Nachdenken hilft

7. September 2022 | Rezensionen | 0 Kommentare

„Vernunft und Unvernunft“

Der Titel der Buchreihe bringt es auf den Punkt: „Zur Sache: Zeitgeschichte der Psychiatrie“. Damit weist der Psychiatrie-Verlag darauf hin, dass viel Historie und viele Geschichten bewahrt werden sollten, die sich seit der bundesdeutschen Psychiatrie-Enquete seit Mitte der 1970er Jahre entwickelt haben. Mit dem Psychiater Ralf Seidel wird über mehr als 200 Seiten nun ein Akteur vorgestellt, dem vor allem in seinem Wirkungskreis im rheinischen Mönchengladbach viel gelungen ist.

Die Historikerin Felicitas Söhner und der Psychiater Thomas Becker haben sich mehrmals mit Seidel an einen Tisch gesetzt, sind in Interviews die Stationen des studierten Mediziners und Philosophen Seidel durchgegangen. Sie alle, aber vor allem der Mediziner Heiner Fangerau wissen um die Stärken und die Schwächen, Oral History zu schreiben. Zeitzeugen, ihr Erzählen und ihr Erleben gehörten „zu den Markierungspunkten dessen, was die Zeitgeschichte eigentlich ist und ausmacht“ (S. 7).

Dies wird immer wieder deutlich, wenn Seidel von seinen Stationen in Hannover, Mönchengladbach und an vielen anderen Orten erzählt. Wie so oft, gewinnen die Leser_innen beim Nachzeichnen der Wege Seidels, dass er oft zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen sein muss. Anders formuliert: Seidel hat sicher die Anstöße, die ihm in seiner unmittelbaren beruflichen und persönlichen Umgebung begegnet sind, dankbar aufgenommen und an vielen Stellen konstruktiv weiterentwickelt.

Hannover habe ihm Räume geöffnet, „viel weiter zu denken und mir auch selber zu gestatten, über die Grenzen meines Alltagshandelns hinaus zu denken“ (S. 25), betont Seidel den Nutzen seines beruflichen Engagements an der Medizinischen Hochschule in Hannover, wo zu seiner Zeit auch sozialpsychiatrisch Wegmarken gesetzt wurden. Aus heutiger Sicht liegt es nahe, Seidel als einen Akteur zu bezeichnen, der Sozialpsychiatrie lebt. So bezeichnet er die psychiatrische Klinik in Mönchengladbach-Rheydt, die er erstmals schon vor seiner Hannoveraner Zeit erlebte als „Mekka der Gemeindepsychiatrie“ (S. 33).

Söhner und Becker entlocken nicht nur viele psychiatrische Geschichten Seidel. Es wird deutlich, dass es auch außerhalb der Klinikmauern einen aufgeschlossenen und facettenreichen Menschen Seidel gegeben hat. So ist Seidel jemand gewesen, der viel von der Welt gesehen hat. Reisen bezeichnet er als ein „Gewinnen von Welt“ (S. 73). Er gehörte auch lange Jahre zu den Protagonisten des fachlichen Austauschs mit Psychiatrien in Polen.

Philosophisches Denken gehört für Seidel zum alltäglichen psychiatrischen Arbeiten. Wobei seine Beschreibung des Gegebenen eher nachdenklich stimmt: „Die Psychiatrie befasst sich ja mit dem, was gerade das Gegenteil dessen ist, womit sicher der Philosoph auseinandersetzt – also mit der Unvernunft. Der Philosoph möchte sich ja mit der Vernunft auseinandersetzen. Dass es so etwas gibt wie Unvernunft, ist nicht so sehr verdaulich für die Philosophen. Die ganz andere Frage ist, ob es ihnen nicht doch manchmal gut täte, sich da auseinanderzusetzen“ (S. 85).

Auf den Wegen Seidels mitzugehen, ihnen nachzuspüren, ist ein Gewinn für den psychiatrischen Praktiker. Es setzt jedoch voraus, eine Menge Hintergrundwissen mitzubringen, um vieles zu verstehen, was Seidel auf dem Sofa erzählt hat. So ist zu wünschen, dass Interview-Kapiteln immer auch Einordnungen beigesellt werden, um dies zu ermöglichen. Und was noch mehr zu wünschen ist: dass auf die psychiatrische Zeitgeschichte in der Weise geschaut wird, um auch den vielen anderen Professionen in der Versorgung seelisch erkrankter Menschen eine Stimme zu geben. Alle haben es verdient.

 

Felicitas Söhner, Thomas Becker & Ralf Seidel: Nachdenken hilft – Seidels Reise durch die Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-96605-044-9, 211 Seiten, 25 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at