In der letzten Dekade hat Musiktherapie in unserem Gesundheitssystem zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ihre besondere Wirkung entfaltet sie an der Schnittstelle zwischen körperlichem und psychischem Befinden. In der eigenen klinischen Praxis konnte der Autor vielfach erleben, wie aus einem „geduldig Erduldenden“ (aus lateinisch patiens), eine sich aktiv am Heilungsgeschehen beteiligende Person wird. Beispielsweise lassen sich in der neurologischen Frührehabilitation im Rahmen der Musiktherapie erste gezielte Reaktionen des Patienten erkennen.
Sie ist in Österreich seit 2008 ein gesetzlich anerkannter und geregelter Gesundheitsberuf.[1]
Gemäß dieser Regelung ist Musiktherapie eine „ … eigenständige, wissenschaftlich-künstlerisch-kreative und ausdrucksfördernde Therapieform … . „Sie umfasst die bewusste und geplante Behandlung von Menschen, insbesondere mit emotional, somatisch, intellektuell oder sozial bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, durch den Einsatz musikalischer Mittel in einer therapeutischen Beziehung zwischen einem (einer) oder mehreren Behandelten und einem (einer) oder mehreren Behandelnden… .“ [vgl. MuthG, 2008, 2. Abschnitt § 6 Abs. 1 (i.d.g.F.)
Aus dem Text wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber die therapeutische Wirkung von Musiktherapie aus einer Kombination von musikalischem Geschehen und therapeutischer Beziehung sieht.
Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen Musikmedizin und Musiktherapie zu interpretieren.
Musikmedizin versteht Musikwirkung im Sinne eines Pharmakons[2] mit verallgemeinerbarer und vorhersagbarer Wirkung.[3] Die Wirkung der eingesetzten Musik gründet sich auf musikalischen Elementen wie Rhythmus, Tempo, Dynamik, Verlauf und Tonfolgedichte, die auf die jeweiligen körpereigenen Rhythmen einwirken.[4]
Musiktherapie orientiert sich hingegen auf einem „beziehungsmedizinischen“ Therapieverständnis, das sich entlang der musikalischen Biografie eines Menschen entfaltet.
„Kennzeichnend für die Musiktherapie ist der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit. In der Musiktherapie ist Musik Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materiellen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion[5].“
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse haben gezeigt, dass sich beide Positionen wissenschaftlich rechtfertigen lassen.
In der vergangenen Dekade haben sich weitere Konzepte wie die „Melodic Intonation Therapy“ (Schlaug et al. 2009[6] , Norton et al. 2009[7], Zumbansen et al. 2014[8]), „Neurologische Musiktherapie“ (Thaut 2009[9], 2015[10]) oder „Music Supported Therapy“ (Altenmüller et al. 2009[11], Altenmüller & Schlaug 2015[12]) etabliert.
Oben genannte Verfahren beruhen auf einem Konzept, welche auf dem Erlenen modular aufgebauter Spieleinheiten beruhen. Das damit verbundene methodische Vorgehen ist neurowissenschaftlichen Untersuchungsmethoden einfacherer zugänglich, als jene Musiktherapien, deren therapeutische Effekte auf freier Improvisation und Reflektion im Kontext einer therapeutischen Beziehung beruhen. Diese Form der Musiktherapie richtet ihr Augenmerk auf bedeutsame Momente im Rahmen bedeutsamer musikalischer Dialoge. Die subjektive Bedeutungszuschreibung wird als Motor für die innere Veränderung im Patienten gesehen.
In dem an der IMC Fachhochschule Krems angesiedelten „Josef Ressel Zentrum für die Grundlegung einer personalisierten Musiktherapie“ wird seit 2016 in Kooperation mit der Anglia Ruskin University in Cambridge; GB, der Fachhochschule St. Pölten sowie der FH Gesundheit Tirol an der Frage geforscht, unter welchen Bedingungen obige therapeutische Resonanz- und Begegnungsmomente begünstigt werden können, und wie TherapeutInnen ihre Empathiefähigkeit dahingehend trainieren und erweitern können.
Den theoretischen Rahmen für diese Forschungen bildet unter anderem die „soziale Neurowissenschaft“ mit der zentralen Frage, wie Menschen interagieren.
Die Besonderheit dieses Forschungszentrums liegt in der Synchronisation unterschiedlicher im klinischen Setting generierter Daten (z. B. EEG, EKG, Hormon-Biomarker, Videografie etc.). Diese werden auf Zusammenhänge zwischen den einzelnen Parametern hin analysiert, mit dem letztendlichen Ziel, psychophysiologische Korrelate von therapeutischen Begegnungsmomenten zu identifizieren.
Evidenzlage der Musiktherapie
Wie obige Darstellungen bereits erahnen lassen, zeigen eine Vielzahl an Reviews und Datenbanken bezüglich der Musiktherapie eine ermutigende Evidenzlage.
Allerdings bedarf es aufgrund der großen Bandbreite des jeweiligen musiktherapeutischen Methodenverständnisses sowie aufgrund der Heterogenität klinischer Rahmenbedingungen weiterer Studien, um einen signifikanten generalisierbaren Effekt darstellen zu können.
Hierzu ein konkretes Beispiel: Im Rahmen eines von IQWiG beauftragten Health Technology Assessments zur Frage, ob eine begleitende Musiktherapie zu besseren Behandlungsergebnissen bei Krebs beitragen kann, blieben nach einer systematischen Literaturrecherche von 528 Studien lediglich 10 Studien übrig, die musiktherapiespezifischen Kriterien im engeren Sinne entsprachen.[13]
Dieser Umstand begründet sich u.a. darin, dass wir derzeit noch kein ausreichendes Wissen über die spezifischen Wirkmechanismen von Musiktherapie im Heilungsprozess haben.[14]
Beispielsweise teilt die Musiktherapie mit anderen Therapieformen etwa zwanzig „unspezifische Wirkfaktoren“, wie z.B. die therapeutische Allianz, die Verminderung von sozialer Isolation, oder die aktive Beteiligung der PatientInnen, eine affektive Katharsis, etc..
In klinischen Settings bewährt sich Musiktherapie aufgrund ihres niederschwelligen sowie achtsamen und freudvollen künstlerischen Ausdruck fördernden Zugangs zu PatientInnen.
Ausbildungslandschaft in Österreich:
Während im anglo-amerikanischen Sprachraum eher ein behavioristisches – an der Verhaltensoberfläche orientiertes Therapieverständnis vorherrscht, steht im
deutschsprachigen Europa eher ein Therapieverständnis im Vordergrund, das auf Komponenten von Introspektion und Einfühlung gründet.
In Österreich gibt es derzeit drei Ausbildungsstätten für Musiktherapie.
Das älteste Studienprogramm (Diplomstudium und PhD-Studium) ist seit 1959 an der heutigen „Universität für Musik und darstellende Kunst Wien“ angesiedelt.[15]
Dieses Studienangebot im Vollzeitformat ist klinisch orientiert und gründet auf einem humanistisch- psychodynamischen Modell.
Ein weiteres Ausbildungsprogramm (Universitätslehrgang) wird seit 2010 an der „Universität für Musik und darstellende Kunst Graz“ angeboten.[16]
Dieser Lehrgang wird berufsbegleitend geführt, und gründet auf einem humanistisch- anthropologischen Grundverständnis. Sein Konzept folgt nach Eigendefinition einem bio-psycho-sozio- spirituellen Menschenbild. Die AbsolventInnen dieses Lehrgangs erhalten durch ein spezielles Gleichstellungsverfahren durch die IMC Fachhochschule Krems die formale Grundlage für die Eintragung in die Berufsliste der MusiktherapeutInnen.
Das dritte Ausbildungsprogramm wird berufsbegleitend an der „IMC Fachhochschule Krems“ angeboten.[17]
Dieses Studienkonzept folgt der Bologna-Architektur (Bachelor- & Masterprogramm). AbsolventInnen des Masterprogramms können an der Anglia Ruskin Univeersity Cambridge GB und an der Sri Balaji Vidayapeth Universität in Pondycherry, Indien ein weiterführendes PhD Studium absovieren.
Methoden der Musiktherapie
Mit der rezeptiven und (inter)aktiven Musiktherapie haben sich methodisch zwei Interventionsformen herausgebildet.[18],[19]
Rezeptive Formen gestalten sich aus einfachen Klanginterventionen, freien rezeptiven Interventionen, musikalischer Biographiearbeit, dem musikalischen „Fürspiel“ sowie themenzentrierten (z.B. Arbeit mit inneren Bildern) Intervention.
Aktive Formen bestehen aus unterschiedlichen Improvisationsformen wie z.B. der an rhythmus-, dynamik-, klangorientierten musikzentrierten Improvisation, der an inneren Bildern, Situationen oder Symptomen orientierten themenzentrierten Improvisation, freien Improvisationen sowie musikalischen Rollenspielen für die Bearbeitung zwischenmenschlicher Konflikte bzw. zur Förderung sozialer Verhaltensweisen.
Diese aktiven und dialogorientierten Techniken lassen sich in drei weitere Untergruppen differenzieren:
-
- stützende Spieltechniken wie z.B. Anpassen, Imitieren, Synchronisieren, Begleiten
- empathische Spieltechniken wie Teilen, Halt geben, Spiegeln, Aufnehmen, Reflektieren
- an Veränderung orientierte konfrontierende Techniken wie Intensivieren, Übertreiben, Veränderung einführen.
Das „Kremser Modell“ der Musiktherapie
Konzeptionell folgt das Kremser Modell der Musiktherapie[20] einem bio-psycho-sozialen Therapieverständnis[21] [22], da im therapeutischen Prozess gleichermaßen auf physiologische, psychologische (persönliches Erleben, Verhalten, Lebensstil) und soziale Faktoren (familiäre, berufliche, umweltbezogene Lebensbedingungen) Bezug genommen wird.
Das unter der Leitung des Kultur- & Sozialanthropologen sowie Musiktherapeuten Gerhard Tucek entwickelte Konzept tritt für ein Verständnis von therapeutischer Beziehungsgestaltung ein, das von den Ideen der Gewaltfreien Kommunikation[23], der klientenzentrierten Psychotherapie[24] sowie der Positiven Psychotherapie[25] inspiriert ist. Es integriert zudem auch anthropologische[26] [27] und soziologische[28] [29] Elemente sowie Aspekte der Chronobiologie und Regulationsmedizin.[30]
Aus medizinanthropologischer Sicht sieht der Autor im Entgegenwirken einer zunehmenden Verarmung des sinnlichen Erfahrens aufgrund von Digitalisierung und Virtueller Realitäten ein immer wichtiger werdendes Potential der Musiktherapie. Als theoretischen Hintergrund bieten sich neuere Theorien des Embodiment[31] an, die das Ineinandergreifen von Kultur und Individuum durch sinnenhaftes Erfahren beschreiben.
[1] 93. Bundesgesetz über die berufsmäßige Ausübung der Musiktherapie (Musiktherapiegesetz – MuthG, 2008, 2. Abschnitt § 6 Abs. 1 (i.d.g.F.).
[2] Bernatzky,G., et al. ( 2011). Emotional foundations of music as a non-pharmacological pain management tool in modern medicine. Neurosci. Biobehav. Rev. (2011), doi: 10.1016/j.neubiorev.2011.06.005
[3] Laczika, K.; Graber, O. P.; Tucek, G.; Lohninger, A.; Fliri, N.; Berka-Schmid, G.; Masel, E. K.; and Zielinski, C. C. (2013). „Il flauto magico“ still works: Mozart’s secret of ventilation.“ in: MulPdisciplinary Respiratory Medicine. available at www.mrmjournal.com/content/8/1/23
[4] Brandes V., Fischer C., Taghian Z. (2012). Music and Medicine in Austria. Music and Medicine, April 2012; 4(2):106-11.
[5] Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft. Definition – Berufsbild – Geschichte [online]. [Zugriff: 20.12.2017]. URL: http://www.musiktherapie.de/.
[6] Schlaug G, Marchina S, Norton A (2009). Evidence for plasticity in white-matter tracts of patients with chronic Broca’s aphasia undergoing intense intonation-based speech therapy. Ann N Y Acad Sci. 2009 Jul;1169:385-94. doi: 10.1111/j.1749-6632.2009.04587.x.
[7] Norton A, Zipse L, Marchina S, Schlaug G. (2009) Melodic intonation therapy: shared insights on how it is done and why it might help. Ann N Y Acad Sci. 2009 Jul;1169:431-6. doi: 10.1111/j.1749- 6632.2009.04859.x.
[8] Zumbansen A, Peretz I, Hébert S. (2014) The Combination of Rhythm and Pitch Can Account for the Beneficial Effect of Melodic Intonation Therapy on Connected Speech Improvements in Broca’s Aphasia. Front Hum Neurosci. 2014 Aug 11;8:592. doi: 10.3389/fnhum.2014.00592. eCollection 2014.
[9] Thaut MH, Gardiner JC, Holmberg D, Horwitz J, Kent L, Andrews G, Donelan B, McIntosh GR. (2009) Neurologic music therapy improves executive function and emotional adjustment in traumatic brain injury rehabilitation. Ann N Y Acad Sci. 2009 Jul;1169:406-16. doi: 10.1111/j.1749-6632.2009.04585.x.
[10] Thaut MH. (2015) The discovery of human auditory-motor entrainment and its role in the development of neurologic music therapy. Prog Brain Res. 2015;217:253-66. doi: 10.1016/bs.pbr.2014.11.030. Epub 2015 Feb 2.
[11] Altenmüller E, Marco-Pallares J, Münte TF, Schneider S. (2009) Neural reorganization underlies improvement in stroke-induced motor dysfunction by music-supported therapy. Ann N Y Acad Sci. 2009 Jul;1169:395-405. doi: 10.1111/j.1749-6632.2009.04580.x.
[12] Altenmüller E, Schlaug G. (2015) Apollo’s gift: new aspects of neurologic music therapy. Prog Brain Res. 2015;217:237-52. doi: 10.1016/bs.pbr.2014.11.029
[13] https://www.themencheck-medizin.iqwig.de/de/aktuelles/ht17-02-themencheck- medizin-erster-hta-bericht-zu-buergerfragen-liegt-vor.242.html
[14] Lin, S., Yang, P., Lai, C., Su, Y., Yeh, Y., Huang, M., Chen, C. (2011). Mental Health Implications of Music: Insight from Neuroscientific and Clinical Studies. Harv Rev Psychiatry, 19:34-46.
[15] www.mdw.ac.at
[16] www.kug.ac.at
[17] www.fh-krems.ac.at
[18] Bruscia, Kenneth E. (1987). Improvisational Models of Music Therapy. Springfielf,IL; Charles C. Thomas Publications.
[19] Wigram, Tony (2004). Improvisation – Methods and Techniques for Music Therapy Clinicians, Educators and Students. London: Jessica Kingsley Publishers.
[20] Tucek, G. (2018). Der Wandel von einer altorientalischen Musiktherapie über die Ethno-Musiktherapie hin zum „Kremser Studienkonzept“. In T. Stegemann & E. Fitzthum (Hrsg.), Wiener Ringvorlesung Musiktherapie. Grundlagen und Anwendungsfelder der Musiktherapie – ein Kurzlehrbuch (S. 145-162). Wien: Praesens Verlag.
[21] Maslow A. (1981). Motivation und Persönlichkeit. Rowohlt, Reinbek/Hamburg.
[22] Engel G.L. (1976). Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit. Bern: Huber.
[23] Rosenberg MB. (2004). Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann, Paderborn
[24] Rogers C (1972). Die klientenbezogene Gesprächstherapie. München: Kindler
[25] Peseschkian, N. (2008). Positive Psychotherapie. 8. Auflage. Fischer. Frankfurt.
[26] Gingrich A. (2007). Die globalisierte Töpferin. ‚Weicher’ Universalismus und der Begriff des Besonderen in der Anthropologie. Die Maske, Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie1: 5-8.
[27] Tucek G. (2007). Ausgewählte Aspekte des Kulturtransfers. Ethno-Musiktherapie im Wandel. Die Maske. Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 1:39–42.
[28] Elias N. (1987). Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
[29] Desroche, H. (1990). Entreprendre d’apprendre: de l’autobiographie raisonnée aux projets d’une recherche-action (Apprentissage 3) [Lernprozesse: von der reflektierten Autobiographie bis hin zu Aktionsforschungsprojekten (Learning 3)]. Paris: Editions ouvrières.
[30] Hildebrandt G, Moser M, Lehofer M (1998). Chronobiologie und Chronomedizin – kurzgefasstes Lehr- und Arbeitsbuch. Hippokrates Verlag, Stuttgart.
[31] Vgl. Csordas, Th. J., (2002). Body, Meaning, Healing. Palgrave Macmillan, New York. S.2