„Wortmeldung, die Beachtung und Diskurs zur Konsequenz haben muss“
Es ist bedauerlich, dass Zwangsmaßnahmen zum Alltag in der psychiatrischen Versorgung gehören. Seltener gehört zum Alltag, dass freiheitsentziehende Maßnahmen nachbesprochen werden. Mit dem Buch „Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen“ wird diese Praxis hoffentlich an Konjunktur gewinnen. Schließlich zeigt dieses Buch nicht nur, dass veränderte Diskurse in psychiatrischen Settings an der Zeit sind, sondern dass vor allem ein humanerer Umgang mit seelisch erschütterten Menschen nötig ist.
Bereits mit der Entwicklung des „Weddinger Modells“ haben Mahler und Mitstreiter_innen positive Akzente in Richtung einer recovery-orientierten Haltung bei psychiatrisch Tätigen und einer Anpassung der institutionellen Strukturen an die Individualität der Betroffenen gesetzt. Dieses Ziel verfolgt das Buch nun auch, es stellt sich als Konkretisierung der Überlegungen dar.
Für viele psychiatrische Praktiker_innen wird die Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen im Sinne des „Weddinger Modells“ eine bislang unbekannte Aufgabe sein. Während sich bis in die Gegenwart psychiatrisch Tätige nach einer freiheitsentziehenden Maßnahme unter sich hinter eine geschlossene Tür bewegen, so schlagen Mahler und Mitstreiter_innen vor, unbedingt das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen.
Das vorgestellte Modell der Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen ist im Zusammenhang mit Forschungsarbeiten entstanden. Dies merken die Leser_innen über die mehr als 100 Seiten natürlich. Gelegentlich gewinnt man während der Lektüre den Eindruck, eine psychosoziale Arbeitshilfe etwas mehr Praxis gebraucht hätte. Oder anders formuliert: Subjektive Aspekte freiheitsentziehender Maßnahmen hätten an der einen oder anderen Stelle dem Buch gutgetan. Möglicherweise hätte die Beteiligung von Pflegenden in der Autorenschaft diesen negativen Eindruck vermindert.
Die Autor_innen schreiben, dass die Entscheidungsfindung und die Abwägungsprozesse klar mit den Betroffenen zu kommunizieren sind. Recht haben sie natürlich, doch zeigt die Versorgungswirklichkeit landauf, landab leider immer wieder, wie begrenzt dieser Wunsch gelebt werden kann. Auch an einer anderen Stelle ist ein kritisches Nachdenken unverzichtbar: „Die Begegnung von Mensch zu Mensch in der Nachbesprechung und das gegenseitige Verständnis der anderen Perspektive sind ein Weg, die Symmetrie in der therapeutischen Beziehung wiederherzustellen“ (S. 37). Wer anerkennt, dass eine Zwangsmaßnahme die massivste Form eines persönlichen Ein-und Angriffs ist, der oder die muss sich schwertun, von einer Wiederherstellung von Symmetrie zu sprechen. Diese gemeinsame Erfahrung von Helfenden und Betroffenen bleibt als Verletzung und gelebte Asymmetrie zwischen den Menschen existent.
Hilfreich sind die Überlegungen Mahlers und ihrer Mitstreiter_innen an einer anderen Stelle. Sie kennzeichnen Emotionalität und Verletzlichkeit bei Mitarbeitenden als eine Kompetenz, die auch Grundlage eines empathischen Umgangs miteinander seien. Gefühle auf Seiten der Mitarbeitenden sollten erlebt, aber nicht ausagiert werden. Dies sind Gedanken, die sich psychiatrisch Tätige unbedingt zu Herzen nehmen müssten.
Das Buch „Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen“, das formal ein nachvollziehbares Konzept zur Umsetzung vorstellt, muss sicher unter psychiatrisch Tätigen aller Berufsgruppen, vor allem aber im psychiatrischen Trialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen weiterentwickelt werden. Es ist eine Wortmeldung, die Beachtung und Diskurs zur Konsequenz haben muss.
Lieselotte Mahler, Alexandre Wullschleger, Anna Oster: Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – Ein Praxisleitfaden, Psychiatrie-Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-96605-109-5, 107 Seiten, 30 Euro.