„Nehmen Sie die Körperlichkeit als Traktandum auf“

19. Januar 2020 | Christophs Pflege-Café, Diabetes | 0 Kommentare

Das Buch „Somatische Pflege in der psychiatrischen Arbeit“ kann sicher als ein Weckruf verstanden werden. Wo die verletzte Seele allzu laut schreit, dort geraten körperliche Beschwerden in den Hintergrund. Thomas Schwarze, Regine Steinauer und Simone Beeri machen darauf aufmerksam, dass der Körper bei der Seelenheilkunde nicht aus dem Blick geraten sollte. Bei einem Gipfeli haben sich der Pflegewissenschaftler Thomas Schwarze und Christoph Müller zusammengesetzt.

Christoph Müller Was ist die Motivation dafür gewesen, dass Sie als Pflegefachleute die somatische Versorgung seelisch erkrankter Menschen in den Fokus genommen haben?

Thomas Schwarze Begonnen hat es mit einem gemeinsamen Projekt (Regine Steinauer und ich), bei dem die Frage zu klären war, unter welchen somatischen Komorbiditäten psychisch erkrankte Menschen leiden. Wir waren entsetzt, als wir feststellen mussten, dass die durchschnittliche Lebenszeit bei ihnen sehr viel kürzer als bei psychisch gesunden Menschen war. Es wurde festgestellt, dass sicherlich ein Teil dieser kürzeren Lebenserwartung durch suizidale Handlungen herrührte. Darüber hinaus wurde klar, dass die Erkennung und Behandlung von somatischen Krankheiten bei dieser Zielgruppe sehr im Argen lagen. Angesprochen von Caroline Gurtner, die Mitherausgeberin der Buchreiche Praxiswissen des Verlags Psychiatrie ist, haben wir zugesagt und Simone Beeri ins Boot geholt, da sie eine unvergleichbare Expertise sowohl in der somatischen als auch psychiatrischen Pflege aufweist.

Christoph Müller Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass beispielsweise Pflegende in den psychiatrischen Kliniken geradezu hilflos wirken, wenn die ihnen anvertrauten Menschen somatisch versorgt werden müssen?

Thomas Schwarze Es gibt viele Gründe hierfür. Ein wesentlicher Grund könnte im Fokus der Einrichtung liegen. So gibt es auf beiden Seiten der Versorgung (somatisch wie psychiatrisch) immer noch das Denken, dass der primäre Behandlungsauftrag nicht auch die andere Seite der „Medaille“ beinhaltet. Da psychisch kranke Menschen älter werden, bedingt dies jedoch eine andere Herangehensweise. Weiterhin gibt es meiner Meinung nach zu wenige interne Fortbildungen, die sich der somatischen Pflege annehmen. Der interdisziplinäre Fokus wird bei der Behandlung noch immer weitgehend nicht gelebt. Ein weiterer Grund könnte sicherlich darin liegen, dass den Betroffenen und den Angehörigen zu wenig Gehör geschenkt wird.

Christoph Müller Im Zusammenhang mit seelischen Erkrankungen weisen Sie in dem Buch konsequent auf psychotherapeutische Interventionen und Low-Intensity-Maßnahmen hin. Dies zeigt ja, dass sie die somatische Versorgung seelisch erkrankter Menschen als multiprofessionelle Aufgabe verstehen. Wie kann es beispielsweise Pflegenden gelingen, andere Berufsgruppen bei diesen Anforderungen mitzunehmen?

Thomas Schwarze Zuerst mal müssen die Betroffenen selbst sowie ihre Angehörigen einbezogen werden. Beide Gruppen sind im Besitz von nötigen Informationen, die für die weitere Planung wichtig sind. Dann sollte der somatische Aspekt in allen Besprechungen thematisiert werden. Nur durch das wiederholte Ansprechen in solchen Sitzungen kann ein Bewusstsein für somatische Probleme schaffen.

Es stellt sich auch die Frage, warum interne Fortbildungen oft getrennt nach Disziplinen durchgeführt werden. Warum sollte es nicht möglich sein, eine Fortbildung zum Thema Diabetes für alle durchzuführen. Hierfür braucht es den Support sowohl der pflegerischen wie auch der ärztlichen Leitung.

Christoph Müller Immer wieder tauchen bei den Erläuterungen zu den körperlichen Erkrankungen die An-und Zugehörigen auf. In welcher Rolle sehen sie das soziale Umfeld eines seelisch erkrankten Menschen, der auch körperlich eingeschränkt oder gar erkrankt ist?

Thomas Schwarze Familienmitglieder tragen einen Großteil der außerstationären Pflege und Betreuung ihrer erkrankten Angehörigen. Sie sind die erste Anlaufstelle, übernehmen oftmals die Verantwortung bei Krisensituationen. Daher stellen sie eine wichtige Ressource dar. Wir müssen uns meiner Meinung nach auch von dem liebgewonnenen Bild verabschieden, dass nur der erkrankten Person unsere Aufmerksamkeit gelten sollte. Psychisch kranke Menschen leben auch in vielen verschiedenen Beziehungen und haben verschiedene Rollen.

Christoph Müller Immer wieder schreiben Sie über die Lebensqualität des Einzelnen. Im Kontext einer Multimorbidität wirkt ein Begriff wie dieser möglicherweise anmaßend. Wie schaut für Sie Lebensqualität im Konkreten aus?

Thomas Schwarze Dies kann individuell sehr verschieden sein. Sicherlich klingt Lebensqualität im Zusammenhang mit einer Multimorbidität ein bisschen schräg. Jedoch kann Lebensqualität, wenn auch eventuell nur eingeschränkt, erzielt werden, wenn die Betroffenen mit ins Boot geholt werden. Lebensqualität kann bedeuten, dass die Autonomie des Betroffenen / der Betroffenen gewahrt wird. Oder dass die Pflege und Betreuung sowohl der psychiatrischen wie auch der somatischen Pflege es den Betroffenen ermöglicht, am Leben weiterhin selbstbestimmt teilzunehmen. Oder, oder, oder …. Mein Tipp: Fragen sie doch einfach mal nach, was ihr Gegenüber darunter versteht, was er noch im Leben machen möchte, was er vermisst, was er braucht …

Christoph Müller Einen breiten Raum nehmen in dem Buch die Medikamenten-Interaktionen ein. Diesbezüglich scheint es unter Medizinern wie Pflegenden eine große Hilflosigkeit zu geben. Was kann dagegen gemacht werden?

Thomas Schwarze Ich sehe das Problem schon etwas früher. So sind sich Pflegende und Ärzte bezüglich der Wichtigkeit und Wertigkeit von Psychopharmaka nicht ganz einig. Grob vereinfacht bedeutet dies, dass Pflegende in meinen Augen zuerst einmal erkennen müssen, dass Psychopharmaka in gewissen Situationen sehr sinnvoll sind. Ärzte hingegen müssten erkennen, dass Psychopharmaka nicht die einzige oder wichtigste Möglichkeit der Behandlung darstellen. Zudem ist aus der Literatur bekannt, dass nach einem stationären Austritt die Medikamente oftmals nicht so eingenommen werden, wie sie sollten. Auch hier muss ich die Betroffenen wieder ins Spiel bringen. Sie bringen oftmals ein reiches Wissen bezüglich der Medikamente, ihrer Wirkung und Nebenwirkungen mit. Ihre Meinung dazu wird oftmals aber nicht gehört. Dazu fehlt meines Erachtens eine klare Verantwortlichkeit bezüglich einer aktuellen Medikamentenliste. So wird auch selten nach „over the counter“ Medikamenten gefragt (rezeptfreie Medikamente). Bezüglich der Medikamenten-Interaktionen haben somatische Einrichtungen das gleiche Problem. Es ist sehr aufwändig, sich zu diesem Thema à jour zu halten und diese Fragen werden vom hauseigenen Apotheker, soweit vorhanden, behandelt. Meines Wissens gibt es aber inzwischen auch fundierte –leider- kostenpflichtige Webseiten oder Apps, bei denen die vorhandenen Medikamente auf allfällige Interaktionen überprüft werden können. Ich habe mich schon häufiger gefragt, warum in den klinikinternen Informationssystemen bei der Medikation nicht einfach ein Warnsignal erscheint, wenn Medikamente, die sich gegenseitig stark beeinflussen, eingeschrieben werden. Letzten Endes ist die gesamte Thematik der Medikamente, ihrer gewünschten und unerwünschten Wirkungen, sowie ihrer Interaktion mit anderen Medikamenten für mich ein Muss bei der interdisziplinären Fortbildung in der psychiatrischen Versorgung.

Christoph Müller Wenn es um die Aufmerksamkeit für somatische Beschwerden geht, dann empfehlen Sie eine proaktive Beziehungsarbeit. Machen Sie dies doch nochmals anschaulich.

Thomas Schwarze Es ist ganz einfach. Nehmen Sie die Körperlichkeit in jedes Gespräch, jede Sitzung oder Übergabe als Traktandum auf. Fragen Sie ihr Gegenüber proaktiv. Erwarten Sie nicht, dass der Betroffene damit auf sie zukommen muss. Nehmen Sie Aussagen zu körperlichen Beschwerden ernst und klären bzw. lassen Sie sie abklären.  Betrachten Sie ihr Gegenüber nicht einfach als psychisch kranken Menschen, sondern als Menschen, der auf verschiedenen Ebenen (somatisch, psychisch, sozial) Schwierigkeiten aufweisen kann.

Christoph Müller Mit dem Buch „Somatische Pflege in der psychiatrischen Arbeit“ haben Sie eine wunderbare Vorlage dafür gegeben, vielleicht ein weiteres Projekt anzupacken. Werden Sie sich auch dem Thema „Psychiatrische Pflege in der somatischen Versorgung“ widmen?

Thomas Schwarze Das wurden wir jetzt schon ein paar Mal gefragt. Wir überlegen uns bereits, wie dies aussehen könnte. Auch stellt sich die Frage, wann und unter welchem Fokus dies geschehen könnte. Der Bedarf ist sicherlich vorhanden, da in der somatischen Versorgung viele psychisch kranke Menschen behandelt und betreut werden. Man weiß auch, dass bei verschiedenen somatischen Diagnosen das Risiko für eine psychische Erkrankung steigt. Ein Projekt zu diesem Thema zu erarbeiten, wäre noch das kleinste Problem. Es stellt sich für uns nur die Frage, wie ein solches Projekt, ein solches Buch gehandhabt werden könnte, da unser Buch mehrheitlich in unserer Freizeit entstand.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank für den lebendigen Austausch.

 

Das Buch, um das es geht

Thomas Schwarze, Regine Steinauer & Simone Beeri: Somatische Pflege in der psychiatrischen Arbeit, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-88414-697-2, 159 Seiten, 20 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at