Projekt- und Problemhintergrund
Im Jahr 2017 waren rund 1,2 Millionen Menschen wegen einer psychischen Erkrankung in Deutschland in stationärer Behandlung (Statistisches Bundesamt, 2017). Trotz Fortschritten in der Medizin und psychiatrischen Versorgung kommt bedrohliches und aggressives Verhalten von Patienten im Rahmen der psychiatrischen Behandlung gehäuft vor. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass psychiatrische Erkrankungen mit einem erhöhten Aggressionspotenzial einhergehen können (Steinert, 2008). Die gewalttätigen Übergriffe richten sich im stationären Kontext vor allem gegen Mitarbeitende der psychiatrischen Einrichtung, aber auch gegen Mitpatienten und sich selbst. Um mit dieser Fremd- und Eigengefährdung umzugehen, bleibt, nachdem alle therapeutischen Interventionen ausgeschöpft sind, als letzte Möglichkeit die Durchführung von Zwangsmaßnahmen wie Fixierung, Isolierung oder Zwangsmedikation.
Studienergebnisse belegen, dass Zwangsmaßnahmen für den Patienten und für das Personal schwerwiegende Folgen haben können. Patienten beschrieben in einer Studie Gefühle von Angst, Verzweiflung, Macht- und Hilfslosigkeit, Scham und Erniedrigung. Vor allem bei psychotischen Patienten, die stark in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt sind, wird auch das Gefühl von Todesangst beschrieben (Bonner et al., 2002). Als besonders schwerwiegende Risiken einer Zwangsmaßnahme sind eine Posttraumatische Belastungsstörung und die Gefahr der Retraumatisierung für den Patienten zu nennen. Bei psychischen Erkrankungen bleiben bereits bestehende Posttraumatische Belastungsstörungen häufig unerkannt und werden nicht diagnostiziert (Mueser et al., 2004), obwohl von einer Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung von 30 % bei Menschen mit Schizophrenie, bipolarer Störung oder anderer schwerer psychischer Erkrankung auszugehen ist (Mauritz et al., 2013). Hinzu kommt, dass gerade diese Patientengruppe häufiger fixiert oder isoliert wird und aufgrund der zuvor nicht diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung die besondere Gefahr von Reviktimisierung und Retraumatisierung besteht (Steinert et al., 2007). Das anwesende Personal beschreibt nach der Durchführung der Zwangsmaßnahme ambivalente Gefühle. Neben Entlastung und einem erhöhten Sicherheitsgefühl werden negative Gefühle wie Beklemmungen, Angst, Mitleid, Schuldgefühle und Wut beschrieben (Korkeila et al., 2016).
Es wird deutlich, welch negative Auswirkungen Zwangsbehandlungen haben können. Der Umgang mit den Patienten nach der Zwangsmaßnahme wird in den psychiatrischen Einrichtungen unterschiedlich gehandhabt und ist nicht festgelegt. Eine mögliche Unterstützung für die Patienten könnte ein gemeinsames Nachgespräch über die Zwangsbehandlung sein, um Erlebtes aufzuarbeiten und einen Rahmen für die Gedanken und Gefühle der Patienten zu schaffen. Jedoch finden Nachbesprechungen nach Zwangsmaßnahmen nur unregelmäßig, nicht standardisiert und nicht auf aktuellen Erkenntnissen basierend statt.
Das Praxisprojekt
Das Praxisprojekt widmet sich der Problemstellung mit der Fragestellung, inwiefern konstruktiv mit Patienten nach einer Zwangsmaßnahme umgegangen werden kann und wie eine Nachbesprechung gestaltet sein soll, um den Patienten zu unterstützen. Das Projekt hat die Verfasserin im Rahmen ihres Bachelorstudiums der Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum im Jahr 2018/2019 durchgeführt und verfolgte das Ziel, wissenschaftliche Theorie mit der Praxis zu vereinen. Das Praxisprojekt wurde von Frau Prof. Dr. Karin Tiesmeyer an der Hochschule betreut. In Zusammenarbeit mit der Station G des psychiatrischen Fachkrankenhaus „Tagesklinik Alteburger Straße“ in Köln konnte ein Konzept zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen entwickelt und implementiert werden. Dort wird es bis heute mit Erfolg angewendet.
Der Praxispartner
Der Praxispartner ist das Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik „Tagesklinik Alteburger Straße“ in Köln. Hier wird das Projekt auf der geschützt geführten Station G durchgeführt. Die Station G ist auf die Behandlung akut krisenhafter psychotischer oder depressiver Zustände spezialisiert. Die Patienten befinden sich zum Teil freiwillig in der Behandlung, andere wiederrum werden gegen ihren Willen nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) oder dem Betreuungsgesetz (BTG) untergebracht. Die Klinik übernimmt somit einen Anteil der psychiatrischen Notfallversorgung in Köln.
Da auch bei den Patienten auf der Station G fremd- oder selbstgefährdendes Verhalten vorkommen kann, bleibt auch hier dem Behandlungsteam als ultima ratio, nachdem andere therapeutische Interventionen folglich nicht wirksam waren, Zwangsmaßnahmen in Form einer Fixierung, einer Isolation und/oder einer Zwangsmedikation gegen den Willen des Patienten nach dem PsychKG anzuwenden. Für die Zeit nach der Zwangsmaßnahme gab es auf der Station G bis zu dem Zeitpunkt des Praxisprojektes keine strukturierte Vorgehensweise. Es fanden dort keine standardisierten Nachbesprechung statt. Eine Art Nachgespräch wurde höchstens auf Wunsch des Patienten oder sehr unregelmäßig durchgeführt. Das heißt, nicht jeder Patient, der eine Zwangsmaßnahme erlebt hatte, erhielt auch automatisch das Angebot eines Nachgespräches. Die vereinzelt stattgefundenen Gespräche wurden nicht standardisiert dokumentiert und inhaltlich vor- oder aufbereitet. Dementsprechend wurde im Rahmen des Praxisprojekts das Ziel gesetzt, gemeinsam ein Konzept für die Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen für die Station G zu entwickeln und zu implementieren.
Die Konzeptentwicklung
Die Entwicklung des Konzepts war an den Ablauf des klassischen Projektmanagements angelehnt und individuell auf das Praxisprojekt angepasst (Kuster et al., 2019; Stöher,2016). So entstand ein Entwicklungsprozess aus fünf Phasen: Projektauftrag und -planung, Analysephase, Konzeptentwicklung, Konzeptumsetzung und Evaluation.
In der Phase „Projektauftrag und –planung“ fand die Themenfindung des Praxisprojektes und die Vereinbarungen mit dem Praxispartner statt. Darauf folgte zur Planung des Projektes die Zielsetzung, Einschätzung von Stakeholdern und Risiken, sowie die Erstellung eines Arbeits- und Zeitplans. Die anschließende Analysephase war das Grundgerüst für die darauffolgende Konzeptentwicklung und -umsetzung. Abschließend wurden Strukturen, die in dem Konzept zur Evaluation angedacht waren, aufgezeigt.
Analysephase
Um die Konzeptentwicklung auf aktuellen Erkenntnissen und Grundlagen aufbauen und optimal auf den Praxispartner abstimmen zu können, bedurfte es der Aufarbeitung des aktuellen Forschungs- und Diskussionsstandes. Hierzu wurden Definitionen, rechtliche Grundlagen und für die psychiatrische Praxis relevante Leitlinien erarbeitet. Um die überwiegend von der Medizin geprägten Leitlinien mit pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen zu ergänzen, wurde zusätzlich eine eigene Literaturrecherche in pflegewissenschaftlich relevanten Datenbanken durchgeführt.
Die Durchführung der Zwangsmaßnahme unterliegt gesetzlichen Bestimmungen, welche sich für NRW aus dem PsychKG und dem BTG ergeben. Kommt es im Rahmen eines stationären Aufenthalts zur Behandlung gegen den Willen des Patienten schreibt § 18 Abs. 5 S. 3 PsychKG ausdrücklich eine Nachbesprechung vor: „Die Maßnahmen, einschließlich ihres Zwangscharakters, ihrer Durchsetzungsweise, ihrer maßgeblichen Gründe und der Wirkungsüberwachung, sind […] nachzubesprechen, sobald es der Gesundheitszustand der Betroffenen zulässt“. Diese Tatsache dient der Legitimierung des Konzeptes und untermauert die Notwendigkeit der vorliegenden Konzeptentwicklung zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) veröffentlichte im September 2018 die neue S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“. Die Leitlinie ist mit einem hohen Evidenz- und Empfehlungsgrad charakterisiert und widmet der Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen ein eigenes Kapitel (DGPPN, 2018). Zusammenfassend kann zu der S3-Leitlinie festgehalten werden, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer Nachbesprechung durch die Leitlinie untermauert und ausdrücklich empfohlen wird.
Die durchgeführte Literaturrecherche führte zu folgenden Erkenntnissen bezüglich des Nutzens von Nachbesprechungen: Patienten schätzten es, dass sie die Möglichkeit eines Gesprächs erhielten und dafür ein fester Rahmen vorgesehen war. Es entstand für sie das wichtige Gefühl, „gehört zu werden“. Darüber hinaus wurde das Gespräch als Chance gesehen, über den Ablauf und Auslöser der Fixierung nachzudenken und durch eine Entwicklung von Empowerment stärker aus dem Gespräch hervorzugehen (Bonner & Wellmann, 2010; Goulet, Larue & Lemiieux, 2018). Für die Mitarbeitenden brachte der Einsatz von Nachbesprechungen insbesondere festgelegte Rahmenbedingungen, um sich Zeit für die Patienten nehmen zu können. Inhaltlich konnten sie durch die Nachbesprechung Patientenverhalten besser nachvollziehen, aber auch die Notwendigkeit der Zwangsmaßnahme verdeutlichen. Für die Mitarbeitenden schien die Nachbesprechung häufig eine Chance zu sein, die Vertrauensbeziehung zum Patienten (wieder) aufzubauen und ihre eigenen Emotionen besser zu managen. Einige der Mitarbeitenden beschrieben in den Studien, dass sie mittels Nachbesprechungen ihre „helfende“ Rolle als Pflegekraft besser ausfüllen können und dass eine Nachbesprechung besonders für den weiteren Umgang mit Zwangsmaßnahmen sensibilisiert (Bonner & Wellmann, 2010; Goulet, Larue & Lemiieux, 2018; Whitecross et al., 2013; Ryan & Happel, 2009).
In Bezug auf die organisatorischen Abläufe von Nachbesprechungen konnte im Rahmen der Literaturrecherche herausgearbeitet werden, dass es in den Einrichtungen häufig an Rahmenbedingungen, konkreten Anweisungen und Fortbildungen mangelte. Darüber hinaus erschwerten organisatorische Besonderheiten, wie schnelle Entlassungen oder Verlegungen von Patienten die Durchführung der Nachbesprechung. Als ein weiterer relevanter Aspekt wurde die Unsicherheit hinsichtlich des richtigen Zeitpunkts der Nachbesprechung erwähnt, da die Akzeptanz und der Erfolg der Nachbesprechung auch von der Verfassung der Patienten abhängt (Goulet, Larue & Lemiieux, 2018; Needham & Sands, 2010).
Die Projektgruppe
Um eine partizipative Entwicklung des Konzepts zu gewährleisten, wurde eine Projektgruppe gegründet. Darüber hinaus wurde die Methode der Projektgruppe gewählt, da sie bezüglich der Konzeptentwicklung entscheidende Vorteile aufweist. Zum einen verfügen Projektgruppen über Leistungsvorteile, da sie komplexe Aufgaben besser lösen können. Dies liegt insbesondere an der interdisziplinären Zusammensetzung der Gruppe und der daraus resultierenden Wissensvielfalt. Die Lösungen, die aus den Projektgruppen resultieren, basieren auf hoher fachlicher Kompetenz und zeichnen sich häufig durch eine hohe Akzeptanz aus (Kuster, 2019), denn mit der gemeinsamen Diskussion „ist eine spezifische Perspektive verbunden, die nicht durch andere Methoden ersetzt oder simuliert werden kann“ (Kühn & Koschel, 2018). Die Projektgruppe der Station G bestand aus den beruflichen Disziplinen der Pflegekräfte, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeitern. Von der pflegerischen Stationsleitung wurden Zeiträume für die Treffen geschaffen und sichergestellt, dass die beteiligten Teammitglieder die investierte Zeit als Arbeitszeit angerechnet bekommen. Die Gruppe traf sich insgesamt drei Mal, bis das Konzept dem gesamten Team vorgestellt werden konnte.
Die Konzeptumsetzung
Die Projektgruppe beschäftigte sich zunächst mit den aktuellen Erkenntnissen aus der Analysephase. Dies heißt, es wurden sowohl die entsprechenden Gesetztestexte als auch die entsprechenden Kapitel der S3-Leitlinie der DGPPN und die Erkenntnisse aus der eigenen Literaturrecherche diskutiert und mit eigenen Erfahrungen reflektiert.
Aufbauend darauf konnten im Rahmen einer Konsensfindung folgende sechs übergeordnete Themenbereiche erstellt werden, die zur Orientierung für Nachbesprechungen von Zwangsmaßnahmen dienen sollen und je nach Patientensituation variiert werden können:
- Darstellung der Situation aus der Patientenperspektive
Patienten sollen die Möglichkeit erhalten, die eigene Perspektive der Situation, die zur Zwangsmaßnahme geführt hat, darstellen zu können. Dies soll dazu dienen, ihnen einen Raum zu geben, über die Situation zu sprechen und auch dazu, das Verhalten der Patienten nachvollziehen und verstehen zu können. Darüber hinaus sollen gezielte, triangulierende Fragen die Patienten dabei unterstützen, die Situation des Teams aus der anderen Perspektive zu betrachten. Des Weiteren zielt das Wissen der Patientensicht darauf ab, Rahmenbedingungen der stationären Behandlung (Rückzugsmöglichkeit, Regelwerk…), die zur Eskalation beigetragen haben, zu reflektieren und falls notwendig anzupassen.
- Gefühle vor, während und nach der Zwangsmaßnahme
Patienten erhalten im Rahmen der Nachbesprechung die Möglichkeit, ihre Gefühle in Bezug auf die Zwangsmaßnahme mitzuteilen. Hierbei soll vor allem auf emotionale Belastungen und eventuelle Anzeichen von Traumatisierung geachtet werden. Darüber hinaus kann der Patient reflektieren, was ihm in der Situation der Zwangsmaßnahme Entlastung verschafft hat aber auch was zusätzlich belastend war. Dieses Wissen unterstützt darüber hinaus die Reflektion im Team über zukünftige Verhaltens- und Vorgehensweisen bei Zwangsmaßnahmen.
- Auswirkungen der Zwangsmaßnahme auf den Patienten und die Behandlung
Patienten erhalten die Möglichkeit, die Auswirkung der Zwangsmaßnahme auf das eigene Verhalten zu reflektieren. Dies dient dazu, den möglichen Nutzen durch eine positive Entwicklung zu erkennen, aber auch dazu, negative Auswirkungen wahrnehmen und reflektieren zu können. Um dies zu unterstützen, kann die die Schilderung der Wahrnehmung aus der Perspektive der Mitarbeitenden hilfreich sein.
- Darstellung der Sichtweisen der Mitarbeitenden
Die Erläuterung der Sichtweisen der Mitarbeitenden kann den Patienten helfen, die Notwendigkeit der Zwangsmaßnahme nachvollziehen zu können. Hier wird dem Patienten das eigene Verhalten gespiegelt sowie die daraus resultierenden Gefühle und Reaktionen der Mitarbeitenden sichtbar gemacht. Eine gemeinsame Reflektion zielt auf die Förderung einer therapeutischen Beziehung und die Wiederherstellung einer Vertrauensbasis. Darüber hinaus werden Patienten in der Wahrnehmung des eigenen Verhaltens gestärkt.
- Prophylaxe und Entwicklung alternativer Verhaltensweisen
Patienten erhalten die Möglichkeit, gemeinsam mit dem nachbesprechenden Mitarbeiter alternative Verhaltensweisen als Reaktion auf schwierige Situationen zu entwickeln, um zukünftig Zwangsmaßnahmen vermeiden zu können. Dies dient der Prophylaxe erneuter Eskalationen und ist ein wesentlicher Bestandteil der Nachbesprechung. Ziel sollte sein, in erneuten schwierigen Situationen Patienten in der eigenen Ressourcen-Wahrnehmung zu unterstützen. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil besteht in der Informationsgabe über die Möglichkeit eines Behandlungsvertrages, in dem u.a. prophylaktische Maßnahmen schriftlich festgehalten werden.
- Offene Fragen und fehlende Aspekte
Patienten sollten abschließend immer die Möglichkeit erhalten, noch offengebliebene Fragen oder Anmerkungen äußern zu dürfen. Dies hat zum Ziel, wichtige Dinge nicht unausgesprochen zu lassen. Gleichzeitig können dadurch noch fehlende Kategorien der Nachbesprechung ergänzt werden. Außerdem sollte der Patient das Angebot von weiteren Nachbesprechungen erhalten.
Organisatorische Implementierung
Die Implementierung des Konzepts zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen wurde wie folgt durchgeführt: Zur Unterstützung der Mitarbeitenden wurden Informationsmaterialien verschriftlich. Hierbei wurde ein organisatorischer Ablaufplan und die Auflistung der sechs Themenbereiche mit Beispielfragen ausführlich dargestellt. Darüber hinaus wurde ein Dokumentationsbogen konzipiert, der von den Gesprächsführenden in der Nachbesprechung genutzt werden kann und auf dem stichwortartig die sechs Themenbereiche als Gesprächsleitfaden abgebildet sind. Außerdem wurde eine Jahresübersicht der Nachgespräche in Tabellenform für alle Nachgespräche erstellt, die später zur Evaluation herangezogen werden kann. Für den Patienten wurde ein Informationsbrief entwickelt, auf dem kurz und in einfacher Sprache formuliert über die Möglichkeit der Nachbesprechung informiert wird.
Zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Implementierung erklärte sich eine Gesundheits- und Krankenpflegerin aus dem Team bereit, die Durchführung der Nachbesprechung zu überwachen. Direkt nach Durchführung einer Zwangsmaßnahme wird der Patient in die entsprechende Jahresübersicht eingetragen, die für alle Teammitglieder zugänglich im Stationszimmer liegt. Sobald ein Patient vom Team als stabil eingeschätzt wird erhält er die schriftliche Information über das Nachgespräch von der Nachbesprechungs-Verantwortlichen. Der Patient hat nun die Möglichkeit eine Vertrauensperson aus dem Team zu wählen, mit der ein individueller Termin für das erste Nachgespräch vereinbart wird. Die Vertrauensperson kann aus allen Berufsgruppen stammen. Es ist irrelevant, ob diese bei der Zwangsmaßnahme selbst anwesend war oder nicht. Hier hat der Patient die freie Wahl. Nachdem das Nachgespräch geführt worden ist, wird dieses in der elektronischen Patientenakte unter dem dafür eingerichteten Bereich dokumentiert. In der Jahresübersicht wird die Durchführung des Gesprächs mit Datum gekennzeichnet. Sollte der Patient das Gespräch ablehnen, wird auch dies in der Jahresübersicht notiert. Patienten, die frühzeitig entlassen oder verlegt werden oder die gegegbenenfalls erst nach einiger Zeit der Behandlung das Bedürfnis haben, über die Zwangsmaßnahmen ins Gespräch zu kommen, haben die Möglichkeit, für die Nachbesprechung einen ambulanten Termin zu vereinbaren. Die Erkenntnisse aus der Nachbesprechung finden in den Übergaben, Supervisionen und Teambesprechungen Berücksichtigung. Hier können stations- und teamspezifische Aspekte diskutiert und reflektiert werden, um eine kontinuierliche Verbesserung in der Qualität der Behandlung der Patienten anzustreben.
Fazit und Ausblick
Nach einem Jahr der Durchführung stehen erste Evaluationsschritte an. Es ist ein Treffen mit den Teammitgliedern der Station G geplant, um einen gemeinsamen Austausch über Erfahrungen mit den Nachgesprächen durchzuführen. Darüber hinaus können die implementierten Strukturen, insbesondere in Gestalt der Jahresübersicht und der Dokumentationen in der elektronischen Patientenakte, zur weiteren Auswertung herangezogen werden. Aus dem bisherigen Erfahrungsaustausch im Team geht hervor, dass die Patienten, die das Angebot zur Nachbesprechung in Anspruch genommen haben, im Nachhinein eine Entlastung beschrieben haben und froh darüber waren, einen Rahmen zu erhalten, um bislang unausgesprochene Aspekte äußern zu können. Das hier dargestellte Praxisprojekt verdeutlicht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse strukturiert die Praxis optimieren und zur Verbesserung der Behandlungsqualität für die Patienten beitragen können.
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