrung verankert. Die Gruppe lebt die Theorien und das Geschehen in der Gruppe wird durch die Metapher von Theoriegebäuden erdenkbar und diskutierbar gemacht und somit auch wieder einer Veränderung unterzogen. Die Verankerung von Konzepten auf einer tieferen, emotionaleren Ebene wird für die StudentInnen später als haltungsbildende Erkenntnis für die Begegnung mit den Patient_innen zur Verfügung stehen und wiederum Einfluss nehmen auf ihre Interventionen.

In den Gruppen passiert auf unterschiedlichsten Ebenen eine Lernerfahrung mit Fokus auf der Empathie-Förderung. Theorie, Reflexion und Erkenntnis werden in einem gemeinsamen, erlebbaren Raum entwickelt.

In den Treffen mit den Gruppenleiter_innen werden die Gruppenerfahrungen und die dargebrachten Konzepte wiederum einer Evaluierung unterzogen und somit auf ihre Anwendbarkeit überprüft. In den Gruppenbesprechungen mit den Institutsleiter_innen und allen Projektverantwortlichen werden auf einer strukturelleren Ebene Nachjustierungen des Programms besprochen. Das Unterrichtsprojekt unterliegt einem Veränderungsprozess, durch den es auch einen integrativen Faktor auf die Ausbildungsinstitution ausübt.

Literatur

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Autor:in

  • Johann Steinberger

    Mag. Johann Steinberger BA., Psychotherapeut mit forensischem Schwerpunkt, Sachverständiger, Univ.-Lektor an der SFU, Diverse nationale und internationale Lehraufträge, Supervisor, Psychiatrischer Diplomkrankenpfleger, js@psychotherapie-vienna.at