Haben Sie als Pflegende(r) einmal moralischen Stress im Alltag erlebt? Wenn Sie dies verneinen, so erscheint dies nicht glaubhaft. Schließlich macht den moralischen Stress unter anderem den Graben zwischen dem eigenen Anspruch in der pflegerischen Praxis und den institutionellen Notwendigkeiten aus, die Praktiker umzusetzen gezwungen sind. So ist das Buch „Moralischer Stress in der Pflege“ mehr als überfällig gewesen. Es hat sicher nicht den Anspruch, Finger in offene Wunden zu legen. Es will aber darauf aufmerksam machen, dass es Nöte von Pflegenden im beruflichen Alltag gibt, die häufig unterschätzt werden. Nicht umsonst warnt die Herausgeberin des kleinen Aufsatzbandes, Colombine Eisele: „In Verbindung mit dem Cool-Out-Phänomen und der Mitgefühlserschöpfung kann moralischer Stress zu einer erheblichen beruflichen Traumatisierung führen“ (S. 8).
Die Pflegewissenschaftlerin Berta Schrems beschreibt, was moralischer Stress bedeutet. Moralischer Distress entstehe dann, „Wenn man weiß, was das moralisch Richtige ist, aber die Umsetzung durch interne / externe Faktoren eingeschränkt ist und dies zur Kompromittierung der moralischen Integrität oder der Verletzung der persönlichen Kernwerte führt“ (S. 15). Sie stellt fest, dass sich als Schlüsselelemente das Prinzip der Fürsorge und das hierarchische Machtgefälle herauskristallisierten (S. 19). Diese Fakten im Sinn stellt sich natürlich die Frage, weshalb moralischer Stress alltäglich erscheint.
Natürlich setzt sich Schrems mit Wegen aus den Dilemmata auseinander. Prävention und Milderung von moralischem Stress setze beim Individuum, beim Team und bei der Organisation an. Alltagsorientiert klingt es, wenn Schrems empfiehlt, realistische Erwartungen an die eigene Arbeit zu haben. Auf der Ebene der Organisation gibt sie Hinweise in Richtung eines positiven ethischen Klimas und einer einheitlichen Kultur im Unternehmen.
Der Arbeitspsychologe Alexander Engelmann setzt sich in der Tagungsdokumentation mit der „Führung in der Pflege“. Die Pflege-Pädagogin Silke Doppelfeld denkt über den „moralischen Stress als Aspekt in der Ausbildung“ nach. Der Organisationsberater Stefan Dinges kennzeichnet „Ethikberatung als Prävention von moralischem Stress im Bereich von Pflege-und Gesundheitsberufen“.
Mit der Studie „Der Patient soll nicht zu Schaden kommen“ hinterlassen Michael Kleinknecht, Diana Staudacher und Rebecca Spirig einen bleibenden Eindruck. Sie unterstreichen die Wichtigkeit der Gestaltung einer „ethischen Arbeitsumgebung“. Dabei gehe es um die Art und Weise, wie eine Organisation ihren Mitarbeitenden begegnet, institutionelle Ziele setzt und Konflikte bewältigt (S. 60). Sie wagen eine weitere entscheidende Bemerkung, mit der vor allem Führungskräfte aufmerksam umgehen sollten. Es sei wichtig, „moralischen Stress als Seismographen für Veränderungen in der pflegerischen Arbeitsumgebung wahrzunehmen“ (S. 60).
Natürlich gibt das Buch „Moralischer Stress in der Pflege“ lediglich punktuell Antworten auf ungelöste Fragen. Entscheidend ist, dass ein Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit sichtbar geworden ist. Dieses Buch sollte ein Startschuss sein, dem moralischen Stress deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Colombine Eisele (Hrsg.): Moralischer Stress in der Pflege – Auseinandersetzung mit ethischen Dilemmasituationen, Facultas Verlag, Wien 2017, ISBN 978-3-7089-1558-6, 120 Seiten, 14.50 Euro.