Abhängigkeitserkrankung selten alleinige Diagnose
Multiprofessionelle Zusammenarbeit auf allen Ebenen der Kommunikation, Kooperation und Koordination mit an einer Abhängigkeit erkrankten Menschen steht neben den unterschiedlichen Sichtweisen, Angeboten und Ansätzen in der Behandlung des breiten Spektrums von Süchten im Fokus des Buches. Die multiprofessionellen Verfasser*innen dieses Werkes unterstreichen diesen Ansatz, dazu ist im Vorwort zu lesen: „Es liegt in der Natur der Sache, dass die Sichtweise aus der eigenen Profession heraus die naheliegendste ist. Selbst in Systemen und Arbeitsfeldern, in denen multiprofessionelle Zusammenarbeit, aufgrund der mitarbeitenden Berufsgruppen, per se als gegeben erscheint, wird häufig aus unterschiedlichen Gründen kein Perspektivenwechsel vorgenommen. Sowohl die verschiedenen Sichtweisen als auch die diffizilen Gründe dafür werden in diesem Buch angesprochen“.
Bestechend ist die umfassende Darstellung und Wissensvermittlung der unterschiedlichen Facetten in Bezug auf die interdisziplinäre Behandlung und Pflege von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. Die thematischen Ausführungen im Einzelnen geben einen Überblick über die vielfältigen Aspekte von Suchterkrankungen. Es wird jedoch betont, dass das Buch nicht vollständig sein kann, sondern weiterentwickelt und immer wieder angepasst werden muss.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel werden theoretische Grundlagen vermittelt. Ursachen, Diagnostik, Behandlungsmöglichkeiten, Leitlinien sowie Klassifikationssysteme werden aufgezeigt. Ebenso wird die derzeitige Versorgungstruktur beleuchtet. Der zweite Teil befasst sich mit den stoffungebundenen und stoffgebundenen Süchten, die in ihrem Ausmaß, sowie Folgeerkrankungen und -schäden kompakt dargestellt werden. Im nächsten Kapitel schließen sich die unterschiedlichen Perspektiven der Berufsgruppen an, hier wird deutlich, dass eine gute Suchtbehandlung nur in einem multiprofessionellen Team und interdisziplinär gelingen kann. In Kapitel vier mit dem Titel „Spotlights“ werden die Themen „Migration und Sucht“, „Harm Reduction: Aktueller Stand und Ausblick“, „Co-Abhängigkeit und Angehörigenarbeit“, „Neue psychoaktive Substanzen (NPS)“, „Supervision als Psychohygiene in der Suchtkrankenhilfe“ sowie „Stigmatisierung im Kontext der Sucht“ angesprochen und ausgeführt. Der fünfte Abschnitt nimmt die digitale Information in der Suchthilfe, die Stationsäquivalente Behandlung sowie Perspektiven der Suchtmedizin in den Blick. Den Schluss bildet ein Adressen- sowie das Herausgeber-, AutorInnen- und Stichwort-Verzeichnis.
Die Kollegen und Kollegin aus der Pflege befassen sich in ihren Beiträgen mit den besonderen psychiatrisch-pflegerischen Aufgaben und betonen, dass sich die Tätigkeitsprofile im Kontext der Suchtbehandlung, je nach Setting und institutioneller Einheit, sei es stationär, komplementär oder ambulant, unterscheiden. Unterstrichen wird beispielsweise Pflege als Beziehungs- und Problemlösungsprozess, die den einzelnen Patienten und die einzelne Patientin im Alltag begleitet, denn nur so können pflegerische Ziele erreicht werden. Anhand des „Gezeitenmodells“ wird ein pflegerischer Ansatz und die notwendige Haltung zum an einer Sucht erkrankten Menschen aufgezeigt und theoretisch untermauert. Eine Personen-orientierte pflegerische Haltung zeigt sich darin vor allem darin, dass der Patient immer wieder ermutigt wird, eine aktive Rolle einzunehmen, beispielsweise bei der gemeinsamen Planung, Zielformulierung und Entscheidungsfindung. Angesprochen wird zudem die zentrale Bedeutung des Austauschs zwischen erkrankten Menschen. Die Orientierung an der individuellen Lebensqualität sowie das gegenseitige Aushandeln, wie und auf welcher Basis sich die Zusammenarbeit gestalten soll, ist ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt. „Die Aufgabe im multiprofessionellen Team ist es, den Patient*innen die Informationen dafür zu liefern, die Entscheidung über ihre Ziele selbstbestimmt treffen zu können, also Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. diese Aufgabe wird auch in Abhängigkeit zur Berufsgruppe in unterschiedlichen Settings wahrgenommen. IN Einzel- und Gruppentherapie, während der Visite oder im Bezugspflegegespräch […]“. Das Einbeziehen und die Beteiligung von Peers auf allen Ebenen der Versorgung und Behandlung, ist als ein weiteres qualitatives Merkmal zu betrachten und muss in künftige Konzepte eingehen
In vielen Zusammenhängen wird darauf hingewiesen, dass eine Abhängigkeitserkrankung selten alleinige Diagnose ist, sondern, dass gleichzeitig andere Erkrankungen bestehen. Das bedeutet, dass Doppeldiagnosen und Mehrfachabhängigkeiten eher die Regel als die Ausnahme sind und integrative und vielfältige Behandlungsmethoden sowie einen individuellen und passgenauen Umgang erfordern. Die vielfältigen Themen und der breite Ansatz der Behandlung können in einer beschränkten und zusammenfassenden Buchbesprechung nicht hinreichend besprochen werden, soll jedoch nachdrücklich Interesse an der Thematik und den Inhalten sowie Neugier wecken!
Dem umfassenden Werk ist zu wünschen, dass es eine große Verbreitung findet und nicht nur bei Mitarbeitenden im Suchtbereich, sondern darüber hinaus. Dann wird mehr Verständnis für Menschen mit Suchterkrankungen, ihre Behandlungsmöglichkeiten und ein haltungsgeprägter Umgang im Sinne der Herausgebenden und Autor*innen mehr um sich greifen.
Melanie Wolff, Winfried Looser & Gabriela Cvetanovska-Pllashniku: – Praxishandbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe, Bern 2021, Hogrefe-Verlag, 366 Seiten, 39.95 Seiten.